Der Müll, die Deutschen und das Ungefähre

Das Theaterstück von Rainer Werner Fassbinder war 1985 so antisemitisch wie es heute ist.

Auch Platitüden sind in der Marktwirtschaft nicht kostenlos zu haben. Ein beliebiger Blick in die Feuilletons beschämt aber diese Erkenntnis selbst als Platitüde. Dort werden der geneigten Leserschaft die abgeschmacktesten quasi als Treueprämie frei Haus geliefert. Hat man für Anrufbeantworter und Kaffemaschinen immerhin noch eine saftige "Zuzahlung" zu berappen, darf man über profunde Weisheiten, wie etwa, daß Geschichte sich nicht wiederhole, gleich mit dem Erwerb der Zeitung verfügen und bei Bedarf getrost als eigene Geistesleistungen in Anschlag bringen.

Geschichte wiederholt sich nicht, erst recht nicht im Deutschland der "Berliner Republik". Diese wohlfeile Platitüde dürfte wohl Micha Brumlik zu seinem vom Tagesspiegel distributierten Bonmot "Es gibt aber Gesten, die sich sinnvoll nicht wiederholen lassen" angeregt haben. Mit "Gesten" meint er die Proteste zorniger Jüdinnen und Juden, die 1985 die Aufführung von Rainer Werner Fassbinders "Der Müll, die Stadt und der Tod" am Frankfurter Theater am Turm verhinderten.

Für das kommende Jahr ist nun eine Neuinszenierung auf den knarrenden Brettern des Berliner Maxim-Gorki-Theaters angekündigt. Auch dessen Intendant Bernd Wilms war bis vor kurzem von der heilenden Kraft des ruhig plätschernden Flusses Geschichte überzeugt. "Ich war davon ausgegangen, daß man Fassbinders Stück heute mit anderen Augen lesen könnte", gestand er der taz. Nur machen "andere" - und das heißt in diesem Fall nichts weiter als um 13 Jahre gealterte - "Augen" einen Text nicht anders, wenn darin das traditionelle deutsche Verdikt über Juden als "Blutsauger" bekräftigt wird. Allen postmodernen Lesehilfen zum Trotz.

Der Text war 1985 so antisemitisch wie er es noch heute ist. Fassbinder versicherte zwar schon 1975, als die von ihm projektierte Inszenierung nicht zuletzt nach Protesten im eigenen Ensemble erstmals scheiterte, er selbst wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß sein Stück antisemitisch sein könnte. Doch der "Stereotypie des Denkens", die Horkheimer und Adorno dem postnazistischen Antisemitismus als unabweisbares Erbe attestierten, hatte sich das ewige deutsche Nachwuchsgenie, entgegen aller rebellischen Attitüde, nie entziehen können.

In fast allen Fassbinderschen Werken stehen einzelne mit ihrem - allein aus romantischem Glücksanspruch oder archaischer Triebenergie gespeisten - Harmoniestreben gegen eine aggressiv-ignorante Umwelt. Zwar wird die - um den Feuilleton-Jargon zu bemühen - "schicksalhafte Verstricktheit von Tätern und Opfern" herausgestellt, doch die "Opfer" bleiben moralische Sieger. In "Der Müll, die Stadt und der Tod" ist der "jüdische Spekulant" auch Opfer, aber seine Spekulationsopfer sind - dem damaligen linken Jargon folgend - "Opfer der Opfer" und daher doppelt arm dran. Fassbinder läßt ein "Opfer des Opfers" sagen: "Er saugt uns aus, der Jud, trinkt unser Blut und setzt uns ins Unrecht. Wäre er geblieben, wo er herkam, oder hätten sie ihn vergast, ich könnte heute besser schlafen."

Fassbinder war als deutscher Linker nicht mehr und nicht weniger antisemitisch als der Rest der Deutschen. Mit ihm teilte er die Abneigung gegen "unverdienten" Reichtum und die Liebe zur "ehrlichen Arbeit". Die im Kapitalismus einzig realpolitische Forderung, die ihr Attribut verdient - "Wir alle wollen jüdische Spekulanten sein" - war ihm nicht weniger fremd als der Grundwertekommission der SPD.

"Die Schonzeit ist vorbei", verkündete Jürgen Rühle, seinerzeit Intendant des Theaters am Turm, als 1985 die ersten - anfangs noch verbalen - Proteste gegen die "Müll"-Inszenierung artikuliert wurden. Er habe gemeint, Deutsche sollten nun offen über "jüdisches Unrecht" diskutieren dürfen, was ihnen angeblich qua alliiertem Diktat jahrzehntelang verwehrt war, präzisierte er auf Nachfrage. Und in der Tat schien die allgemeine Stimmung solch Anliegen zu befördern: Kurz zuvor hatte Bundeskanzler Kohl es trickreich geschafft, auf dem SS-Friedhof in Bittburg den US-Präsidenten Reagan zu einem gemeinsamen händchenhaltenden Verneigen vor den "Toten des Zweiten Weltkrieges" zu bewegen.

Dennoch war der Triumph des Intendanten ein wenig zu voreilig. Das Ende der "Schonzeit" ließ dank US-amerikanischen und anderen alliierten Drucks noch ein wenig auf sich warten, wovon auch der Erfolg des damaligen Protests jüdischer Deutscher Zeugnis ablegt. Auch heute wird Protest gegen die geplante Neuinszenierung angekündigt: Andreas Nachama, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlin, läßt verlauten, die von ihm repräsentierte Institution werde "alles" - was immer das sein mag - unternehmen, damit, "dieses Dokument goebbelsscher Qualität in Berlin die noch immer von den Schatten der Vergangenheit gezeichneten, aber sich stetig entwickelnden Beziehungen zwischen der Jüdischen Gemeinde und der Mehrheitsgesellschaft" nicht "aufs Unerträgliche belastet".

