Laden im Schlußverkauf

Wie der Islamist Ussama Bin Laden vom Mittelsmann des CIA zum Staatsfeind Nr. eins avancierte

Die Anklageschrift kam spät, dafür war sie um so umfangreicher: Anschläge auf US-Soldaten in Saudi-Arabien und Somalia, Bombenattentate gegen die US-Botschaften in Kenia und Tansania, die Unterstützung von terroristischen Gruppen in zwanzig Staaten und der Versuch, chemische und atomare Waffen zu erwerben, werden Ussama Bin Laden und acht Mitangeklagten seit knapp drei Wochen von den US-Behörden vorgeworfen.

Einige wenige harte Fakten werden dabei mit mehr oder minder gut begründeten Vermutungen vermischt und mit einem gehörigen Schuß Propaganda angereichert. Bin Laden ist eine der wichtigsten Personen eines islamistischen Netzwerkes, das der Unterstützung der extremsten Organisationen im islamistischen Spektrum dient. Daß der Tod von Zivilisten ihm keine Gewissensbisse bereitet, hat Bin Laden mehrmals offen ausgesprochen. Die Zuspitzung auf seine Person folgt allerdings auch den Bedürfnissen der USA, die ein möglichst geeignetes Feindbild benötigen. Da US-Behörden und Islamisten ein gleichermaßen distanziertes Verhältnis zur Realität haben, ist schwer auszumachen, welche Bedeutung Bin Laden tat-sächlich hat. Sein Werdegang und die Entstehung eines islamistischen Netzwerkes, dessen Zentrum im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet liegt, lassen sich jedoch recht genau verfolgen.

Bin Laden, der aus einer der reichsten Familien Saudi-Arabiens stammt, begann seine Karriere als Parteigänger des dortigen Königshauses. Im Auftrag des Geheimdienstchefs Prinz Turki bin Feisal, mit dem er persönlich befreundet war, beteiligte er sich in den achtziger Jahren an der wohl größten Geheimdienstaktion der Geschichte, bei der die USA, Pakistan und Saudi-Arabien mit jährlich mindestens 500 Millionen Dollar islamistische Organisationen in Afghanistan im Kampf gegen die sowjetische Armee unterstützten.

Da die Interventionsmächte nicht offen in Erscheinung treten wollten, bedienten sie sich bei der Verteilung von Geld, Waffen und nichtafghanischen Kriegsfreiwilligen arabischer Islamisten als Mittelsmänner. Neben Bin Laden nahm unter anderem der radikale ägyptische Prediger Shaykh Omar Abd al-Rahman eine zentrale Rolle ein. Beide verbündeten sich und verfolgten weitergehende Interessen. Sie sparten einen Teil des Geldes und der Waffen für spätere Einsätze auf und nutzten ihren Einfluß, um die Kriegsfreiwilligen in ein Netzwerk einzubinden, das sich der Kontrolle ihrer Unterstützer entzog.

In den siebziger und achtziger Jahren förderten konservative islamische Staaten und die USA einen antikommunistischen Islamismus, der Almosen statt Umverteilung propagierte. Hauptvertreter dieser Strömung war Saudi-Arabien, eine absolutistische Monarchie, gegen deren fundamentalistischen Tugendterror das iranische System liberal erscheint. Saudische Petrodollars flossen an zahlreiche islamistische Gruppen, doch dauerhafte Loyalität konnte sich das Königshaus damit nicht erkaufen.

Als nach der irakischen Annexion Kuwaits im September 1990 westliche Truppen in der Golfregion aufmarschierten, kam es zum politischen Bruch. Viele islamistische Organisationen, unter ihnen die Sieger des afghanischen Bürgerkrieges und die Träger des islamistischen Netzwerkes, wandten sich gegen die saudische Monarchie, die es US-Truppen gestattet hatte, von saudischem Territorium aus zu operieren. Für die innen- und außenpolitische Legitimation der saudischen Monarchie ist die Position als "Hüter der heiligen Stätten" Mekka und Medina von zentraler Bedeutung. Ihre drohende Entweihung durch amerikanische Soldatenstiefel - tatsächlich hielten die US-Soldaten Hunderte Kilometer Abstand - wurde zum propagandistischen Symbol.

Shaykh Omar, ein Ideologe der ägyptischen Jihad-Organisation, die 1981 Präsident Anwar al-Sadat ermordete, hatte für solche Fälle eine Fatwaausgesprochen: Es sei legitim, einen islamischen Staatschef zu töten, wenn dieser sich weigere, die Sharia durchzusetzen oder sonstwie "unislamisch" handele. Die Jihad-Lehren, die den bewaffneten Kampf gegen die diversen Kategorien von Ungläubigen zur individuellen Pflicht eines jeden Muslims erklärten, wurden zur ideologischen Grundlage des islamistischen Netzwerks.

