Friedensprozess im Nahen Osten

Quer zu allen Fronten

In einem Manifest greifen palästinensische Intellektuelle das Konzept eines binationalen Staates wieder auf - ein alter Vorschlag linker Zionisten.

Ein rhetorischer Schwenk, dann business as usual: Die israelisch-palästinensischen Verhandlungen unter US-Vermittlung in Eilat verlaufen nach bekannten Mustern. Am Montag vergangener Woche erklärte der israelische Chef-Unterhändler Oded Eran, am Ende der Verhandlungen werde ein »palästinensischer Staat« stehen - an Stelle der bislang gebräuchlichen Sprachregelung »palästinensische Gebietskörperschaft«.

Am vergangenen Freitag wurden die Verhandlungen erst einmal vertagt. Dass, wie geplant, bis Mitte Mai ein Rahmenabkommen erreicht wird, gilt als unwahrscheinlich. Und sollte am 13. September dieses Jahres Yassir Arafat tatsächlich den Palästinenser-Staat ausrufen, dann werden wohl zentrale Fragen und Streitpunkte weiter ungeklärt sein. Denn auch die kommenden Verhandlungen werden offensichtlich darauf hinauslaufen, dass der Palästinenser-Staat maximal 70 bis 80 Prozent des Territoriums der Westbank umfassen und zudem fragmentiert und durchsetzt sein wird von unzähligen Siedlungen - Inseln israelischer Souveränität.

Auch in der »Jerusalem-Frage« weigern sich die Israelis hartnäckig, grundlegende Zugeständnisse zu machen, wie sie es auch ablehnen, ein Recht auf Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Herkunftsorte anzuerkennen. Viele Palästinenser und Araber aus den Nachbarländern empfinden deshalb die seit 1993 andauernden Verhandlungen als eine Kette von Demütigungen und Niederlagen, sodass inzwischen auch frühere Unterstützer Arafats dessen Kurs als Ausverkauf der palästinensischen Sache kritisieren.

Zakari Muhammed beispielsweise, ein in der Westbank lebender Dichter und Herausgeber der bekannten Zeitschrift Al Karmel, bezweifelt mittlerweile, dass diese Art der Verhandlungen überhaupt ein positives Resultat ergeben werde: »Die sich abzeichnende Lösung wird stattdessen auf eine Form der Apartheid hinauslaufen«, befürchtete er in der Ha'aretz. Gemeinsam mit 119 anderen Intellektuellen, Politikern und Künstlern richtete er deshalb kürzlich einen »Offenen Brief an die israelische Öffentlichkeit«, der in verschiedenen israelischen und arabischen Tageszeitungen abgedruckt wurde.

Mit diesem Brief wollen die Unterzeichner - unter ihnen so prominente Personen wie Hannan Ashrawi, die 1991 Verhandlungsführerin der palästinensischen Delegation in Madrid war - der »israelischen Öffentlichkeit verdeutlichen, dass das, was sich da entwickelt für die Palästinenser, keinesfalls Frieden sein wird«.

Umfragen der Universität von Tel Aviv zufolge vertraut nämlich die Mehrheit der israelischen Bevölkerung weiterhin darauf, dass die Verhandlungen zu einem tragfähigen Ausgleich mit den Palästinensern führen werden. Der an sie adressierte Brief kam deshalb überraschend: In Israel sieht man in Arafat weiterhin den legitimen Vertreter der Palästinenser. Dass sich nun einflussreiche Teile der palästinensischen Eliten öffentlich - und ausgerechnet in einer Erklärung an die israelische Öffentlichkeit - von der Politik der Autonomiebehörde (PNA) distanzieren, müsse, so mahnen Aktivisten der israelischen Friedensbewegung und Linken, als Zeichen einer drohenden Krise äußerst ernst genommen werden. Immerhin stehe die Zukunft des Nahen Ostens auf dem Spiel.

Und diese wird unter den gegebenen Umständen keine friedliche sein, warnen die Verfasser des Manifestes. Ein Frieden, der von einer - politisch und militärisch überlegenen - Seite der anderen aufgezwungen wird, sei zum Scheitern verurteilt. Die Perspektive, in einem zersplitterten Gebilde namens Palästina zu leben, das weder ökonomisch noch politisch reale Überlebenschancen habe, garantiere nur neue, heftigere Konflikte.

Stattdessen glauben die Unterzeichner - und mit ihnen große Teile der palästinensischen Bevölkerung - nur an zwei Lösungen, die nachhaltigen Frieden versprechen: Entweder die Palästinenser können einen souveränen Nationalstaat errichten, der alle Gebiete umfasst, die 1967 von Israel besetzt wurden, und erhalten Ost-Jerusalem als ihre zukünftige Hauptstadt. Dies schließe ein Rückkehrrecht für alle palästinensischen Flüchtlinge ein. Die andere ernst zu nehmende Option hingegen sei die Schaffung »eines binationalen demokratischen Staates für beide Völker in den historischen Grenzen Palästinas«.

An eine binationale Lösung, also einem Staat, in dem Juden und Palästinenser gleichberechtigt zusammenleben, eine Idee, die in den zwanziger und dreißiger Jahren erfolglos von einer Gruppe linker Zionisten vertreten wurde, glaubt heute in Israel nur eine verschwindende Minderheit. Die offizielle Linie heißt vielmehr weitestgehende staatliche Trennung von den Palästinensern und Israelis und läuft auf eine umfassende Separation hinaus.

