Gaddafi und die Geiseln von Jolo

Das grüne Buch der Diplomatie

Die erfolgreiche Vermittlung von Muammar al-Gaddafi bei der Freilassung der Geiseln von Jolo wird sich für Libyen lohnen. Und für Deutschland auch.

Früher war er ein »Schurke«, heute bedankt sich die halbe Welt bei ihm. Ging vor fünf Jahren irgendwo eine Bombe hoch, so hieß es gleich, er habe das arrangiert. Oder unterstützt. Oder finanziert. Auf jeden Fall aber habe er davon gewusst. Nach der Freilassung einiger Geiseln auf den Philippinen, unter ihnen einige Wallerts aus Göttingen, gilt er als mutiger Retter, als Diplomat, ohne dessen Intervention »es wohl nicht gegangen« wäre. So zumindest spricht seither Gerhard Schröder über Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi. Auch für Gaddafis Sohn Saif al-Islam, einen Freund und Unterstützer Jörg Haiders, hatte der Bundeskanzler gute Worte übrig.

Was ist nur mit den alten Feindbildern los? Bis zum Juni dieses Jahres wurde Libyen in den USA als »Schurkenstaat« angesehen. Damit stand der nordafrikanische Staat auf einer Stufe mit Nordkorea, Afghanistan und dem Sudan. Die meisten Staaten der westlichen Welt übernahmen aus den USA zwar nicht diese Bezeichnung, entwickelten aber einen ähnlichen Umgang in der politischen Praxis. Vom diplomatischen bis zum wirtschaftlichen Boykott wurde so gut wie jede politische Maßnahme gegen Libyen verfügt. Heute hingegen würdigt Joseph Fischer »die wichtige und konstruktive Rolle« Libyens.

Die politische Isolation hat Gaddafi aber nicht erst mit seinen erfolgreichen Vermittlungsversuchen auf den Philippinen durchbrochen. Ein umfassendes UN-Embargo, das wegen der mutmaßlichen Beteiligung libyscher Geheimdienstagenten an einem Bombenattentat auf ein PanAm-Flugzeug über der schottischen Ortschaft Lockerbie verhängt worden war, wurde im April 1999 ausgesetzt. Libyen hatte zuvor die beiden Verdächtigen ausgeliefert.

Fünf Monate später folgte die EU. Bis auf das Waffenembargo wurden alle Sanktionen aufgehoben, auch eine Aufnahme in das so genannte politische und wirtschaftliche Partnerschaftsprogramm Europa-Mittelmeer (Meda) wurde dem Mittelmeeranrainer Libyen in Aussicht gestellt. Neben Handelsabkommen, Quoten für den Fischfang und rechtlichen Angleichungen geht es der EU beim Meda-Abkommen auch um so genannte Rücknahmeregelungen für Flüchtlinge. Wie Marokko und Tunesien soll Libyen garantieren, seine Grenzen besser zu bewachen und alle, die dennoch nach Europa gelangen, zurückzunehmen. Im Gegenzug gibt es reichlich Geld.

Geld, das Libyen gut gebrauchen kann. Wegen der Sanktionen sind viele Maschinen und Ersatzteile für die Ölförderung nicht mehr ins Land gekommen. Viele Förderanlagen sind seit Jahren außer Betrieb, neue konnten nicht errichtet werden. Die Staatseinnahmen sanken innerhalb kurzer Zeit um 80 Prozent, die wirtschaftliche Struktur des Landes musste komplett umgestellt werden. Landwirtschaftliche Betriebe und Unternehmen der Leichtindustrie wurden wichtiger als die petrochemischen Großanlagen.

Dies hatte auch Auswirkungen auf die politische Führung des Landes. Nach und nach mussten die zentralen Planungsstellen der Volkswirtschaft Zugeständnisse an den privaten Handel machen. Als 1992 ein Gesetz verabschiedet wurde, das die Gründung von Privatunternehmen ermöglichte, verlor die Kommandowirtschaft noch mehr an Bedeutung - und damit auch das ökonomische Modell, das Gaddafi 1977 in seinem »Grünen Buch« als wegweisend beschrieben hatte.

Heute besteht die libysche Wirtschaft aus vielen kleinen privaten Initiativen und einigen großen staatlichen Unternehmen, in denen immer noch 8oo ooo Menschen - ein knappes Viertel aller Erwerbstätigen - beschäftigt sind. Die Arbeiter und Angestellten des Staates werden schlecht bezahlt, die überwiegende Mehrheit der privaten Kleinunternehmer kommt nicht über Subsistenzwirtschaft hinaus. Aus dem von Gaddafi im »Grünen Buch« propagierten egalitären Staat der Massen, der Volksdschamahariya, ist ein Staat geworden, der Armut für alle garantiert - wenige staatliche und private Funktionäre ausgenommen.

