Massaker oder Manöver?

Das Blutbad von Racak soll einen Nato-Einsatz rechtfertigen,obwohl noch nicht feststeht, was sich wirklich ereignet hat

Die Wette gilt: Ob die OSZE oder die Nato den Kosovo-Konflikt lösen werden, entscheidet sich in diesen Wochen. Ob das Massaker in Racak tatsächlich eines war, ebenfalls.

Selbst erfahrene Journalisten rangen am vorvergangenen Wochenende im kleinen Ort Racak im Kosovo um passende Worte: "Der Großvater des Bauernhofes liegt tot vor seiner Scheune", kabelte die Reporterin Melissa Eddy atemlos an die Zentrale der Nachrichtenagentur Associated Press. Sie und andere Berichterstatter waren nach Racak gekommen, um über das Blutbad zu berichten. Zwei Tage vorher, so erzählten Dorfbewohner, hätten Einheiten der serbischen Polizei in Racak gewütet und etwa 40 Zivilisten erschossen.

Doch nicht nur Reporter aus aller Welt stammelten ihr Entsetzen, auch Politiker suchten nach Ausdrücken der Superlative, um die neueste Eskalation in der serbischen Kriegsprovinz zu beschreiben. US-Präsident William Clinton sprach von einer "absichtlichen und blindwütigen Mordtat". Der stellvertretende Leiter der OSZE-Mission im Kosovo, Bernd Borchardt, schwadronierte über eine "klassische Exekution". Sein Chef William Walker machte auch gleich serbische Polizeieinheiten für das Massaker verantwortlich. Damit wußte er mehr als die Verfasser eines bislang unveröffentlichten OSZE-Berichtes, der Jungle World in Auszügen vorliegt.

In dem Bericht wird lediglich die Existenz von "Indizien" für ein Massaker beschrieben. Selbst hochrangige OSZE-Diplomaten in Wien sind nicht ausschließlich beglückt über William Walkers kühnen Vorstoß und relativieren nun dessen Aussagen: "Zu dem Zeitpunkt dachten wir bloß, daß es Serben waren. Im Bericht gibt es aber keinen klaren Satz über ein Massaker an der Zivilbevölkerung", so eine Diplomatin gegenüber Jungle World.

Auch eine Rekonstruktion der Ereignisse in Racak an jenem 15. Januar läßt Zweifel an einer eindeutigen Schuldzuweisung aufkommen. OSZE-Beobachter wurden von den Serben schon vorab über den Einsatz in Racak informiert und beobachteten von einem Hügel unweit des Dorfes die Kämpfe. Als die Serben abrückten, besuchte dieses OSZE-Team noch am Nachmittag Racak. Empfangen wurden die Beobachter von aufgebrachten Dorfbewohnern, die ihnen aber zu diesem Zeitpunkt nur einen Toten und fünf Verletzte präsentierten. "An diesem Tag gab es keinerlei Anzeichen für ein Massaker", so ein OSZE-Diplomat in Wien.

Erst als die OSZE-Teams am folgenden Tag abermals Racak besuchten, fanden sie die 40 Leichen. Sie alle waren zivil gekleidet und bis auf drei Frauen und ein zwölfjähriges Kind ausschließlich Männer unterschiedlichen Alters. "Nur" bei zwölf der etwa 40 Opfer steht nach ersten Untersuchungen fest, daß sie direkt an Ort und Stelle erschossen wurden. Nach Berichten der britischen Tageszeitung The Guardian lassen Blutspuren und Reste von Gehirnmasse darauf schließen, daß die Toten erst nachträglich nach Racak gebracht wurden.

Noch hatte die OSZE keine Möglichkeit, die Leichen zu untersuchen - sie befinden sich in Pristina und werden derzeit von der serbischen Seite obduziert.

Nach den derzeit vorhandenen Informationen steht also das Konstrukt vom Massaker an Zivilisten auf wackeligen Beinen. Immerhin waren es Kämpfer der UCK, die am Tag nach den Kampfhandlungen den OSZE-Teams die Leichenberge gezeigt haben. Zweifel sind außerdem angebracht, weil die UCK in der Vergangenheit gefallenen Kameraden Zivilkleider verpaßte, um serbische Massaker an Zivilisten vorzutäuschen. Nur so konnte der mit der OSZE-Mission allzu zufriedene Westen genötigt werden, dem jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic mit dem Eingreifen von Nato-Truppen zu drohen.

Sollten die Ereignisse von Racak tatsächlich ein Bluff der UCK gewesen sein, so war es einer der besten. Selten zuvor war der Westen so sehr zum Eingreifen entschlossen wie jetzt. Bundeskanzler Gerhard Schröder sah sich am Freitag gar bemüßigt, Bodentruppen der deutschen Bundeswehr anzubieten, Frankreich und Großbritannien sind dazu ebenso bereit.

Mit dem Säbelrasseln verliert die OSZE auch gleich wieder jene Bedeutung, die sie erst vor wenigen Monaten mit dem Beschluß zur Kosovo-Mission erhalten hatte. Dementsprechend verärgert zeigt man sich über die Eifrigkeit Schröders: "Wenn Schröder außenpolitisch mit einem Einsatz der Bundeswehr in Kosovo punkten möchte, bewegt er sich damit ganz klar außerhalb des international erzielten Konsenses", verlautet aus dem inneren Zirkel der OSZE-Kosovo-Watchgroup in Wien.

Wenn wirklich Bodentruppen entsandt würden, wäre der UCK endlich der erhoffte Durchbruch gelungen - eine Intervention geballter westlicher Militärmacht zugunsten der Freischärler.

Das Problem der OSZE ist es nun, Erfolge vorzeigen zu müssen. Bisher ist es nach selbstkritischer Analyse der Beobachter noch nicht gelungen, den in der UN-Resolution 1199 geforderten Waffenstillstand auch nur im entferntesten durchzusetzen. Vielmehr erhält das OSZE-Hauptquartier in Pristina täglich die Pläne für neue serbische Einsätze und wird zu diesen auch noch eingeladen.

Die Nato hat diese Schwäche der OSZE längst erkannt und stellt sich gerne hilfreich zur Seite. Der Oberkommandierende der Nato, General Wesley Clark, stellte der OSZE schon vor den Ereignissen in Racak ein verstecktes Ultimatum: "In den nächsten sechs bis acht Wochen muß es zu einer politischen Lösung kommen", ließ er verlauten. Nato-Generalsekretär Javier Solana meinte, die Allianz werde eine Rückkehr zu Kämpfen und Unterdrückung keinesfalls hinnehmen.

Zum Eingreifen des westlichen Militärbündnisses drängt inzwischen auch Albanien. Das albanische Außenministerium verurteilte das Racak-Blutbad als "typische faschistische Tat der chauvinistischen großserbischen Kräfte". Oppositionsführer Sali Berisha rief die Bevölkerung zu einem "Krieg um Leben und Tod gegen die Serben" auf. Gut möglich, daß Berishas Traum bald in Erfüllung geht: Das Verteidigungsministerium in Tirana hat inzwischen Vorbereitungen für eine Mobilmachung getroffen.

Die OSZE hat nun im Kosovo die allerletzte Chance, sich als Architekt einer etwas anderen europäischen Sicherheitspolitik zu beweisen und das Primat der Nato zu brechen. Denn es kann nur einen geben, wie man auch im OSZE-Hauptquartier in Pristina weiß: "Wenn die Nato kommt, sind wir weg."