Entschlüsselung des menschlichen Genoms

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Die Nachricht von der Entschlüsselung des menschlichen Genoms hat die Allgestaltungs-Phantasien der BioTech-Industrie entfesselt.

Kein halbes Jahr ist es her, da wurde in der Öffentlichkeit bekannt, dass bei gen-therapeutischen Menschenversuchen in den USA Patienten gestorben sind. Die Wissenschaftler zeigten sich reumütig, die scientific community räumte ein, dass das Wissen über die Funktionsweise menschlicher Gene doch weitaus unvollkommener sei als gedacht; Richtlinien sollten überarbeitet werden, das Thema geriet schließlich in Vergessenheit. Und auch, als jetzt die US-amerikanische Firma Celera an die Öffentlichkeit ging, um zu verkünden, dass 99 Prozent des menschlichen Genoms entschlüsselt seien, interessierte sich niemand für den tödlichen Vorfall aus dem letzten Jahr, der alles andere als eine unvorhersehbare Panne war.

Im vergangenen Jahr sorgten auch Forschungsergebnisse des schottischen Wissenschaftlers Arpad Pusztai für Furore, der deutliche Hinweise darauf hatte, dass gen-technisch veränderte Lebensmittel beim Menschen gesundheitsschädigende Auswirkungen haben könnten. Pusztais Forschungen wurden gestoppt. Zwar erarbeitete die EU auf Grund anhaltender Proteste von NGOs eine neue Richtlinie, die die Freisetzung gen-technisch manipulierter Pflanzen erschweren soll, ein Moratorium gibt es jedoch nicht. Und fast parallel zu der Meldung von Celera über die bevorstehende Entschlüsselung des menschlichen Genoms trat der Monsanto-Konzern mit der Mitteilung an die Öffentlichkeit, das Reis-Genom sei vollständig sequenziert. Damit, so Monsanto stolz, sei die Entwicklung von genetisch veränderten Reissorten ein erhebliches Stück weiter gekommen. Reis ist für etwa 40 Prozent der Weltbevölkerung das wichtigste Grundnahrungsmittel.

Als im Dezember 1999 die Welthandelsorganisation WTO in Seattle tagte, war einer der wichtigsten Diskussionspunkte auf der Tagesordnung das in das WTO-Vertragswerk einbezogene Trips-Abkommen (Trade Related Intellectual Properties), das weltweit für einen effizienten Schutz von Patenten und Markenrechten sorgen soll. Neben den Umweltschutz-NGOs haben sich auch viele afrikanische und asiatische Länder gegen die Umsetzung und Ausweitung des Trips-Abkommens ausgesprochen und gefordert, dass hier Nachverhandlungen stattfinden: Der effiziente Schutz von Patent- und Markenrechten schließt Entwicklungsländer, die nur wenige Prozent der Patente halten, vom technischen Fortschritt weitgehend aus und bringt sie ökonomisch in eine dauerhaft verschärfte Abhängigkeit.

Die Entwicklung auf dem Biotechnologie-Sektor könnte diesen Trend dramatisch zuspitzen: Wenn, was derzeit auf globaler Ebene noch umstritten ist, Pflanzen und Gen-Sequenzen patentiert werden können, und es möglich ist, diesen Patentschutz auch weltweit effizient durchzusetzen, steigert das die Handlungs- und Verhandlungsmacht der Patent-Inhaber, also vor allem der transnationalen Konzerne auf dem Pharma- und Agrarsektor erheblich. Schon heute hat Celera in Zusammenhang mit seiner Gen-Forschung 6 500 Patent-Anträge gestellt - und andere Firmen in diesem Bereich sind nicht weniger fleißig in der Verwertung ihrer Forschungsarbeit.

Die drohende Entwicklung im Patent-Bereich ist aber nicht das eigentliche Problem, sondern nur Ausdruck eines viel größeren Problems. Die Entwicklungen im Agrarsektor und der aggressive Konkurrenzkampf um die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, die private Firmen dem überwiegend aus Mitteln der öffentlichen Hand geförderten Hugo-Sequenzierungsprojekt liefern, finden in einem nahezu vollständig deregulierten gesellschaftlichen Raum statt. Während die Industrielle Revolution im 19. Jahrhundert die Arbeiterklasse hervorbrachte und durch Klassenkampf erheblich beeinflusst und strukturiert wurde, entwickelt die biotechnologische Revolution, die sich derzeit Bahn bricht, keinen neuen gesellschaftlich produktiven Antagonismus. Zwar gibt es eine Opposition, die von kulturkonservativen Gruppen, Umweltschützern und Behindertenbewegung geprägt ist. Diese Opposition ist aber zum einen weitgehend marginalisiert. Zum anderen ist sie nicht an der Entwicklung biotechnologischer Verfahrensweisen und Produkte beteiligt. Von außen könnte sie aber nur über Mechanismen steuernd eingreifen, die selbst derzeit unstrukturiert und in ihrer Wirkungsweise in Frage gestellt sind: Öffentlichkeit und Politik.

