Alle für einen

Die chilenischen Sozialisten bemühen sich, Pinochet vor der spanischen Justiz zu retten, um die "Demokratie" des Ex-Diktators zu schützen

"Chile para todos" - ein "Chile für alle" fordert der Partido Socialista (PS). Damit ist auch der Ex-Diktator Augusto Pinochet Ugarte gemeint. Denn der PS möchte den General im Ruhestand und Senator auf Lebenszeit lieber in Chile statt in Spanien vor Gericht sehen.

Deswegen reiste der sozialistische Außenminister José Miguel Insulza vergangene Woche nach London und Madrid, um den alten, kranken und "stark depressiven" Mann endlich "nach Hause" zu holen. Die Liste seiner Argumente war dabei ebenso lang wie widersprüchlich. In Chile, betonte Insulza, sei es durchaus möglich, Pinochet vor Gericht zu stellen. Immerhin lägen derzeit 15 Anzeigen gegen den Ex-Diktator vor, und in elf Fällen ermittle der Richter Juan Guzm‡n Tapia bereits. Seine Immunität als Senator auf Lebenszeit, mit der die chilenische Regierung die Unrechtmäßigkeit der Festnahme Pinochets in London begründet, könne im Zweifelsfall aufgehoben werden.

In Spanien dagegen, wo der "Superrichter" Baltasar Garz-n die Ermittlungen gegen den einstigen chilenischen Staatschef führt, hält Insulza ein "gerechtes" Verfahren gegen Pinochet nicht für möglich: "Dort ist er schon jetzt verurteilt." Außerdem sei der 83jährige viel zu alt: ein Prozeß in Großbritannien würde schließlich sechs bis zwölf Monate dauern - und in Spanien mindestens noch zwei Jahre länger.

Während der Außenminister durch Europa tourte und für den Justizstandort Chile warb, meldeten sich elf Abgeordnete seiner Partei, gefolgt von neun Christdemokraten, schriftlich beim britischen Innenminister Jack Straw. Dieser muß bis Freitag entscheiden, ob dem Auslieferungsbegehren der spanischen Justiz nun entsprochen wird. Die PS-Parlamentarier - unter ihnen Isabel Allende, die Tochter des 1973 von Pinochet weggeputschten Präsidenten Salvador Allende - forderten Straw in einem Brief auf, eine Rückkehrs Pinochets nach Chile nicht zuzulassen: "Die Bedingungen für die Verurteilung von Augusto Pinochet oder von Menschenrechtsverletzungen allgemein", schreiben sie, "existieren in Chile noch nicht." Erst müßten die Kompetenzen der Militärgerichte eingeschränkt, das Amnestiegesetz - das die Ermordung, Folter oder Verschleppung von Oppositionellen zwischen dem Putsch vom 11. September 1973 und dem 11. März 1978 straffrei läßt - geändert, die Zurückhaltung von Informationen über Menschenrechtsverletzungen unter Strafe gestellt und eine öffentliche Kontrolle über die Tätigkeit des chilenischen Militärs ermöglicht werden.

Der PS und Insulza zeigten sich geradezu empört über diese "kontraproduktive" Eigeninitiative. Es sei "sehr schwierig", jammerte der reisefreudige Sozialist, "in Spanien, Großbritannien und anderen befreundeten Ländern voranzukommen, wenn die Nachrichten aus Chile so widersprüchlich sind". Auch andere PS-Funktionäre distanzierten sich von dem Brief - beispielsweise Ricardo Lagos, der Präsidentschaftskandidat der Concertaci-n-Regierungskoalition aus der Partei für Demokratie (PPD), den Sozialisten und den Christdemokraten für die Wahlen im kommenden Jahr. Demonstrativ setzte sich Lagos für die Rückkehr des Ex-Diktators ein: Das Verfahren der spanischen Justiz gegen Pinochet sei ein "neokolonialer Akt", weil die "nationale Souveränität Chiles" mißachtet werde.

Der Anspruch auf die Vertretung der chilenischen Unabhängigkeit gegenüber der ehemaligen Kolonialmacht Spanien wird in einer Art Wettlauf genauso in den Reihen der Christdemokraten wie der PPD artikuliert, die wegen des Briefes der sozialistischen Abgeordneten erst einmal das wöchentliche Zusammentreffen der drei Concertaci-n-Parteien boykottierten. Die extreme Rechte Chiles, die im Parlament durch die pinochet-treue Renovaci-n Nacional (RN) und die vom Geheimdienst Dina maßgeblich mitaufgebaute Uni-n Democr‡tica Independiente (UDI) vertreten ist, ging sogar noch einen Schritt weiter: Wegen "Mißachtung der nationalen Souveränität und der nationalen Ehre" müßten die PS-Parlamentarier, die das angeblich so landesverrätische Papier unterzeichneten, ihrer Mandate enthoben werden.