Na ja, irgendwie gut gebrüllt, Löwe. Aber, ob das die Jäger beeindrucken wird ... Jedenfalls mußte Moses Abraham Stern Mitte August in Berlin seine eigenen Erfahrungen machen. Der orthodoxe Jude aus Israel war in Europa unterweg, um für ein Siedlungsprojekt seiner Glaubensrichtung Unterstützung einzuwerben, auch in Berlin. Auf dem Kudamm ereilte ihn ein traditionelles Schicksal: "Er trug einen schwarzen Hut, einen langen schwarzen Mantel, Vollbart und Schläfenlocken. (...) Die Leute starrten ihn an, er wurde gestoßen, geschlagen, angespuckt und als 'Drecksjude' beschimpft. Eine um Hilfe gebetene Polizeistreife griff nicht ein." (Frankfurter Rundschau) So viel zu den "sich stetig entwickelnden Beziehungen", auch wenn Nachama einwenden mag, am falschen Ort zur falschen Zeit erscheinende Personen wie Moshe Stern fielen eher in den Zuständigkeitsbereich der ungeliebten, weil anbiederungsskeptischen, "orthodoxen" Gemeinde Adass Jisroel.

Was die "goebbelssche Qualität" des Fassbinderschen Stückes betrifft, wird Nachama wohl bald von seinen (links-) liberalen Ansprechpartnern eines philologisch Besseren belehrt werden: Nicht "goebbelssche", sondern - wenn schon - "vorgoebbelssche Qualität" bitte sehr. Falls man sich überhaupt in der Behaglichkeit einer "Berliner Republik" stören lassen möchte. "Mehr Gelassenheit bitte", fordert in der taz denn auch Mariam Lau, die bereits während der Goldhagen-Debatte von den Deutschen den Verzicht auf die "zur Flagellanten-Geste verkommene Selbstbezichtigungsrhethorik" erbeten hatte. Gerade im freiheitlich-demokratischen Schlummer gestört, haut sie ärgerlich ihre eigene Befindlichkeit in die Tasten: "Wie ein müdes Gespenst schiebt sich plötzlich aus dem Ungefähren eine Auseinandersetzung wieder ins Bild, deren Heftigkeit schon damals, 1985, einigermaßen rätselhaft war." Antisemitismus? Welcher Antisemitismus?

Zwar "leuchtet" Lau durchaus "ein", "daß Andreas Nachama, der noch nicht allzu lange den Vorsitz der Gemeinde bekleidet, sich explizit als jüdischer Lobbyist profilieren will", doch in Sachen Karriereplanung beansprucht Lau eine größere Kompetenz. Sie empfiehlt das Beispiel des American Jewish Congress, der mit seiner "hartnäckigen Liberalität" für das Demonstrationsrecht amerikanischer Nazis im "Mittelwesten" eintrete. "Soviel Gelassenheit sollte sich gegenüber einem mittelprächtigen Stück von Rainer Werner Fassbinder doch auch mobilisieren lassen." Auschwitz als Vorort von Kansas-City? Vielleicht nur eine überfällige Diskursverschiebung.

Berlins CDU-Kultursenator Peter Radunski hat inzwischen zu einer "Konferenz mit allen Beteiligten" geladen. Die Reichshauptstadt dürfe nicht zur "Reuehauptstadt" verkommen, hatte der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen schon im Frühjahr apodiktisch erklärt. Die prospektiven Konferenzteilnehmer scheinen sich daran zu halten. Der "Regisseur und Leiter der 'Baracke' des Deutschen Theaters Berlin" erklärte im Tagesspiegel: "Wenn es nur (!) um den Antisemitismus ginge, dürfte man auch keinen Shakespeare mehr aufführen. Ein Theater ist ja keine Partei oder Propaganda, sondern eine künstlerische Artikulation."

Dem etwas sensibleren Deutschland lieh im gleichen Blatt Gerhard Zwerenz, der für die PDS im Bundestag sitzt, seine Stimme; er ist Verfasser der von Antisemitismus freien Romanvorlage für Fassbinders Stück: "Ich bin für die Freiheit der Kultur. Wenn es sich aber um den Vorwurf des Antisemitismus handelt, muß das mit der Jüdischen Gemeinde abgestimmt werden. Und solange die nicht möchte, daß das Stück in Deutschland aufgeführt wird, kann man es nicht spielen."

Micha Brumlik hätte in seiner besten Zeit als Sozialpädagoge die Zwerenzsche Schwiemelei als typischen Fall von "Verantwortungsflucht" abgekanzelt. Heute jedoch gefällt sich der grüne Kommunalpolitiker als Repräsentant des psychoanalytischen Terminus Identifikation mit dem Aggressor: "Ich wünsche mir, daß Berlins Juden (...) so viel Selbstbewußtsein und Kraft aufbieten, die Aufführung zu tolerieren und mit ihr der deutschen Verzweiflung ins Gesicht zu sehen."

Es kann hier nur darüber spekuliert werden, was von Deutschen in jüngster Zeit Mißhandelte wie Moshe Stern wünschen. Der Autor wünscht sich jedenfalls eine Erinnerung an den kathartischen Effekt von Buttersäure. Und eine Assoziation darüber, welchen Einfluß diese Substanz in den engen Räumlichkeiten des Berliner Maxim-Gorki-Theaters auf das Auditorium entfalten könnte.