Rowdy-Sport für alle

Der Internationale Rugby-Verband kündigt eine globale Offensive an: Unter britischer Hegemonie.

Das Ergebnis einer näheren Betrachtung des Rugbyspiels zu Beginn dieses Jahrzehnts lautet immer: Britain is great. In die Krise kam der Rugbysport jedoch, erfunden übrigens im gleichnamigen englischen Städtchen, zu Beginn der neunziger Jahre. Bis dahin wurde der Sport richtig erfolgreich nur in England, Wales, Schottland, Neuseeland, Australien und Frankreich betrieben.

Professionell waren nur zwei Ligen: die in Neuseeland und eine kleine zwischen den Orten Hull und Liverpool - etwa in Yorkshire, Lancashire und Cumberland - angesiedelte englische Rugby League. Der große, international beispielsweise bei Weltmeisterschaften, Commonwealth Games oder gar dem traditionellen Fünf-Länder-Turnier, einer Art inoffizieller WM, herzuzeigende Sport wurde aber von der englischen Rugby Union organisiert, und die beharrte auf dem Amateurstatus.

Denn immerhin definiert man sich selbst nach dem englischen Sprichwort, Fußball sei der Sport der Gentlemen, gespielt von Rowdys, Rugby hingegen sei der Sport der Rowdys, gespielt von Gentlemen. Und so gelang es der Rugby Union im Verlaufe des letzten Jahrhunderts, die Sportart zu Großbritanniens beliebtester zu machen: enorme Fernseheinschaltquoten, volle Stadien und eine Präsenz im Schulsport, die den Nachwuchs sicherte. Rugby hat jedoch die gleichen Wurzeln wie der Konkurrent Fußball: Football.

Im Jahr 1823 soll, so erzählt es eine Legende, die auch auf einer Gedenktafel in der mittelenglischen Stadt Rugby verewigt ist, ein junger Mann namens William Webb Ellis bei einem Football-Spiel den Ball in die Hand genommen haben, seine Mitspieler bildeten eine Gasse, und er erzielte ein Tor. In den folgenden Jahren entstanden der Rugby-Football auf der einen Seite und der Association-Football, der Fußball des Verbandes, auf der anderen. In Großbritannien wurden beide Sportarten populär, Rugby als eher bürgerliche, Fußball eher als proletarische Veranstaltung. Die Neue Zürcher Zeitung beschrieb das großbürgerlich-aristokratische Milieu einmal so: »Im Rugby existiert ein Zusammengehörigkeitsgefühl, herrscht fast die Ansicht vor, eine große Familie zu bilden - weswegen auch von einer sportlichen Freimaurerloge gesprochen wird.«

In Kontinental-Europa konnte Rugby mit Ausnahme von Frankreich kaum Freunde gewinnen, während Fußball schnell zur Sportart Nummer eins in den meisten Ländern wurde. In den meisten Commonwealth-Staaten dagegen konnte sich Rugby einigermaßen gut entwickeln, während Fußball keinen Anschluss fand, und in den USA verselbstständigte sich der Rugbyfootball zum dortigen »Football«, der hierzulande »American Football« heißt.

Die große Krise des Rugby in Großbritannien zu Beginn der neunziger Jahre hatte zunächst die üblichen Symptome: die Zuschauerzahlen gingen zurück, andere Sportarten wie Fußball oder Basketball wurden populärer, die Leistungsfähigkeit der nationalen Auswahl ging gegenüber dem aus der professionell organisierten und konsequent durchkapitalisierten neuseeländischen Liga rekrutierten Team deutlich zurück. Die neuseeländische Nationalmannschaft, die »All Blacks«, galten zwar schon seit ihrer ersten Europa-Tour 1905 als beinah unschlagbar, aber erst deren ökonomischer Zwang zur Expansion machte die sportliche Überlegenheit gegenüber den Engländern auch sichtbar.

Obendrein stießen plötzlich neue Länder wie die damalige Sowjetunion, China, Israel, Rumänien oder Japan in den Kreis derer vor, die sich mit Engagement um eine WM-Teilnahme bemühten. In China etwa spielen gegenwärtig schon eine Million Menschen Rugby.

Einen großen Popularitätsschub erlebte Rugby zu dieser Zeit in Südafrika, das in der Endphase der staatlichen Apartheid steckte und sich erfolgreich um die Ausrichtung der dritten Rugby-Weltmeisterschaft im Jahr 1995 bewarb.

1987 hatte es die erste WM gegeben, ausgerichtet von Australien und Neuseeland, die endlich die nationalen Verwertungsgrenzen für ihre Profiligen durchbrechen wollten. Eingeladen waren nur die fünf führenden europäischen Rugby-Nationen England, Frankreich, Irland, Schottland und Wales.

