Liebe in Zeiten der Schröder-Ära

Sex im Grünen

Worüber reden Um-die-Dreißigjährige, wenn sie übers Ficken reden? Und gibt es etwas Langweiligeres? Kann man über Sex nicht viel besser auf Englisch reden? Muss man sich mit Shakespeares Metapher vom »Tier mit den zwei Rücken« behelfen? Wie fühlt sich das Tier mit den zwei Rücken, wenn es ins grelle Scheinwerferlicht des Theaters gezogen wird? Ist es nicht besser im Bett, im Darkroom oder in der Talkshow aufgehoben? Wird nicht eh schon viel zu viel über Sex geredet?

Das sind die Fragen, die sich im Vorfeld des Stückes »Pussy Talk« stellen, das am Samstag vor einer Woche in Leipzig Premiere hatte. Die örtliche Bild formulierte kürzer und präziser: »Schmuddelsex im Schauspielhaus?« und senkte damit die Erwartungen bis unter die Gürtellinie ab. Dabei war ohnehin klar, dass ein waschechter Porno wohl nicht gegeben werden würde. Aber damit immerhin war zu rechnen: intellektueller Porno mit Mitteln des Theaters, Theater-Porno, Porno als Teichoskopie. Ficken zweiter Ordnung, denkt man, während man den lauschigen und Lounge-artig ausstaffierten Theaterraum betritt. Alles grün: grüne Sessel, Sofas, Lampen und grüner Bühnenhintergrund, Kunstrasen auf dem Fußboden. Schön, willkommen in Teletubby-Land! Techno pluckert aus den Boxen. Das Tier mit den zwei Rücken ist erwartungsgemäß unpässlich und wird an diesem Abend vertreten von vier um-die-dreißigjährigen Schauspielern, die grob das Spektrum des Nachtlebens abdecken: der Achtziger-Jahre-Wave-Popper, der sportive Niedliche, das kesse Püppchen und die unscheinbare Retro-Braut.

Wer was sagt, spielt eigentlich keine Rolle, und sind wir nicht alle ein bisschen bisexuell? Alle schnattern durcheinander, erzählen Geschichten von Kontaktanzeigen, One-Night-Stands und dem peinlichen Morgen danach. Gar nicht ums Ficken geht es, sondern um das Drumherum, das Beinah und das Fehlschlagen von körperlicher Kommunikation. Die Gretchenfrage der Um-die-Dreißigjährigen lautet: »Mit wievielen Partnern warst du schon im Bett?« Das ganze Leben ist ein Bravo-Fragebogen und das romantische Fluidum Liebe nur ein halluzinogenes Aerosol, das uns high macht und anschließend runterbringt. Bloß keine Abstraktion! Die Metapher verschmilzt mit ihrem Gegenstand zur unmittelbaren Unmittelbarkeit: »Ich stelle mir die Liebe vor wie eine Frau in der Sonne.«

Keep it real, denkt der Rezensent, und wie lange das neue Jugendtheater der sexy Belanglosigkeit wohl noch andauern wird? Das von Mark Ravenhill, Falk Richter und der seligen BT-Baracke losgetretene Theater, über das sich Bild so vorzüglich mokieren kann. Am Ende steht dann doch wieder nur das Reden, der Sermon und das rekursive Parlando über Sex. So etwas muss Michel Foucault vorgeschwebt haben, als er die These formulierte, dass das permanente öffentliche Reden über Sex in etwa das genaue Gegenteil von sexueller Befreiung bedeute.

»Ich hab verdammte Lust zu vögeln«, sagt er. »Hatte ich vor einer Stunde auch«, sagt sie. Whisper sweet nothings in my ear, denkt der Rezensent, und dass er unbedingt mal wieder »Vox« von Nicholson Baker lesen müsse. Das, zugegeben, ist wirklich pornografisch, aber - letzte Frage: Wie läßt sich das eigentlich vermeiden, wenn man ernsthaft übers Ficken reden will?

»Pussy Talk - Eine Abendunterhaltung«. R.: Matthias von Harz. Neue Szene im Schauspiel Leipzig.