52. Nichtsnutzige Erinnerungen 2

Fortgesetzte Erzählungen

"Der war es."

"Es war Icke."

"Also gut, Icke. Aber warum hätte er es tun sollen?"

"Weil du die Beine breit gemacht hast für den Colonel. Aus Eifersucht."

"Nein, nein", sagte sie lächelnd, mit einer schönen leidenden Miene. "Etzel war's. Der Colonel wußte zuviel, und er hatte Beweise."

Modder sagte: "Ich weiß, was dir fehlt. Du suchst einen Mörder für deinen Mann."

Ida trat an das schräge Fenster. Sie hatte drei senkrechte Falten über dem rechten Auge, außer den anderen Verwüstungen natürlich, die das Alter in uns anrichtet, und das Seitenlicht ließ die Furchen tiefer erscheinen.

"Es war ein Zufall", sagte Modder. "Dein Mann hat einen Stein an den Kopf gekriegt, und damit basta."

Sie sah ihn mißtrauisch an. Ihr Gesicht lag jetzt im Schatten, die Mittagssonne beschien ihren Hinterkopf und das graue Haar leuchtete wie eine Aureole.

"Es gibt keine Zufälle im Leben. Jede Bauersfrau, die ihren Mann mit Rattengift verwöhnt, sitzt hinter Gittern, jeder Furz wird aufgeklärt. Nur für die drei Judenmorde in diesem Kaff soll es keine Erklärung geben. Kannst du mir das mal erklären? Und bei allen dreien hatte deine bucklige Verwandtschaft ihre Hände im Spiel."

"Moment mal", sagte Modder und hob die Hände in Unschuld. "Erst mal bin ich seit 25 Jahren geschieden, ad zwei war der Colonel kein Jude, und zum dritten glaube ich nicht, daß einer meiner Söhne ..."

"Du machst dir was vor", unterbrach ihn Ida. "Du hast einen Sohn, der eine Bomberjacke trägt, in Springerstiefeln rumrennt, sich die Glatze poliert wie eine Billardkugel und in einer Holzhütte im Meisental haust. Und von da kam auch der Felsbrocken."

Modder sagte bitter: "Immo ist für mich gestorben. Hattest du Kinder?"

Ida schüttelte sich. "Igitt, Kinder. Außerdem wollte ich nie hierbleiben. Ich hätte gern in Jerusalem gewohnt, aber Klebe wollte nicht."

Modder nickte. Sie sah nicht ganz so aus wie in seiner Bierphantasie im Suff bei Ernesti, als er vor Jahren schon einmal nach Hofacker fahren wollte. Sehr groß, fast dünn und nicht wie 66. Das hellgraue Haar lag auf dem hohen Schädel wie ein Kaninchenfell, und ihre Augen waren honiggelb und weich.

"Wenn man jung ist", sagte sie mit heller Stimme, "kriegt man das meiste nicht mit, und im Alter geht der Rest auch noch flöten. Es ist schon komisch. Daß von einem Leben nicht mehr übrig bleibt als die Erinnerung an eine Sehnsucht und einen Toten."

Modder trat neben sie und schaute hinaus. "Laß gut sein, Mädel. Unser Leben besteht überwiegend nur noch aus Toten."

Die Skyline bestand überwiegend aus Reinhardswald. Wenigstens der hatte sich nicht verändert. Weiße Wolken zogen drüber hin. Er dachte an eine Kneipe in Westberlin, wo er in den sechziger Jahren manchmal gezecht hatte. Sie hieß Höcks Weinstube, und in der Musikbox lief ein Schlager. "Ich schau den weißen Wolken nach und fange an zu träumen." In der Zapfsäule sah man drei Einschußlöcher. Sie stammten aus dem Frühsommer 1949. Damals hatte der Wirt einen Russen aus dem Lokal geworfen. Draußen zog der empörte Gast seine Pistole und feuerte auf den Zapfhahn, aber es kam niemand zu Schaden.

"Woran denkst du?" fragte Ida.

"An ein Mädchen, das neben einem Misthaufen steht. Sie trägt eine weiße Bluse und einen schwarzen Rock. Die damals übliche Verkleidung für festliche Anlässe. Daneben, gegen die Stallwand gelehnt, steht die Baßgeige."

"An was du dich alles erinnerst."

"Es gab eine Zeit, da warst du überzeugt, ein paar Leute aus dem Dorf hätten den Colonel ermordet. Wegen der Judenhäuser."

"Nicht wegen der Häuser. Weil sie Nazis waren und weil ich sie gehaßt habe. Meine Mutter zum Beispiel. Wenn du wüßtest, wie ich sie gehaßt habe. Ich wollte, daß sie ein Monster war, wegen ihrer Hitlerverehrung. Ich habe mir vorgestellt, wie sie den Colonel umbringen. Sie schlachten ihn regelrecht, aus Wut, weil er zu den Siegern gehörte. Für sie war er ein Amerikaner. Sie weiden ihn aus bei lebendigem Leib und wühlen bis zu den Ellenbogen in seinen Därmen. Er stinkt nach Scheiße, nach Geld, nach Angst, er schreit wie am Spieß, aber sie schneiden ihm die Haut vom Leib."

"Ich wußte nicht, daß du eine Sadistin bist."

"Wahrscheinlich wäre ich ein tadelloser Lustmörder."

Max Klebes Archiv sah aus wie ein Trödelladen. "Das hier", sagte Ida und schwang einen Baseballschläger, "ist aus Amerika, aber auf der Reise hat er auch nicht viel rausgekriegt. Es kam eigentlich nie viel was rüber bei seinen Erkundungsfahrten. Zwei, drei Mal im Jahr reiste er durch die Gegend und wofür?"