Libyens Vorteil ist, dass die Bevölkerung an diesem Modell teilhaben kann. Unzählige Basiskongresse und ein Allgemeiner Volkskongress arbeiten so sehr an der Verwaltung des egalitären Elends mit, dass 1997 sogar die Regierung überflüssig wurde. Nur noch die wichtigsten Ressorts wie Inneres, Verteidigung und Äußeres werden seither von einem Mini-Kabinett gestellt. Geändert hat das an der Verarmung der Bevölkerung und der Verschuldung des Staates nichts.

Auch Gaddafis diplomatische Bemühungen in Afrika, seine Suche nach immer neuen Bündnispartnern auf dem Kontinent und seine Appelle zur afrikanischen Einheit haben Libyen weder geschadet noch genützt. Die Vermittlungsversuche sowohl im Kongo-Krieg als auch beim Konflikt zwischen Äthiopien und Eritrea scheiterten, und die im vergangenen Jahr gestellte Forderung, die »Vereinigten Staaten von Afrika« zu schaffen, wurde von niemandem beachtet.

Dafür kam das Interesse von anderer Seite. Seit dem Ende der Sanktionen sind zahlreiche europäische Politiker und Unternehmer in den Wüstenstaat gereist. Allen voran die Italiener: Außenminister Lamberto Dini konnte im August 1999 einen Vertrag über eine 600 Kilometer lange Gaspipeline zwischen den beiden Ländern präsentieren. Im Dezember reiste der damalige Premier Massimo D'Alema als erster europäischer Regierungschef demonstrativ nach Tripolis. Weitere kleine Abkommen im Energiesektor folgten. Libyen ist für Italien der größte Lieferant von Rohöl und Erdgas, aber auch andere europäische Staaten versuchen zunehmend, sich durch Ölimporte aus dem Mittelmeerstaat von den Ölmonarchien am Golf und den Preisvorgaben der Opec unabhängiger zu machen.

Für Deutschland ist Libyen der viertwichtigste Rohöllieferant, auch Erdgas wird zunehmend von dort importiert. Nach Italien ist Deutschland der zweitwichtigste Handelspartner Libyens. Die Bundesregierung hat bereits einiges unternommen, damit das so bleibt. Die Einbeziehung Libyens ins Meda-Programm der EU erfolgte, wie vergangene Woche Frankreichs Außenminister Hubert Védrine betonte, unter der deutschen Ratspräsidentschaft; die Vermittlungen Libyens auf den Philippinen sollen unter anderem auf eine Bitte des ehemaligen deutschen Geheimdienstkoordinators Bernd Schmidbauer (CDU) zurückgehen. Dies sagte zumindest Saif al-Gaddafi in einem Interview mit dem Focus.

Die europäische Offensive gegenüber Libyen blieb den USA nicht verborgen. Erstmals seit der Bombardierung der libyschen Städte Tripolis und Bengasi durch die US-Luftwaffe 1986 hat das Pentagon im vergangenen Jahr wieder Kontakt zu Gaddafi aufgenommen. Denn der Druck der US-Wirtschaft, dem europäischen Beispiel zu folgen und die Sanktionen auszusetzen oder aufzuheben, steigt.

Eine Konsequenz hat der Vorsprung der Europäer im Umgang mit Ländern wie Libyen und dem Iran schon gehabt - wenn auch nur eine sprachliche: Das US-Außenministerium kennt seit Juni keine »Schurkenstaaten« mehr, es gibt nur noch »besorgniserregende Staaten«. Und die Sorgen könnten sich geben, da es seit Anfang letzter Woche auch eine Geisel aus den USA gibt, die ebenfalls auf libysche Diplomatie hofft. Die Aufhebung oder Milderung der US-Sanktionen könnte nach einer Freilassung so pragmatisch gehandhabt werden wie die Verwandlung von Schurken in Sorgenkinder.

Doch bis dahin hat die EU schon längst neue Fakten geschaffen. Im November soll Gaddafi, zumindest wenn es nach Hubert Védrine geht, nach Marseille kommen. Dort findet das nächste Gipfeltreffen der EU-Staaten mit den südlichen und östlichen Mittelmeerländern statt. Auf dem Programm stehen neben dem Meda-Abkommen auch Gespräche zur Errichtung einer gemeinsamen Freihandelszone bis zum Jahr 2010. Ganz so lange wird es sicher nicht dauern, bis die ersten Flüchtlinge aus Deutschland nach Libyen abgeschoben werden können. Dann steht auch einer Städtepartnerschaft zwischen Göttingen und Tripolis nichts mehr im Weg.