Die Melvins haben mit »Tarantula Heart« angeblich ihr bislang bestes Album veröffentlicht

Von der Tarantel gebissen

Die Metal-Band Melvins hat mit ihrem neuen Album »Tarantula Heart« angeblich das beste in ihrer über 40jährigen Geschichte vorgelegt. Neu erfunden haben sie sich auf jeden Fall nicht - zum Glück.

Es sind vollmundige Worte. Als das »bisher exzentrischste und herausragendste Album« wurde die neueste Platte der Melvins angekündigt, als »mit nichts zu vergleichen, was die Band jemals zuvor gemacht hat«. Täte man solche Behauptungen über andere seit 40 Jahren bestehende Bands als typische, mit Superlativen gespickte musikindustrielle Marktschreierei ab, klingen sie im Fall der Melvins jedoch nicht abwegig.

Schließlich war und ist die im Jahr 1983 in der Kleinstadt Montesano im US-Bundesstaat Washington gegründete Band stets für Überraschungen, Absonderlichkeiten und Superlative gut. Mehr als 35 Alben sowie zahlreiche EPs und 7-Inches haben die Melvins in den 40 Jahren ihres Bestehens produziert, allein vier Veröffentlichungen im Jubiläumsjahr 2023. Einer großen, nostalgischen Jubiläumstour zogen sie im vergangenen Jahr jedoch eine Konzertreise als Vorband vor – nach eigener Aussage, um früher am Abend fertig zu sein.

Das ausladende Gespinst aus mittlerweile ergrauten Korkenzieherlocken auf dem Kopf des Sängers und Gitarristen Buzz Osborne ist eine der bemerkenswertesten Frisuren der Musikwelt.

Andere Bands hätten Anfang der Neunziger wahrscheinlich alles getan, um eines ihrer Alben von Kurt Cobain produzieren zu lassen. Die Melvins aber feuerten den Sänger und Gitarristen von Nirvana, der zuvor bereits als Roadie für sie gearbeitet hatte, als Produzenten, weil er ihren Angaben zufolge »zu verpeilt« war, und nahmen ihr Album »Houdini« 1992/93 lieber ohne ihn auf.

Während ihrer rekordverdächtigen Tour »51/51« spielten sie 2012 innerhalb von 51 Tagen in allen 50 US-Bundesstaaten und im District of Columbia – und das, obwohl etwa gleich während des Flugs zum Auftaktkonzert in Alaska die Tragfläche der Maschine Feuer fing; es ist eine von etlichen Kuriositäten, die in dem Film »Melvins – Across the USA in 51 Days: The Movie!« zu sehen ist.

Ein weiterer Superlativ ist auf dem Kopf des Sängers und Gitarristen Buzz Osborne zu bewundern: Das ausladende Gespinst aus mittlerweile ergrauten Korkenzieherlocken ist eine der bemerkenswertesten Frisuren der Musikwelt.

Vorgehensweise kontraintuitiv und technizistisch

Es ist den Melvins also durchaus zuzutrauen, auch nach 40 Jahren etwas noch nicht Dagewesenes hervorzubringen. Das neue Album »Tarantula Heart« bietet es zumindest wegen der Art seiner Entstehung. Entgegen den verbreiteten aufnahmetechnischen Gepflogenheiten schrieben Osborne, Schlagzeuger Dale Crover und Bassist Steven McDonald nicht zuerst Songs, um sie dann in einem Studio einzuspielen. Stattdessen luden sie den Schlagzeuger Ray Mayorga als Gastmusiker ein und ließen ihn gemeinsam mit Crover trommeln, begleitet von McDonald. Osborne schnippelte sich aus diesen Aufnahmen Stücke zurecht, zu denen er dann Gitarre spielte und sang. Gary Chester, ein weiterer Gastmusiker, steuerte weitere Gitarrenklänge bei.

