Fußballvereine in Rio de Janeiro

Fla-Flu und der Tag danach

Das Knie von Ronaldo, Fußballvereine in Rio und was das alles bedeuten soll.

Viel ist über Brasilien in den letzten Wochen berichtet worden anlässlich des 500. Jahrestages der Landung der Portugiesen an der südamerikanischen Küste. Feierliches wegen des Jubiläums oder auch Kritisches wegen der Jubiläumsfeierlichkeiten. Doch was sind 500 Jahre Geschichte gegen das Knie Ronaldos?

Dieser Eindruck jedenfalls drängt sich einem auf, vergleicht man die bisweilen etwas bemüht wirkenden Veranstaltungen zum halben Jahrtausend mit den Reaktionen der brasilianischen Presse Mitte April, als der Comeback-Versuch des Brasilianers in Diensten von Inter Mailand nach nur sechs Minuten in der Katastrophe geendet hatte. Sämtliche Zeitungen gaben dem Bild des mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden liegenden Fußballers am darauf folgenden Tag die Titelseite. In den entsprechenden Rubriken dann wurde eingehend, Minute für Minute, analysiert, wie es zu dieser neuerlichen Knieverletzung gekommen ist, was den Mitspielern durch den Kopf ging, was dies nun bedeutet, für den Spieler, für Brasilien und den Fußball überhaupt.

Diese Bedeutung des Fußballs ist nicht leicht zu begreifen, zumal wenn man aus einem Land kommt, in dem die Beziehung zum Fußball alles in allem etwas Beliebiges, etwas Lustloses hat.

Nehmen wir etwa ein Fla-Flu, das Aufeinandertreffen von Flamengo und Fluminense, der Klassiker schlechthin, das Derby - welches Wort es auch immer treffen mag - von Rio de Janeiro. Seit 1911 fast die gesamte Mannschaft von Fluminense nach einem Zerwürfnis mit der Vereinsführung beim benachbarten Ruderclub Flamengo Aufnahme gefunden hatte, diesem so zu einer Fußballabteilung verhalf, die ihn über die Jahre zum beliebtesten Verein Brasiliens machte - o mais querido do Brasil -, sind etliche Matches, Tore, Spielzüge dieses Duells fes-ter Bestandteil der jeweiligen Heldengeschichte geworden. So zum Beispiel das entscheidende, kurz vor Schluss mit dem Bauch erzielte Tor von Renato, das Fluminense 1995 die Meisterschaft von Rio einbrachte und dem Spieler die Heiligsprechung seines Bauchs durch den Anhang von Fluminense.

Aber auch die Politik bleibt von den Auswirkungen eines Fla-Flu nicht verschont. Als 1984 die ersten Präsidentschaftswahlen nach zwanzig Jahren Militärdiktatur anstanden, machte eine Spielerdelegation von Fluminense kurz vor einem Fla-Flu dem noch amtierenden Diktator und bekennenden Fluminense-Anhänger Figueiredo ihre Aufwartung und bei dieser Gelegenheit gleich auch ein Foto mit dem rechten Präsidentschaftskandidaten Paulo Maluf. Am folgenden Tag sprachen sich Vereinsführung und Anhang von Flamengo für den Gegenkandidaten Tancredo Neves aus und machten aus dem Spiel eine politische Demonstration für diesen. Flamengo gewann die Partie. Überflüssig zu erwähnen, wie die Wahlen ausgingen.

Teilten beide Mannschaften in den achtziger Jahren nationale und regionale Titel beinahe untereinander auf, so ist es gegenwärtig nicht ganz so gut um sie bestellt. Auch wenn Flamengo zur Zeit die beste Mannschaft der zweiten Serie im Campeonato Carioca - der Regionalmeisterschaft von Rio, die der nationalen in nichts an Bedeutung nachsteht - ist, liegt die demütigende 1:5-Niederlage gegen Vasco da Gama erst einige Wochen zurück. Und auf nationaler Ebene konnte man in den neunziger Jahren nur selten eine herausragende Rolle spielen, jedenfalls keine, die mit den Erfolgen jener legendären Mannschaft um Zico in der ersten Hälfte der Achtziger auch nur annähernd vergleichbar wäre. Für Fluminense sieht es noch trostloser aus. Um mal wieder einen Titel feiern zu können, musste der Verein erst in die dritte brasilianische Liga absteigen, wo er dann 1999 auch prompt Meister wurde - der noch fehlende Titel in der Sammlung.

Aber wenn den Worten eines Freundes - nennen wir ihn Lu's, glühender Anhänger von Fluminense - zu trauen ist, ist wichtiger als die Liga, in der der Verein gerade spielt, oder der Platz, auf dem er sich befindet, und somit das wichtigste überhaupt, der Tag danach. Der Triumph nach einem gewonnenen Fla-Flu am Arbeitsplatz, im Freundeskreis, oder eben die Schmach nach einem ungünstigen Spielausgang. Der Gipfel in emotionaler Hinsicht wird dabei erreicht, sollte das Spiel gar durch eine umstrittene Aktion des Schiedsrichters entschieden worden sein.

Die beiden letzten Fla-Flus zum diesjährigen Campeonato Carioca waren derartig knappe Entscheidungen, unglücklicherweise nicht im Sinne von Flu. Aber nicht nur Fluminense haderte mit dem Schiedsrichter, auch seitens der Vereinsführung von Flamengo zeigte man sich unzufrieden mit diesem, was in dem Verdacht gipfelte, die Schiedsrichter würden prinzipiell so pfeifen, dass Vasco da Gama, die in den letzten zehn Jahren wohl erfolgreichste Mannschaft aus Rio, bevorteilt würde.

