Stephen Kings »Das Lesen und das Schreiben«

Keep On Writing

Über das Lesen und das Besprechen von Stephen King, der gerade ein verzwicktes Buch veröffentlicht hat: »Das Leben und das Schreiben«.

Zu den deprimierendsten Obliegenheiten des Buch- (oder auch Platten-, Film- usw.) Rezensionsgewerbes gehört die Umschiffung irreführenden Gerüchtewissens.

Keine Probleme gibt's, wenn das jeweilige Ding unter der Mikroskoplinse vollkommen obskur, bizarr und abwegig ist, denn dann folgen einem alle (na ja ...) gebannt (sozusagen ...) und neugierig (manchmal ...) bei den fälligen Explikationen und Wertungsversuchen. Ebenso leichtes - wenn auch anderes - Spiel hat man mit Sachen, die jedermann und sein Pitbull auswendig nachpfeifen können. Da meldet man dann bloß: Das neue X ist da.

Wenn nun aber alle Welt nur glaubt, zu wissen, worum es geht, und der für die Besprechung zur Verfügung stehende Platz über sinnreiche Weitschweifigkeiten die scharfe Sanktion des augenblicklichen Platzens aus allen Nähten verhängt hat, dann beginnt die Aufgabe zu jucken. Aus diesem Grund fange ich jedesmal schon drei Tage früher als geboten an, mich vorsorglich zu kratzen, wenn es wieder heißt: ein Buch von Stephen King besprechen! Denn über kaum einen zeitgenössischen Autor gehen plattere, verbohrtere, groteskere und klischiertere Fehleinschätzungen am hellichten Tag auf der kritischen Promenade spazieren als über ihn, den »Meister des Horrors«, »Gruselexperten« und wie die originellen Epitheta alle gurgeln.

Bis man diesen ganzen Käse (dem der Meister freilich die eine oder andere Million verdankt, schon recht) weggeräumt hat, gibt's das jeweilige Buch meist schon wieder bei Kaufhof im Ramsch. Die Wahrheit ist jedenfalls, dass King dereinst im Jenseits ohne Scham und Zagen seinen Standesgenossen wird unter die Augen treten können. Und das sind eben nicht die Gruselschmierfinken aller Zeiten und Räume, nicht Hanns Heinz Ewers, Bram Stoker (trotz »Dracula« ein Erzlangweiler) oder irgendwelche Gothic-Fließbandarbeiter, sondern Genre-übergreifende Erfolgsschriftsteller wie Robert L. Stevenson, Sir Walter Scott, die Herren Dumas, aber auch die großen epischen Symbolingenieure wie Herman Melville, Henry James oder Kobo Abe (hier wird's den landläufigen FAZ-Trotteln schon »zu hoch gegriffen«) und schließlich neuzeitliche christliche Mystiker und/ oder Moralisten wie William Blake, T.S. Eliot und Teilhard De Chardin.

Wer's in Form einer vertikal organisierten Weltrangliste braucht: King steht deutlich über Karl May, Dannielle Steel oder H.P. Lovecraft (wenn das auch auf ihre Art und in ihrem Metier unverächtliche Leute waren/sind), aber unter einer handverlesenen Gruppe von AutorInnen, welche die Synthese des potenziell Populären mit dem künstlerisch Komplexen noch eine Idee meisterlicher hingekriegt haben: Italo Calvino, Joyce Carol Oates, Vladimir Nabokov, Norman Mailer. Dass derzeit und hierorts kaum jemand diese auf Übersicht zielende und, if I may say so myself, vollkommen richtige Einschätzung von Kings Format vertritt, hat drei Gründe: das allgemeine Elend, das etwas speziellere Elend und das individuelle Elend.

Das allgemeine Elend sind die Marketingbedingungen von Kings Literatur, nennen wir's: »Pop« (das muss man ja leider auch immer wieder erklären: Popliteratur entsteht nicht, indem ich meine Platten und alten Plastikspielsachen schlecht und recht nacherzähle oder beide mit meiner an sich herzlich uninteressanten Sozialisationsgeschichte verrechne, sondern auf denjenigen Feldern der Literatur, wo Massenkonsumsymbole, US-»Kulturimperialismus« und andere schicke Sachen mit schriftstellerischem Können kollidieren. Wer die neuen Plaudertalente und Windschnittigen unter den deutschen JungschreiberInnen im Ernst für »Pop« erachtet, glaubt wahrscheinlich auch, Til Schweiger sei ein »Star«). Da braucht man Trademarks, Siglen, Parolen. Das nennt sich bei King dann »Grusel« - in New York, Berlin, Brasilien und auf dem Moskauer Raubdruckermarkt. Das etwas speziellere Elend dagegen ist die perennierende deutsche Blödheit in Sachen Genre-Literatur.

