Straßenkarten oder Routenplaner

Der Weg ist das Ziel

Computergenerierte Reise-Listen ersetzen den Sklaven des Kapitalismus im Urlaub den Chef.

An einem schönen Sommerabend des Jahres 1998 fuhr im anhaltinischen Genthin ein ortsfremder Autofahrer seinen nagelneuen BMW ins Wasser des Elbe-Havel-Kanals. Der stolze Besitzer der bayerischen Nobelkarosse hatte den Fehler gemacht, sich auf ein Ausstattungsmerkmal seines Wagens zu verlassen, für das er einige Tausend Mark extra ausgegeben hatte: Sein Bordcomputer hatte ihm an dieser Stelle eine Brücke gemeldet. Tatsächlich verkehrt hier aber eine Fähre.

»Ha!« höre ich jetzt die erbitterten Feinde der Kartographie ausrufen: »Weil irgend jemand den Computer mit falschem Kartenmaterial gefüttert hat.« Stimmt aber nicht: Schuld an der Flutung von Luxus-Limousinen sind nämlich nicht die unschuldigen Programmierer, die tun, was so gut wie jeder im Kapitalismus macht - unnötige Arbeit in ein unnötiges Produkt investieren - und denen dabei wie jedem von uns gelegentlich mal ein Fehler unterläuft, sondern die Auto-Nerds selber.

Während der Programmierer nämlich nur vom Produkt seiner Arbeit entfremdet ist, benutzt der BMW-Eigner dieses Produkt, um die eigene Entfremdung von der ganzen Welt zu betreiben. Und darin unterscheidet er sich in keiner Weise vom Benutzer jener schlauen CD-Roms und Internet-Seiten, die einem die Reiseroute nach dem Muster »13,8 km auf der B 7, dann rechts auf die B 251, nach weiteren 7,3 km links auf B 253« erklären wollen. Die Reise reduziert sich in jedem Fall auf einen Strich in der Landschaft; schon das, was einen halben Meter rechts und links der Fahrbahn liegt, interessiert nicht mehr: Das Ziel ist der Weg.

Der Listenfahrer hält sich an einem vermeintlich praktischen Zettelchen fest, das doch nur eine Auflistung von Imperativen ist: Fahre hierhin, fahre dorthin, frag nicht warum. Wenn du auch nur einen meiner Befehle nicht beachtest, entziehe ich dir die Unterstützung. Es soll ja devote Charaktere geben, die so etwas brauchen, seit sie nicht mehr mit ihren Eltern in Urlaub fahren. Doch sobald sich ein Hindernis in den Weg stellt, sei es eine quer zur Reiseroute verlaufende Schifffahrtsstraße oder nur eine schlichte Baustelle in einer Ortsdurchfahrt, ergeht es ihnen wie jedem, der sein Leben nach den Anweisungen einer höheren Autorität einrichtet: Sie sind verlassen, buchstäblich geworfen in eine ihnen feindliche Welt, ohne feste Bezugspunkte und ohne eine Vorstellung von den Dingen, welche sie umgeben. Da für sie die Welt nur aus Knotenpunkten von Autobahnen und Bundesstraßen besteht, können sie sich noch nicht einmal auf ihre vorgeplante Reiseroute zurückfragen: »Entschuldigung, wo geht's denn hier zur Einmündung der B 280 in die B 19?« »Hä?«

Wie anders dagegen derjenige, der sich rechtzeitig mit einer zuverlässigen Landkarte ausgestattet hat: Souverän durchkreuzt er selbst die exotischsten Landstriche, mit Gewinn befährt er Straßen, die in kein Computerprogramm je Eingang gefunden haben, plant einen kleinen Umweg ein, um statt der Autobahn diese grün beränderte Landstraße noch mitzunehmen, schweift zum Mittagessen in jener Auberge vom Weg ab, stattet schließlich der freundlichen Anhöhe dort noch einen Besuch ab und kommt natürlich - gesättigt, erfüllt vom Erlebnis der Reise - Stunden nach dem völlig entnervten Listen-Automobilisten an.

Dessen Laune sich nicht dadurch bessert, dass er sich selbst verspätet wähnt: Hatte ihm doch sein Programm eine Ankunft vorhergesagt, die Stunden vor dem Zeitpunkt liegen sollte, an dem er schließlich erschöpft seinem Fahrzeug entstieg. Für die knapp 600 Kilometer von Berlin bis München errechnet etwa das Programm GeoRoute eine Reisezeit von genau vier Stunden - ein Wert, den einem selbst auf dem Porsche-Treffen keiner glaubt. Jungle-Redakteure, die sich, vertrauend auf die Routen-Berechnung des Internet-Anbieters easyTOUR (die Branche pflegt ein eigenartiges Verhältnis zur Groß- und Kleinschreibung), auf ein spätes Abendessen in einer ligurischen Trattoria gefreut hatten, durften stattdessen, nach einer einhundertprozentigen Fahrzeitüberschreitung an den Grenzen ihrer Wahrnehmungsfähigkeit angelangt, einen spektakulären Sonnenaufgang über dem Tyrrhenischen Meer bewundern.

Der Landkarten-Fahrer hingegen weiß, dass der Weg von A nach B nicht nur eine gerade Linie ist. Eine unter allen Umständen beste Reiseroute, das sagt ihm jeder Blick auf die Landkarte, gibt es nicht. Wer daran gewöhnt ist, nach der Karte zu reisen, der wird sich auch in anderen Lebensbereichen schlichten mechanistischen Erklärungsmustern verweigern, der hat erkannt, dass die Welt ungleich komplexer ist, als das jemals eine Internet-Liste zum Ausdruck bringen kann. Den Sklaven eine Fahranweisung aus dem Computer. Uns freien Menschen eine gute Landkarte.