Da es sich eher um einen lockeren Zusammenschluß verschiedener Organisationen handelt, die ansonsten eigene Wege gehen, als um eine festgefügte "islamistische Internationale", sollte der Einfluß Bin Ladens nicht überbewertet werden. Es gibt jedoch eine Kohärenz in Ideologie und Praxis: Die ehemaligen Afghanistan-Kämpfer haben sich vornehmlich rein militärisch agierenden Organisationen wie den Bewaffneten Islamischen Gruppen (Gia) in Algerien angeschlossen. Eine besondere Verbindung besteht zu den militärischen Flügeln der Gama'at al-Islamjia (Islamische Gruppen) und der Jihad-Organisation in Ägypten.

Auch in Somalia gelang es dem islamistischen Netzwerk, eine Basis zu etablieren. Anhänger Bin Ladens prahlten jüngst damit, sie hätten 1993 während der Kämpfe zwischen den von den USA dominierten Uno-Truppen und den Milizen des Warlords Hussein Aidid einen US-Kampfhubschrauber abgeschossen. Die US-Behörden machen Bin Laden nun gleich für alle 18 in Somalia gefallenen US-Soldaten verantwortlich; die Rolle der islamistischen Gruppen im somalischen Bürgerkrieg war tatsächlich jedoch marginal.

Bei den Bin Laden vorgeworfenen Bombenanschlägen sind die Beweise noch dürftiger. Nach dem Anschlag auf eine US-Kaserne im saudi-arabischen Khobar im Juni 1996, dem 19 US-Soldaten zum Opfer fielen, wurde routinemäßig zunächst der Iran verantwortlich gemacht. Das saudische Regime, interessiert am Abbau der Spannungen mit dem Iran, wies dies zurück. Auch eine Verwicklung Bin Ladens, dessen Aburteilung in den USA willkommene Munition für die islamistische Opposition wäre, wird bestritten. Wenn es verwertbare Spuren gibt, werden sie von den saudischen Behörden unter Verschluß gehalten.

Auch für die Beteiligung Bin Ladens an den Bombenanschlägen auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania (mit 274 Toten und mehr als 5 000 Verletzten) gibt es nur indirekte Hinweise - außer international operierenden islamistischen Kreisen hat gegenwärtig niemand das Motiv und die nötige Organisation für einen solchen koordinierten Anschlag. Ein Beweis ist das jedoch noch nicht, und als FBI-Teams mit der Spurensuche kaum begonnen hatten, waren die Cruise Missiles bereits auf dem Weg nach Khartoum und Afghanistan.

Die Motive für den Angriff auf eine Fabrik nahe der sudanesischen Hauptstadt Khartoum, die nach US-Angaben der Produktion chemischer Waffen diente, sind unklar. Da das sudanesische Regime sofort eine UN-Untersuchungskommission anforderte und die USA dies durch ihr Veto blockierten, spricht einiges für die sudanesische Version, die Fabrik habe allein Arzneimittel hergestellt. Möglicherweise hat der Geheimdienst nur schlampig gearbeitet, möglicherweise sollte die Bombardierung eine scharfe antiwestliche Reaktion herausfordern und die guten französisch-sudanesischen Beziehungen stören. Gelitten hat statt dessen das Ansehen der USA in Afrika.

Bin Laden hat sich seit 1996 nach Art eines Warlords in Afghanistan etabliert, er hält sich eine Privatmiliz und genießt bei den Taliban großes Ansehen. Sein auf mehrere hundert Millionen Dollar geschätztes Vermögen erlaubt es ihm, Einfluß auf die afghanische Politik zu nehmen; auch soll er dem Taliban-Führer Mullah Mohammad Omar einen Palast spendiert haben. Ihn zur Ausreise zu zwingen oder gar auszuliefern, wäre ein offener Verstoß gegen die islamistischen Prinzipien.

Der Angriff auf Bin Ladens Lager sollte einen lästig gewordenen Ex-Verbündeten beseitigen und das Taliban-Regime zu einem Bruch mit seinen antiwestlichen Verbündeten zwingen. Doch Bin Laden entkam, und die Verhandlungen mit den Taliban sind noch in der Schwebe. Die Taliban haben die USA aufgefordert, bis Ende letzter Woche Beweise gegen Bin Laden vorzulegen; die US-Diplomatie hat darauf nicht reagiert. Beide Seiten sind an den rechtsstaatlichen Feinheiten nicht sonderlich interessiert. Hoffen die Gotteskrieger, durch ein offizielles Ersuchen um Auslieferung einer diplomatischen Anerkennung näherzukommen, erwarten die USA die kostenlose Lieferung Bin Ladens. Eine Vorleistung erbringen will man in Washington um so weniger, als nicht klar ist, ob die Taliban überhaupt zum Bruch mit Bin Laden bereit sind.