Sport als Krankheit

Im Rausch der Endorphine

Andreas Niedrig ist so etwas wie der deutsche Dan O'Brien. Allerdings ist der Triathlet, der gerade in Roth bei Nürnberg den dritten Platz belegte, nicht ganz so sportlich wie sein US-Kollege, der Zehnkampf-Olympiasieger von 1996. Was den Spiegel nicht davon abhält, Niedrig heftig zu featuren. Denn offensichtlich mangelt es an deutschen Spitzensportlern, die mal ganz unten waren.

O'Brien und Niedrig haben eins gemein: Beide sind Sport-Junkies. Andreas Niedrig spritzte sich früher Heroin. Das hat er vor allem deswegen überwunden, weil er sich dem Triathlon hingegeben und in den bei solchen körperlichen Belastungen anfallenden Endorphinausstößen einen adäquaten Ersatz gefunden hat. Neun Jahre nach seiner erfolgreichen Entgiftung steht er in neuer Abhängigkeit: Er braucht täglich etwa acht Stunden Ausdauertraining.

Auch Dan O'Brien, der bei den US-Ausscheidungen in der vergangenen Woche sein Comeback versuchte, war und ist süchtig. Als Alkoholiker blieb er immer nur solange trocken wie er sich Zehnkampf als Alternativprogramm verabreichte.

Im Gegensatz zur gängigen Vermutung, Sport könne helfen, Sucht zu bekämpfen, ist die Lehre aus den Fällen O'Brien und Niedrig: Der Sport selbst ist ein Suchtangebot, Spitzensportler sind ihm verfallen. Neben dem Saufen und Spritzen gibt es mittlerweile eine ganze Reihe gesellschaftlich anerkannter Suchtkrankheiten: von der Spielsucht, der Magersucht und der Sexsucht bis hin zur Arbeitssucht. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis auch der Sport dazu gezählt wird. Sport als Krankheit - das bisher gültige gesellschaftliche Bild der Leibesertüchtigung könnte sich gewaltig verändern. Bislang wehren sich Sportler und Sportfunktionäre gegen diese Erkenntnis. Am liebsten mit dem Argument, Sport sei gesund. Gerne wird auf therapeutische Erfolge wie bei O'Brien und Niedrig verwiesen.

Doch sollte sich die Erkenntnis breit machen, dass Sport eine Krankheit ist - oder bestenfalls eine Art Methadonprogramm -, gäben wohl weniger Eltern ihre Kinder bedenkenlos beim Sportunterricht ab. Selbsthilfegruppen der »Anonymen Sportler« wären denkbar. Auch die Prozesse gegen DDR-Trainer und -Sportfunktionäre wegen Medikamentenvergabe müssten neu bewertet werden: Die Richter müssten zugeben, dass sich Sport ohnehin nicht allzu sehr von Tablettensucht unterscheidet.

Noch ist die Zeit der O'Briens und Niedrigs nicht gekommen, noch werden Helden gesucht, bei denen Krankheit und Sport klar zu scheiden sind. Also rollt Lance Armstrong an die Spitze. Es ist der Radsportler, der am Sonntag die Tour de France gewinnen dürfte, und er hat den Krebs überwunden. Dopingfrei hat Armstrong gezeigt, dass der Sport sogar die Medikamente für die Krebsnachsorge ersetzen kann.