Sie nahm eine Kladde aus einem Regal.

"In diesem Notizbuch hat er alle Orte eingetragen, wo er irgendwann durchgekommen ist. Meist war er nur zwei, drei Tage unterwegs. Gau-Bickelheim, Stromberg, Rheinböllen, Simmern. Da suchte er einen Kellner, der in Gral-Müritz war, als die kleine Claire Selbstmord beging. Etzels Schwester."

"Und Xanten?" fragte Modder. "Was wollte er in Xanten?"

"Das ist eine lange Geschichte", sagte Ida. "Da liegt der Colonel begraben, weil er da verlobt war. Das Seltsame ist aber, diese Verlobte, eine Gertrud Monk, wohnte damals gar nicht in Xanten, wie es in den Polizeiakten heißt, sondern unten auf dem Gutshof, im Comtessenhaus, als der Mord geschah."

Es war der Augenblick, in dem Modder an die einsame Karnevalistin dachte, die ihn fast fünfzig Jahre zuvor auf offener Straße geküßt hatte. "Nicht möglich", sagte er, "sie war hier, als der Colonel erschlagen wurde?"

Ida nickte und wies in eine dunkle Ecke der Dachkammer. "Da drüben stehn drei Leitzordner mit der Aufschrift Monk/Xanten. Sie war hier, weil sie das Ding mit dem Colonel gemeinsam gedreht hat. Es gibt ein Foto ihres Mannes, das Horwitz gemacht hat."

"Ich dachte, sie war verlobt."

"Ihr Mann ist im Krieg verschütt gegangen."

"Und den hat dann auch mein Schwiegervater auf dem Gewissen?" Modder schüttelte sich. "Ein unsympathischer Patron."

"Nicht schlimmer als meine Mutter."

Er betrachtete eine Ansichtskarte von Hofacker, die jemand mit einer Reißzwecke an den Dachbalken geheftet hatte. Sie zeigte einen Umzug von Gewerkschaftern und SA-Leuten durch die Holländische Straße. An allen Häusern flatterten Hakenkreuzfahnen.

"Und das? Was ist das?"

"Das, mein Lieber, ist der Tag, an dem in Hofacker der wandernde Malergeselle entführt wurde, dessen Leiche im Spätherbst '33 in einer Feldscheune hing. Die berüchtigte Wespenleiche."

"O, Gott, ja. Die Geschichte erzählte mir meine Schwiegermutter jedes Mal, wenn wir spazieren gingen."

Ida hielt jetzt ein dunkelbraunes Album in der Hand. "Das wird dich vielleicht mehr interessieren. Ich hab' auch Familienfotos von dir."

Modder sah einen Heuwagen, obendrauf ein Mädchen, keine achtzehn, in einem luftigen Kleidchen, daneben ein hübscher Bursche. Der typische Busengrabscher, schlank und rank, zum Verlieben. Auf dem nächsten Bild saßen sie im Schatten aufgesetzter Garben, und sie schob ihm mit spitzen Fingern eine Pflaume zwischen die Lippen. "Eine reife Pflaume", sagte Modder versonnen, "das Glück auf dem Lande. Wer ist das?"

"Mein Mann natürlich. Ich schätze, da warst du noch nicht auf der Welt."

"Und die Dame?"

Ida schob das Album zurück ins Regal und wischte sich den Staub von den Fingern. "Das war die Mutter."

Modder merkte, wie ihm schwindelig wurde und legte die Zigarre auf den Rand des Aschenbechers. Die Sonnenstrahlen schnitten flimmernde Bahnen in die Luft und die Staubteilchen schwirrten umher wie ein Vogelschwarm. Er legte sich auf das Sofa, schloß die Augen und spürte, wie sein Körper sich ausdehnte. Er wuchs über sich hinaus, vor allem oberhalb der Füße, bis er die ganze Landschaft umfaßte. Der Raum schien alle Geheimnisse seines Lebens zu enthalten und es hätte ihn nicht gewundert, wenn Ida eine Kladde aus dem Regal gezogen hätte, die nun auch seine Zukunft enthielt.

"Ist es denkbar", dachte er, "daß es einen Raum gibt, in dem alles aufgezeichnet ist, was jemals geschah?"

Ida beugte sich über ihn. "Ist dir nicht gut?"

"Nein, nein, schon gut. Ich vertrag' nur diese Havannas nicht mehr."

Den Abend verbrachten sie vorm Fernseher, aber wie üblich war der Film nicht halb so spannend wie der Trailer.

"Was die heutzutage für Trailer machen", dachte Modder.

Ida sagte, als sie ins Bett gingen: "Manchmal denke ich, meinen Mann hat mir der Colonel geschickt. Er liegt im Sarg, hört mein Flehen und bevor er verladen wird, schickt er mir Klebe."

"Wieso sollte er?"

"Damit ich nicht so einsam bin. Weißt du, daß sie mir beide dieselbe Geschichte aufgetischt haben, was sie während des Krieges in Palästina gemacht haben?"

"Sag bloß."

"Sie behaupteten beide, daß sie am Toten Meer als Bademeister gearbeitet hätten. Das kann doch nicht sein, daß alle deutschen Juden am Toten Meer Bademeister waren."

"Warum nicht?", sagte Modder und gähnte. "Ich kannte mal einen, der war Bademeister, obwohl er nicht schwimmen konnte."

Nächste Woche: "Wälsungenblut"