Dabei waren die PS-Politiker, die teilweise ihre Unterschrift wieder zurückgezogen haben, moderat geblieben. Eigentlich formulierten sie dasselbe Hauptanliegen wie die Regierungskoalition und die Pinochet-Anhänger: daß die transici-n und die "chilenische Demokratie" nicht gefährdet werden dürften. Prinzipiell steht auch für die Briefeschreiber fest, "daß ein Prozeß in Chile den Fortgang der transici-n begünstigt" - wenn die von ihnen vorgeschlagenen Reformen realisiert seien.

UDI und RN liegt die Demokratie genauso am Herzen: "Der Gang der chilenischen Demokratie", wie Abgeordnete beider Parteien ihrerseits in einem Brief an die britische Regierung anmerken, sei "in den letzten 30 Jahren sehr schwierig" gewesen. Chile habe "gegen die kommunistische Gefahr kämpfen müssen", die "zunächst das friedliche Zusammenleben und dann die Demokratie" zerstören wollte. Mittlerweile sei aber die "Basis für ein neues Miteinander" geschaffen worden, und die dürfe nun nicht aufs Spiel gesetzt werden.

Das "neue Miteinander" der einstigen Schlächter mit den Koalitionsparteien ist auf parlamentarischer Ebene Konsens und basiert auf der Macht der Militärs. Pinochet hatte schließlich im Oktober 1989, zu Beginn der von ihm eingeleiteten transici-n, die Regeln klar benannt: "Wenn man einen meiner Männer anfaßt, ist Schluß mit dem Rechtsstaat."

Das Selbstverständnis der Koalition war daher, wie die chilenische Zeitschrift Punto Final feststellt, schon immer ein pragmatisches: Die Rechte unter keinen Umständen zu verärgern, sondern ihre Interessen im Sinne einer "gesellschaftlichen Ausgewogenheit" im Zweifelfall zu denen der "Demokratie" zu machen. Somit war es, resümiert Punto Final, "die Concertaci-n selbst, die die diktatorischen Institutionen und den Einfluß der Rechten legtimierte". Die transici-n habe noch nicht einmal begonnen.

Ein gesamtgesellschaftliches Schweigen macht auch der bis 1973 für Allende als Übersetzer tätige Mark Cooper aus: Die Concertaci-n habe "im Namen von Wirtschaftswachstum und Globalisierung das Land narkotisiert und ihm eine kollektive Amnesie über die Grausamkeiten der Vergangenheit auferlegt". Erst durch die Verhaftung des Ex-Diktators sei das "historische Gedächtnis wiederhergestellt".

Während Insulza, Lagos und der PS sich als Fürsprecher Pinochets und seiner jahrzehntelangen Demokratie betätigen, begegnen sich in Madrid, London und Santiago de Chile fast täglich die Anhänger des Ex-Präsidenten und jene, die sich über die Verhaftung des verhaßten Militärherrschers freuen - wobei es nicht selten zu Schlägereien und Straßenschlachten kommt. Ende November griff sogar die Armee ein, um "Ruhe und Ordnung" wiederherzustellen. Keine Ruhe finden die Pinochet-Gegner: In den letzten Wochen wurden mehr als 200 Morddrohungen gezählt.

In London hat sich Pinochet, gegen den seit Ende letzter Woche auch in Deutschland ermittelt wird, mit seiner Privatgarde auf ein Landgut zurückgezogen, weil er unter anderem die ewigen Proteste vor der Klinik nicht mehr ertrug. An seiner Seite weilt der UDI-Vorsitzende Pablo Longueira, der bis Freitag eine Reihe von Pro-Pinochet-Demonstrationen in London angemeldet hat und dazu viele speziell angereiste Anhänger erwartet.

Vielleicht nehmen sie ihr Vorbild sogar gleich mit nach Hause: Die Tageszeitung El Mercurio stellte bereits erfreut fest, das angemietete Landgut liege sehr nahe an jenem Flughafen, auf dem chilenische Maschinen bereits seit Wochen darauf warten, den Ex-Diktator auszufliegen.