Mit nichts zu vergleichen: die Melvins

Mit nichts zu vergleichen: die Melvins

Bild:
Chris Casella (Promo)

Die Vorgehensweise, derer sich die Band Osborne zufolge zum ersten Mal bediente, mutet kontraintuitiv und technizistisch an. Doch sie führte zu einem Ergebnis, für das Bassist McDonald folgende Worte fand: »›Tarantula Heart‹ ist ein Album, das so magisch ist, dass ich bei der Entstehung mitgeholfen habe, ohne überhaupt zu wissen, dass es passiert. Es ist definitiv das seltsamste Album, an dem ich je beteiligt war.«

Dem Publikum sind solche Entstehungsgeschichten in der Regel jedoch gleichgültig, es bekommt schließlich nur das Resultat zu hören. Dieses besteht aus grade einmal fünf Stücken, von denen das erste mit 19 Minuten auch das längste ist: »Pain Equals Funny« beginnt mit getragenen, verzerrten Gitarrenakkorden, die sich an einer Dur-Tonleiter entlanghangeln, teils zweistimmiger Gesang verleiht diesen ersten fünf Minuten etwas Hymnisches – das dann jedoch zügig ausfranst und von einem krachigen Beat in einen monotonen und unterschwellig bedrohlichen Teil überführt wird, in dem die Gitarren hintergründige Dissonanzen einstreuen und Osborne die Worte singt, die dem Stück seinen Titel geben.

19 Minuten allein für den Opener

Je länger es dauert, desto mehr fällt das Lied in sich zusammen: Ein Gitarren-Feedback pfeift, nur noch die Drumsticks klackern rhythmisch, alles schwebt im Nirgendwo, ehe die Schlagzeuger eine seltsame Art von Swing anstimmen, der dann wieder verschwindet und Gitarrenkrach weicht, der in das Finale überleitet. In diesem spielen die Schlagzeuger einen stoischen Beat zu einem ebenso stoischen Motiv von Gitarre und Bass, Effekte und weitere Gitarrenschichten verfremden und verhackstücken die Passage und sorgen in diesen fünf Minuten für noch mehr Krach. Dann ist »Pain Equals Funny« vorbei.

Ist »Tarantula Heart« also »mit nichts zu vergleichen, was die Band jemals zuvor gemacht hat«? Im positiven Sinn: nein.

Die Melvins nehmen die derart eingestimmten Hörerinnen und Hörer in der Folge mit durch vier weitere Stücke mit Längen von dreieinhalb bis sechseinhalb Minuten: »Working the Ditch« ist ein monotoner, lediglich auf einem einzigen Gitarrenmotiv beruhender Brocken, angereichert mit schrägen Licks und Feedback. »She’s Got Weird Arms« springt hin und her zwischen zuckersüßem Gitarrenpop und verschrobenen Gitarrendissonanzen. Das treibende »Allergic to Food« ließe sich als Metal-Song bezeichnen, hielte er sich in irgendeiner Weise an eine gängige Metal-Songstruktur. Der Abschluss »Smiler« wäre ein recht melodischer Rocksong, bauten die Melvins nicht allerlei Breaks, Bridges und Taktsprünge ein, die den für das Format zu erwartenden Verlauf durch manche Schluckaufmomente unterbrechen.

Ist »Tarantula Heart« also »mit nichts zu vergleichen, was die Band jemals zuvor gemacht hat«? Im positiven Sinn: nein. Es handelt sich um ein Album, wie es nur die Melvins hervorbringen können, und es glänzt nicht nur durch seine eigenwillige Entstehung mit der für die Band typischen Widerspenstigkeit und Verweigerungshaltung: Statt mit einem kurzen, eingängigen opener empfängt es das Publikum mit einem langen Ritt durch allerlei Dynamikstufen, Tempi und Klang­farben, mit 19 Minuten auf einer Länge, die in der Ära der durch den Druck des Streaming-Formats immer kürzer werdenden Songs ­vollkommen aus der Zeit gefallen zu sein scheint.

Kathartische Momente werden verweigert

Wo andere Bands den musikalischen Spannungsaufbau nutzen würden, um die Erwartungen der Hörerinnen und Hörern mit Höhepunkten und Pathos zu erfüllen, ver­weigern die Melvins kathartische Momente und lassen die Spannung einfach brodeln, bis sie häufig wie aus dem Nichts von etwas Unerwartetem abgelöst wird. Und wie auf allen ihren Veröffentlichungen spielen sie mit verschiedenen Stilen, ohne sich deren Zwängen zu unterwerfen.

So dürfte es weiterhin keine andere Band geben, die als Begründerin vieler Genres und Subgenres gilt – Sludge Metal, Drone Metal, Alternative Metal, Grunge –, die sich aber dennoch jeder Zuordnung zu einem bestimmten Genre verweigert. Sich mit »Tarantula Heart« in dieser Hinsicht nicht neu erfunden zu haben, kann man den Melvins nicht vorwerfen. Man muss ihnen dafür danken.

Melvins: Tarantula Heart (Ipecac Recordings)