Vasco hat nicht nur die erste Serie der diesjährigen Meisterschaft ohne Niederlage für sich entschieden, sondern ist zur Zeit auch die Heimat dreier gern gehasster Figuren im brasilianischen Fußball: der beiden Stürmer Edmundo und Romário, in denen sich spielerische Genialität mit einem unausstehlichen Charakter paart, und von Eurico Miranda, Vizepräsident von Vasco und reaktionärer Politiker, dem ausgezeichnete Verbindungen zum organisierten Verbrechen in Rio nachgesagt werden. Gemeinsam sind die drei die Garanten des gegenwärtigen Erfolgs. Der Verein konnte es sich sogar leisten, das Publikum mit der frisch entbrannten, über die Medien detailliert wiedergegebenen Feindschaft seiner beiden Stars zu unterhalten.

Dabei hatte alles so gut angefangen für Fluminense; oder zumindest hatte mit Fluminense alles angefangen. Zunächst nämlich damit, dass Oscar Cox, Nachfahre englischer Einwanderer, 1897 ausgerechnet aus der Schweiz die Idee, eine Fußballmannschaft aufzubauen, nach Rio de Janeiro brachte. Bis 1902 dauerte es dann noch, bis der Fluminense Football Club gegründet werden konnte.

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war der Fußball ein Freizeitvergnügen der besseren Kreise von Rio, entsprechend achteten viele Vereine auf ihre soziale Exklusivität. Fußball war ein Sport der Elite, die orientierte sich an Europa, d.h. England und Frankreich, und gemäß ihren Vorstellungen von einem weißen Brasilien war es ausgeschlossen, dass Schwarze Mitglied eines Vereins werden konnten.

Dies änderte sich erst im Laufe der zwanziger Jahre und ist eng mit dem Aufstieg Vasco da Gamas verknüpft. Im Unterschied zu den drei anderen großen Vereinen im Rio von heute - neben Fluminense und Flamengo gehört dazu noch Botafogo - ist Vasco kein Club der Oberschicht gewesen. 1916 als Fußballclub von portugiesisch-stämmigen Kaufleuten gegründet - seit 1898 exis-tierte der Verein schon als Ruderclub der portugiesischen Kolonie in Rio - rekrutierte der Verein seine Mannschaft von Anfang an aus den ärmeren Schichten, Schwarze wurden ebenso akzeptiert wie Weiße. Da darunter oft auch Arbeitslose waren, wurde für die Spieler im Umfeld des Vereins eine Beschäftigung gesucht, bei der Rücksicht auf ihre sportlichen Verpflichtungen genommen wurde. Auf diese Weise entwickelten sich erste Ansätze zu einem professionell betriebenen Fußball.

Als die Mannschaft 1923 in die erste Liga von Rio aufgestiegen war und dort auf Anhieb Meister wurde, versuchten die arrivierten Vereine, die eigene Vormachtstellung durch allerlei gegen Vasco gerichtete Bestimmungen zu behaupten. Sie beharrten darauf, dass nur Amateure und zudem solche, die einer qualifizierten Arbeit nachgingen und des Lesens und Schreibens kundig seien, den Sport ausüben dürften. Mittelfristig jedoch ließ sich die Entwicklung nicht aufhalten, und 1933 wurde formell der Profi-Fußball eingeführt. Im gleichen Jahrzehnt ließen die großen Clubs ihre rassistischen Grundsätze, schwarze Spieler prinzipiell nicht aufzunehmen, fallen.

Bis heute verbindet sich insbesondere mit Fluminense das Bild der vornehmen Herkunft, ein aristokratisches Gefühl, das es der sportlichen Realität zum Trotz zu wahren gilt. Für Flamengo und Botafogo, wiewohl ursprünglich auch Vereine der gesellschaftlichen Elite, hat sich dieses Image nicht gehalten. Flamengo, die rebellische Abspaltung von Fluminense, galt fast von Anfang an als Liebling der Massen, oder wie es die Anthropologin Cláudia Mattos beschreibt, als Verein, mit dem man die aus Sicht der Mittelschicht bedrohlich wirkende wilde Ausgelassenheit der ärmeren Bevölkerung assoziiert. Als Grund für die große Popularität wird angeführt, dass die Mannschaft in den ersten Jahren ihres Bestehens in Ermangelung eines eigenen Stadions auf öffentlichen Fußballplätzen trainiert hatte. Botafogo hingegen, der Verein mit dem kleinsten Anhang von den großen, gilt als Verein der Intellektuellen, einer zwar meinungs- und stilbildenden Elite, die aber nicht direkt über ökonomische und politische Macht verfügt. Die Fans von Botafogo stehen in dem Ruf, sich geradezu danach zu sehnen, mit ihrem Verein zu leiden, weshalb ihnen eine knappe Niederlage allemal lieber sein soll als ein klarer Erfolg.

Aber was soll man machen? Man kann sich den Verein ja nicht aussuchen. Denn irgendwann zwischen Kindheit und Jugend wird man auf eine - seine - Mannschaft geprägt und hat sich dann mit deren Image zu arrangieren. Überhaupt wäre es übertrieben, wollte man behaupten, dass Fragen der Politik eine allzu große Rolle im sportlichen Tagesgeschäft spielen. Ausnahmen wie das Fla-Flu von 1984 bestätigen diese Regel.

Und so wird denn Vasco das diesjährige Campeonato Carioca für sich entscheiden, wenn alles seinen geregelten Gang nimmt. Aber warum sollte es das tun?