Die Interventionsmöglichkeiten sind aber auch dadurch begrenzt, dass die Biotechnologie, zumindest was ihre Anwendung am Menschen betrifft, hohe Akzeptanz genießt. Diese Akzeptanz liegt in dem von den Gen-Technologen und ihren Vermarktern behaupteten Potenzial begründet, das Leben der Menschen grundlegend verbessern zu können. Die Gen-Technik stützt sich auf die Überzeugung, dass Krankheit und individuelle Fähigkeiten wesentlich genetisch begründet sind. Und sie verspricht daher, das biologische Schicksal künftig durch ihre Erkenntnisse und die daraus gewonnenen Interventionsmöglichkeiten weitgehend frei gestalten zu können.

Das ihrem Erfolg zu Grunde liegende Paradoxon ist, dass das Vertrauen auf einen biologischen Determinismus damit die Voraussetzung für eine Verbesserung des eigenen, durch die biologische Konstitution des Individuums begründeten sozialen Status wird. Emanzipation ist in diesem Zusammenhang, wenn dieser Begriff überhaupt noch eine Rolle spielt, nicht mehr als eine politische Entwicklung zu verstehen, die sich in Auseinandersetzung mit den sozialen Verhältnissen vollzieht, sondern als Ergebnis eines Eingriffs in das Genom. Die sozialen Verhältnisse müssen mit Blick auf die Biotechnologien sogar notwendig unangetastet bleiben, weil die weitgehende Deregulierung eine ungehinderte Entfaltung und Verwertbarkeit entsprechenden Wissens am besten zu sichern scheint. Die Verkoppelung von Deregulierung und Durchsetzung der Gen-Technik ergibt sich auch aus einer weiteren Besonderheit dieses neuen Industriezweigs: Er hat, weil Grundlagen- und Anwendungsforschung hier nahezu unauflösbar miteinander verbunden sind, seine Basis in den Universitäten und begründet seine Freiheit aus der Wissenschaftsfreiheit, die gerade ein Abwehrrecht gegen staatliche Zugriffe und Regulierungsversuche darstellt. Diese grundlegende Konstellation prägt, trotz mancher Unterschiede im Detail, auch den Einzug der Gen-Technik in der Landwirtschaft, der damit begründet wird, dass nur mit neuen leistungsfähigen Pflanzen die Ernährung der Weltbevölkerung auf mittlere Sicht möglich sein wird.

Die sozialen Verhältnisse erscheinen damit im Bewusstsein der Menschen als ein in erster Linie durch Veränderungen an der biologischen Substanz optimierbares Produkt. Mindestens die Menschen in den reichen Industriegesellschaften können aber noch in einer weiteren Hinsicht als Teilhaber dieser Entwicklung profitieren: Da die meisten Firmen, die versuchen, biotechnologische Informationen zu erlangen und zu verwerten, Aktiengesellschaften sind, wird die Börse zu dem Platz, an dem die Teilhabe an der Zukunftsgesellschaft zuerst Wirklichkeit wird. Mit Blick auf den Boom des Internet und der Genetik notiert die FAZ süffisant: »'1984' und 'Frankenstein', diese beiden Metaphern der Zivilisationsangst noch des ausgehenden 20. Jahrhunderts, sind plötzlich die utopischen Anlegerphantasien des neuen Jahrhunderts.«

Anlegerphantasien suchen Gewinn, der Preis, den die Gesellschaften dafür zu zahlen haben, wird hoch sein: Zwar spricht derzeit wenig dafür, dass die Allgestaltungs-Phantasien so umsetzbar sein werden, wie es derzeit in den Pressemitteilungen der Risiko-Kapitalfirmen wie Celera oder Human Genom Sciences für die Börsenzeitschriften versprochen wird, gesellschaftliche Wirkungen entfalten aber schon die Verheißungen. Die Bereitschaft, nicht nur die Natur allgemein, sondern auch den Menschen zum Material zu machen, mit dem und an dem experimentiert werden kann, wenn es nur einem guten Zweck dient, wird längst in die Tat umgesetzt. Die tödlich gescheiterten Gen-Therapie-Versuche sind ein Beispiel. Die gegenwärtige bundesdeutsche und europaweite Diskussion um »therapeutisches Klonen« und die Freigabe der Prä-Implantationsdiagnostik, die die Selektion »guter« Föten ermöglichen soll, führen in dieselbe Richtung.

Bereits in der »Dialektik der Aufklärung« haben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer gewalttätigen Rassismus als Folge solcher Naturbeherrschungs-Versuche identifiziert: »Grenzenlos Natur zu beherrschen, den Kosmos in ein unendliches Jagdgebiet zu verwandeln, war der Wunschtraum der Jahrtausende. Wo Beherrschung der Natur das wahre Ziel ist, bleibt biologische Unterlegenheit das Stigma schlechthin, die von Natur geprägte Schwäche zur Gewalttat herausforderndes Merkmal.« Es ist kein Zufall, dass die Bio-Ethiker, die am nachdrücklichsten für die Durchsetzung gen-technologischer Verfahren optieren, auch der Euthanasie eine breite Gasse schlagen wollen.