Karlsruhe genehmigt Abhörpraxis

BND saugt weiter

So ist das mit den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts: Sie kappen die eine oder andere Spitze, legitimieren aber das Prinzip. In seiner jüngsten Entscheidung erklärte das Gericht die Befugnis des Bundesnachrichtendienstes (BND) zu Überwachung aller Fernmelde-Auslandskontakte für verfassungskonform. Nur die bislang mögliche Weitergabe aller herausgefilterten Daten an die Strafverfolgungsbehörden sei teilweise verfassungswidrig. Künftig reichen bloße "Anhaltspunkte" für bestimmte Straftaten nicht mehr aus, um Daten zu übermitteln, es bedarf vielmehr eines Straftatverdachts. Deshalb muß das Gesetz nachgebessert werden. Auch die Kontrolle muß gestärkt, die nachträgliche Unterrichtung der Betroffenen zur Regel gemacht werden.

Für den Bundesgesetzgeber ist das Urteil eine Ohrfeige. In seinem Verfolgungseifer hatte er mit dem sogenannten Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 offenkundig gegen die Verfassung verstoßen. Die rot-grüne Bundesregierung hielt es nicht für nötig, solche Altlasten aus der Ära Kohl & Kanther zu entsorgen. Kein einziges Repressionsinstrument wird abgeschafft oder wenigstens eingeschränkt - weder die umstrittenen Anti-Terror-Gesetze noch der Große Lauschangriff oder die sogenannte Schleierfahndung. Rasch hat sich herausgestellt, daß es unter Rot-Grün keinen Einstieg in die geheimdienstfreie Gesellschaft, keinen Ausstieg aus dem autoritären Sicherheitsstaat geben wird.

Das Urteil ist ein Sieg für den BND: Der Auslandsgeheimdienst darf weiterhin ohne Verdacht den gesamten drahtlosen Fernmeldeverkehr vom und ins Ausland systematisch überprüfen. Dabei durchkämmt er Briefe und Faxe nach verdächtig klingenden Suchbegriffe, die dem internationalen Terrorismus, dem Waffenhandel oder der Drogenkriminalität zugeordnet werden. Ordert jemand per Telefax in Ungarn zehn Kisten "Roten", so wird sein Auftrag mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgefangen, auch wenn nur Rotwein gemeint war - schließlich wäre ja auch Roter Libanese denkbar. Auch Fräulein Smillas Gespür für Schnee könnte wegen Verdachts auf Kokainhandel ähnliche Komplikationen auslösen. Oder ein Journalist recherchiert per Telefon über Rote Brigaden oder Mafia - schon recherchiert der Geheimdienst über ihn und seine Gewährsleute. Der Informantenschutz bleibt auf der Strecke.

Nicht nur für Journalisten, für alle Bürger, die Kontakte ins Ausland pflegen, ist das Urteil eine Niederlage. Jährlich fängt der BND etwa 5,5 Millionen drahtlose Fernmeldeverbindungen mit dem sogenannten elektronischen Staubsauger auf. Davon wird über eine Viertelmillion nach bestimmten Suchbegriffen durchstöbert. Fast 10 000 Auslandsgespräche oder Faxe bleiben pro Jahr als "nachrichtendienstlich relevant" hängen und werden vom BND mit geheimdienstlichen Methoden weiter untersucht

Das Urteil ist eine Niederlage für Datenschutz und Bürgerrechte. Denn es sichert eine Konzeption ab, in der die Bürgerinnen und Bürger zu potentiellen Sicherheitsrisiken mutieren und jederzeit staatlicher Kontrolle unterzogen werden können. Das verdachtslose Abhören des internationalen Fernmeldeverkehrs ergänzt die Möglichkeit der Polizei, jederzeit verdachtsunabhängige Kontrollen durchzuführen. Die Kontrolldichte hat in den vergangenen Jahren dramatisch zugenommen. Der bürgerliche Rechtsstaat hat sich auf den Weg von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft gemacht - zu einer Gesellschaft, die präventiv kontrolliert und Überwachungsdaten auf Vorrat sammelt und verarbeitet.

Auch wenn das Verfassungsgericht dem BND aufgibt, nur noch eingeschränkt Daten aus der Überwachung des Fernmeldeverkehrs an die Polizei weiterzugeben, so bleibt der BND dennoch systemwidrig in die Strafverfolgung eingespannt, für die eigentlich Polizei und Staatsanwalt zuständig sind. Damit kommt es zu einem weiteren Verstoß gegen das verfassungsgemäße Gebot der Trennung von Geheimdiensten und Polizei. Dieses Gebot, mit dem eine sicherheitsstaatliche Machtkonzentration verhindert werden sollte, ist immerhin eine Konsequenz aus der bitteren Erfahrung mit der Gestapo im Nationalsozialismus, die allumfassend - vollziehend und nachrichtendienstlich - tätig war.

Rolf Gössner ist Rechtsanwalt in Bremen. Zuletzt erschien von ihm: Erste Rechts-Hilfe. Rechts- und Verhaltenstips im Umgang mit Polizei, Justiz, Geheimdiensten. Verlag die Werkstatt, Göttingen 1999, 380 S., DM 39,80