Streit um Straßennamen

Adenauer siegt in Weißensee

Die Umbenennung eines kleinen Weges in »Günter-Litfin-Straße« sorgt im Norden Berlins für großen Ärger.

Wer will schon in einer Straße wohnen, die nach einem Verbrecher benannt ist? Die Anwohner der ehemaligen »Straße 209« im Ost-Berliner Bezirk Weißensee jedenfalls nicht. Der kurze Weg wurde am 24. August von Baustadtrat Rainer Hampel (SPD) feierlich in »Günter-Litfin-Straße« umbenannt. Sehr zum Missfallen der Mehrheit der Anwohner, die jetzt die peinliche Pflicht haben, ihren Freunden und Arbeitgebern die neue Anschrift mitzuteilen. Denn Litfin, »das war doch ein Dieb oder so was«, meint der kleine Philipp, der mit seinem Mountainbike die Straße hin und her radelt. Das habe ihm »die Mama erzählt«.

Philipp liegt nicht ganz falsch. Ein Blick auf das neue Straßenschild enthüllt die Identität des Namensgebers: »Günter Litfin - Weißenseer Bürger, 1. Maueropfer *1937 - Ý1961« steht da auf einer weißen Metalltafel. Darunter hängt die mit einem roten Balken durchgestrichene »209«.

Nur weil man von DDR-Grenztruppen erschossen wurde, muss man noch kein Verbrecher sein, könnte man meinen, aber da ist ja noch was: Litfin habe im Westen sein Geld verdient und gleichzeitig im Osten die sozialen Errungenschaften des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden genutzt, meinte der ehemalige Vorsitzende der PDS-Fraktion in der Weißenseer Bezirksverordnetenversammlung Martin Dressel, als die Diskussion vor zwei Jahren in Schwung kam. So einen könne man doch durch eine Straßenwidmung »nicht heilig« sprechen, enthüllte er die Beweggründe für den Protest der Anwohner.

Im Klartext: Nach DDR-Diktion war Litfin ein »Wirtschaftsverbrecher«. Und obwohl es heute die DDR nicht mehr gibt, weil ihre Einwohner lieber in der kapitalistischen Bundesrepublik leben wollten, wird immer noch so manche Schlacht des Kalten Krieges geschlagen. Gerade Weißensee ist ein schönes Terrain dafür.

Der Bezirk, der demnächst mit Pankow und Prenzlauer Berg fusionieren muss, liegt hinter dem Ernst-Thälmann-Park. Weißensee mit seiner Mischung aus »Kraft durch Freude«-Mietskasernen, Industriebrachen, DDR-Plattenbauten und einigen architektonischen Unglücksfällen der Nachwende-Ära eignet sich nicht zum Szenebezirk. Während die Wessis sich langsam wieder aus dem benachbarten Friedrichshain zurückziehen, seitdem sie bemerkt haben, dass ihre neuen Nachbarn Ossis sind, sind sie in Weißensee erst gar nicht angekommen.

In dieser Idylle gilt die ostpopulistische Tageszeitung junge Welt noch als »radikal links«, wie auf der Homepage der lokalen PDS nachzulesen ist. Und die Frontfrau der Kommunistischen Plattform, Sahra Wagenknecht, durfte in den Weißenseer Blättern einst ihre Ulbricht-Apologien veröffentlichen. 33,3 Prozent der Wählerstimmen machten die PDS in der Bezirksverordnetenversammlung vor CDU und SPD zur stärksten Partei.

PDS-Mann Gernot Klemm, Mitglied des Abgeordnetenhauses für Weißensee, relativiert allerdings den falschen Eindruck, den man angesichts des Straßenkampfes um die »209« gewinnen könnte. Der ehemalige Fraktionsvorsitzende der PDS in der BVV Martin Dressel sei mittlerweile von seinem Posten zurückgetreten und sogar ganz aus der Ostpartei ausgestiegen. Grund war die Kontroverse um Litfin. Jetzt habe die PDS der Umbenennung zugestimmt.

Zum Teil allerdings gegen ihre Basis: Viele Anwohner sprechen sich gegen die Umbenennung aus. Die Argumente sind allerdings nicht immer politisch motiviert. »Uns hat niemand gefragt, deshalb sind wir dagegen«, meinen beispielsweise zwei junge Herren im Jogginganzug beim Autowaschen. »Das kostet doch alles nur Geld«, wendet eine ältere Dame ein. Jedenfalls hätten sich viele an der Unterschriftensammlung gegen die Umbenennung beteiligt. »Aber die Bürger haben ja hier« - also im ungeliebten Westen, zu dem der Osten in den letzten zehn Jahren transformiert wurde - »nichts zu sagen.«

Vielleicht trägt zum Widerwillen der Anwohner auch bei, dass jene, die den Volkswillen mit Füßen treten, Mitglieder einer Vereinigung sind, die durch ihr zwielichtiges Finanzgebaren ins Gerede gekommen ist. Schließlich hatte Joachim Kanitz, der Vorsitzende der CDU-Fraktion in der BVV, im Dezember 1998 die Umbenennung vorgeschlagen. Obwohl es sonst nicht das Programm der profilierten Wächter deutscher Grenzen ist, Märtyer des Kampfes für die Reisefreiheit auszuzeichnen, liegt der Fall Litfin für die CDU anders. Denn der war ja kein Wirtschaftsflüchtling, sondern ein Widerstandskämpfer gegen die kommunistische Gewaltherrschaft.

Auch Ursula Popiolek von der Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Stalinismus hat gleich die Hintergründe des Falls parat. Litfin habe doch in der verboteten Adenauer-CDU im Osten mitgewirkt und Kontakte zu führenden CDU-Funktionären im Westen der Frontstadt unterhalten, meint sie sich zu erinnern. Genaueres sei in einem Artikel der Welt zu erfahren. Und tatsächlich wird durch die Lektüre eines Artikels vom 29. Dezember 1999 die Sachlage klarer: Demnach soll Günter Litfin 1957 in die »Adenauer-CDU« eingetreten sein, genauso wie sein Bruder Jürgen. Vater Albert hatte 1945 sogar den Kreisvorstand der illegalen Truppe mitgegründet, die nicht mit der DDR-Blockpartei gleichen Namens zu verwechseln ist.

Die FAZ liefert weitere Hintergründe. So soll der gelernte Schneider Günter Litfin vor dem Bau des »Antifaschistischen Schutzwalls« eine Arbeit in einem Maßatelier am Zoo gefunden haben. Weil er sich um seine kranken Eltern gekümmert habe, zog er aber zunächst nicht vom Ostbezirk Weißensee in die Nähe seiner Arbeitsstätte im Westen. Als er schließlich doch eine Wohnung in Charlottenburg renovierte, wurde am 13. August 1961 die Mauer gebaut. Nun saß er plötzlich auf der falschen Seite. In der Nacht vom 23. zum 24. August durchschwamm er deshalb den Humboldthafen. Doch in derselben Nacht war zum ersten Mal den DDR-Grenzschützern der Befehl gegeben worden, auf »Republikflüchtlinge« zu schießen. Den ersten, den sie erwischten, war Günter Litfin.

Den kleinen Philipp lässt die rührselige Geschichte aus dem Kalten Krieg völlig kalt. »Mir ist es egal, wie die Straße heißt«, meint er. Cool sei dagegen, dass, als die Straßentaufe mit großem Festakt vollzogen wurde, der Müllberg vor den Garagen weggeräumt worden sei. Also alles in bester Ordnung in Weißensee.