In den dreißiger Jahren scheiterte das binationale Konzept hingegen auch, weil sie auf arabischer Seite kaum auf Resonanz stieß. Dass heute Zakari Muhammed und Jamil Hilal erklären, sie würden es vorziehen, statt in einem eigenen Staat »Palästina« gemeinsam mit den Israelis innerhalb der ehemaligen Grenzen des britischen Mandats zu leben, also Konzepte vertreten, wie sie vor Jahrzehnten etwa von Martin Buber und der Brit Schalom entwickelt wurden, verweist auf die ungebrochene Aktualität dieser Vision: »Niemand«, so Muhammed, »kann mich davon abhalten, Jaffa als Teil Palästinas anzusehen, so wie für die Juden Nablus oder Hebron als Teil Israels gelten. Sie nennen es Israel, wir nennen es Palästina, und es ist und bleibt ein Land.«

Dieser erstaunliche Rückgriff auf das Konzept eines binationalen Staates markiert einen Wandel innerhalb des palästinensischen Lagers. Längst betrachtet man in der Westbank und dem Gaza-Streifen das Gezerre um Prozente und Zeiträume - welches Land wann wo abzutreten sei -, das in der Regel im Zentrum israelisch-palästinensischer Verhandlungen steht, nicht mehr als Zeichen einer voranschreitenden Einigung, sondern als Paralyse des Friedensprozesses. Trotz ihrer kämpferischen Rhetorik werden Arafat und die PNA nur noch als Exekutoren israelischer Interessen betrachtet.

Von diesem wachsenden Unmut unter den Palästinensern - und dessen sind sich auch die Verfasser des Manifests durchaus bewusst - profitieren auf der anderen Seite radikale und militante Friedensgegner wie die islamistische Hamas, die Israel weiterhin am liebsten von der Landkarte tilgen würde und die PNA als zionistische Kollaborateurin diffamiert. Dieser auch für sie gefährliche Stimmungswandel aber scheint den wenigsten Israelis bewusst zu sein, die sich gerade für den jahrelang als Terrorist Nr. eins verschrienen Arafat zu erwärmen beginnen.

Angesichts des Manifestes mahnt Danny Rubinowitz deshalb in der israelischen Tageszeitung Ha'aretz seine Landsleute eindringlich vor falschen Hoffnungen: »Arafat, seine Gehilfen und einige tausend Familien, die seiner Regierung nahe stehen und von der Entwicklung profitieren, werden in den Gebieten bloß noch als Marionetten ohne eigenen Willen wahrgenommen. Man spricht ihnen inzwischen jede Fähigkeit ab, in Verhandlungen noch irgendwelche palästinensischen Interessen durchzusetzen. Die Korruption und der Despotismus, die sich nicht nur in wirtschaftlicher Stagnation, sondern auch in der katastrophalen Menschenrechtslage ausdrücken, haben die Hoffnungen der Palästinenser in den Gebieten und in der Diaspora auf eine bessere Zukunft zerstört.« Vor dem Hintergrund, dass die PNA als extrem korrupt gilt und nach statistischen Angaben 37 Prozent aller Kinder im Gaza-Streifen und 16 Prozent in der Westbank in Armut leben, sollten diese Warnungen nicht unterschätzt werden.

Die israelische Regierung, meint etwa Hilal Jamil, Soziologe an der Bir Zeit Universität und Unterzeichner des Manifestes, »kann zwar der PNA einen Frieden diktieren, der die Situation hier noch weiter verschlimmern wird. Aber einen solchen Frieden werden wir nicht akzeptieren.« Ein tragfähiger Frieden aber sei etwas anderes als einige Landstreifen, die den Besitzer wechseln: Seit die überwältigende Mehrheit der Palästinenser in den Autonomie-Gebieten offiziell die Existenz Israels anerkannt hätten, erwarte man eindringlich eine entsprechende Geste der Israelis. Diese müsse vor allem das Eingeständnis beinhalten, in der Vergangenheit Unrecht verübt zu haben.

So glaubt auch der palästinensische Schriftsteller Machmoud Darwish in einem Interview mit Tom Segev, ein Recht auf Rückkehr der Flüchtlinge würde nicht unbedingt bedeuten, dass diese auch wirklich zurückkehrten; man erwarte vielmehr von Israel das offizielle Zugeständnis, dass sie damals gewaltsam vertrieben wurden. Diese Anerkennung habe hohe symbolische Bedeutung, denn »auch die Israelis haben ein Recht auf Rückkehr, ohne dass alle Juden der Welt nach Israel kommen«, während palästinensischen Füchtlingen in Syrien oder Libanon nicht einmal theoretisch diese Möglichkeit zugesprochen wird.

Zumindest auf publizistischer Ebene mehren sich nun auch auf israelischer Seite die Stimmen, die vor einem Scheitern des Friedensprozesses mit den Palästinensern warnen. Vor allem nach dem Ende der Verhandlungen mit Syrien, die gezeigt hätten, dass Frieden ohne gegenseitigen guten Willen im Nahen Osten nicht erreichbar sei, müsse man aufhören, fordert beispielsweise der Autor Gideon Samet, die Dimension eines künftigen Abkommens auf Fragen zu reduzieren, welche Bypass-Road wo gebaut oder ob eine Straßenkreuzung nun zur Zone B (gemischte Kontrolle) oder A (volle palästinensische Kontrolle) gehöre.

Stattdessen müsse eine historische Wahrheit als Basis des gegenseitigen Verständnisses anerkannt werden: dass den Palästinensern heute dieselbe nationale Anerkennung zustehe, die der Zionismus vor fünfzig Jahren für die Juden beanspruchte und durchsetzte.