Es fehlte, wie auch vier Jahre später, Südafrika, dessen »Springboks« - so der Name des Nationalteams - zwar zu den besten Rugby-Mannschaften der Welt zählt, aber unter den Sportboykott fiel. Die erste WM wurde ein großer Erfolg: TV-Anstalten aus 17 Ländern übertrugen alle Spiele, und der Rugby-Boom begann. 1991 wurde die WM von den Teilnehmern des so genannten Fünf-Nationen-Turniers ausgerichtet: eben jenen fünf europäischen Rugby-Nationen. Diesmal bestand das Teilnehmerfeld aus 16 Nationen. Zusätzlich zu acht gesetzten Teams spielten 32 weitere um die Qualifikation für die aht noch freien Plätze im Feld. Im Verlauf des Turniers kam es auch gleich zu einer Commonwealth-erschütternden Sensation: West-Samoa schlug Wales, in den Siebzigern noch die europäische Nummer eins. Um die Qualifikation zu der WM 1995 in Südafrika spielten schon 43 Teams, die Fernsehrechte wurden in 124 Länder verkauft, und nicht nur die südafrikanische Tourismusindustrie konnte große Einnahmen verbuchen. Auch die politische Symbolik, die das immer noch fast ausschließlich von Weißen formierte »Springbok»-Team bot, als es von Staatspräsident Nelson Mandela unterstützt wurde, zahlte sich für Südafrika aus.

Mit Jonah Lomu aus Neuseeland produzierte diese WM auch einen Superstar, wie ihn die künftige globale Vermarktung dringend benötigte. Der gebürtige Polynesier erhielt gar eine Millionen-Offerte von einem American Football-Club der NFL, den Dallas Cowboys.

Im letzten Jahr fand die WM dann in Wales statt. 65 Länder waren in der Qualifikation, die Teilnehmerzahl wurde auf 20 erhöht, und die gewachsene Bedeutung der Rugby-WM ist auch daran abzulesen, dass der bisherige Hauptsponsor, eine neuseeländische Brauerei namens Steinlager, von Weltfirmen wie Guinness und Coca Cola verdrängt wurde. Coca Cola sprach auch prompt davon, die Rugby-WM sei nun hinter den Olympischen Spielen und den Fußball-WMs das drittgrößte Sportereignis der Welt, was, egal wie man's rechnet, empirischer Quatsch ist.

In England und Wales, beides Teams, die in den Siebzigern noch als unschlagbar galten, aber bei den verschiedenen WMs ihre Schlappen einstecken mussten, hatte man zwischenzeitlich an der Modernisierung des Sportes gearbeitet. Während in der walisischen Hauptstadt Cardiff das »Millennium« gebaut wurde, eine vor allem für Rugby benutzbare hochmoderne Sportarena, kümmerte sich die englische Rugby Union gleich um die Strukturen: Seit 1995 gibt es in England eine Profiliga, der es innerhalb weniger Jahre gelungen ist, im Vergleich zu Neuseeland etwa die doppelten Gehälter zu zahlen. Während die neuseeländische Nationalmannschaft jährlich mit 45 Millionen Dollar von Adidas gesponsert wird, sicherten sich die Engländer einen dem Vernehmen nach gleichfalls lukrativen Ausstattervertrag mit Nike. Und der Kapitän des 1995er Teams, Will Carling, wurde durch eine Liaison mit Prinzessin Diana bekannt - auch eine sinnvolle Maßnahme zur Superstar-Produktion.

Die Modernisierungsanstrengungen waren dringend erforderlich, denn allerspätestens mit der WM 1999 wurde klar, dass die Globalisierung das Rugby eingeholt hatte: Zunächst siegte bei der WM völlig überraschend Frankreich im Halbfinale über die favorisierten Neuseeländer, dann machten Teams aus Uruguay, Argentinien und den Fidschi-Inseln auf sich aufmerksam. Und im Februar dieses Jahres wurde das bereits 1883 ins Leben gerufene Fünf-Nationen-Turnier in eines mit sechs Teams umgewandelt: Italien stieß dazu.

Schon in den letzten Jahren hatte es lange Debatten darüber gegeben, dass auch aus sportlichen Gründen eine Globalisierung des Rugby-Sports erfolgen müsse: Das Fünf-Nationen-Turnier mit England, Frankreich, Irland, Schottland und Wales, das den Anspruch hatte, eine Art inoffizielle Weltmeisterschaft zu sein, die ja auch die richtigen WMs beinah hundert Jahre lang überflüssig machte, sei schuld daran, so kam man überein, dass bestimmte technische und taktische Neuerungen nicht erprobt, geschweige denn etabliert worden seien. Gerade Italien, das zwar nur über einen Verband mit 35 000 aktiven Spielern verfügt, habe mit einer besonders innovativen Spielanlage den bisherigen Fünfer-Club alt aussehen lassen.

Diese Erfahrung hatten die europäischen Teams ja schon in der Auseinandersetzung mit Australien, Neuseeland und Südafrika machen müssen. Der Zwang zur Globalisierung, den die sportlich bedrohten Teams aus England und Wales als erste wahrnahmen, hat mittlerweile auch den Weltverband International Rugby Board (IRB) erreicht und handeln lassen. Eine Marktanalyse ergab, dass drei Zielmärkte erobert werden sollten: die USA, China und der deutschsprachige Raum: Deutschland, Österreich und die Schweiz.

Die fünfte Rugby-WM soll 2003 in Australien und Neuseeland stattfinden, an ihr sollen, so sind gegenwärtig die Planungen, 24 statt bislang 20 Teams teilnehmen, und spätestens dann soll Rugby mehr als nur Weltsport sein. Es wäre ein Ausdruck des Projekts, an dem Tony Blair in der Politik arbeitet: Großbritannien wäre wieder zu einer hegemonialen Macht geworden.