Dass nämlich ein Künstler die anderen seines Faches überragt, dass er etwas geleistet hat, was »sui generis« ist, erkennt man leichter, wenn man andere (und zwar nicht irgendwelche, sondern: gute) Leute desselben Fachs kennt. Und da ist nun in Deutschland, dem Land, in dem kein Mensch die brillante Elizabeth Hand oder den begnadeten Peter Straub kennt (allenfalls als Ko-Autor des schwachen »The Talisman«, zusammen mit: Stephen King), niemand je von S.P. Somtow, nur jeder Tausendste von Poppy Z. Brite und kaum wer von Joe R. Lansdale gehört hat, ja: in jenem jämmerlichen Land, wo Stephen Gregory ebenso unbekannt geblieben ist wie Michael Marano - in Deutschland also, wo die erfolgreichsten AutorInnen von Dark Fantasy und Horror nicht die genannten sind, sondern Geisterbahngestalten wie der elende Dean Koontz den Ton angeben - in diesem Deutschland, sage ich, kann man's halt nicht verlangen, dass jemand weiß, wovon die Rede ist, wenn von King die Rede ist.

Und dann wäre da, wie gesagt, auch noch das dritte, das individuelle deutsche King-Elend: die Schlamperei. Wer die Urtexte kennt, wird mich verstehen: Kings Sprache, sein allerpersönlichstes Kunstidiom, ist ein sehr differenziertes, zwischen trügerischer Allgeläufigkeit und lokalen oder sozialen Mini-Akzenten schwebendes Englisch, dessen scheinbar so locker aus dem Handgelenk geschüttelte einnehmende Bewegung die fremdsprachige Nachempfindung auf eine härtere Probe stellt, als die Produktionsbedingungen der deutschen Fassungen vertragen. Diese Fassungen nämlich erscheinen oft verdächtig schnell nach der jeweiligen amerikanischen Version.

Für die sorgfältige Herstellung einer Übersetzung bleibt also einfach keine Zeit, und das, glaubt man bei den Verlagen offenbar, ist auch gar nicht schlimm, schließlich ist das Zeug ja keine Kunst. »On Writing«, um das es hier schon die ganze Zeit zwischen den Zeilen geht, erschien auf Deutsch sogar über einen Monat vor der Originalfassung. Was das für die »Abfertigung« im Übersetzerstall bedeutet, kann man sich denken.

So ist denn alles wie immer: Entsprechend der langen üblen Tradition deutscher King-Titelverhunzung nennt sich das knappe »On Writing« hier bräsig »Das Leben und das Schreiben« und reiht sich so nahtlos zwischen all den bisherigen Entgleisungen ein - von »Sie« für »Misery« über »Das Monstrum« für »Tommyknockers« bis zu »Das Mädchen« für »The Girl Who Loved Tom Gordon«. Natürlich wäre das bei »echter« Literatur nie passiert. Wer »Krieg und Frieden« zu »Krieg« zusammenstreicht oder aus den »Früchten des Zorns« »Wutweintrauben« macht, hat mit Degradierung zu rechnen. Seufz. Immerhin: Was man für sein Geld selbst mit »Das Leben und das Schreiben« bekommt, ist immer noch einiges - wenn auch nichts von dem, was die Werbung verspricht.

Denn »On Writing« ist:

- kein Bestseller-Autoren-Handbuch. Ansätze dazu gibt es zwar, aber King verliert sie, charmant kalkuliert, immer wieder sofort aus den Augen, zu Gunsten der Geschichte, die er zu erzählen hat und die nur sehr vordergründig »seine eigene« ist.

- keine King-Confessio. Die Lebensbeichte, die man hier findet, von den kindlichen Eierschalen des Horror-Film-Freaks über seelische Jugendtraumata bis zu den Drogengeschichten des Star-Schriftstellers, enthüllt und vertieft nichts und wieder nichts - dazu ist sie zu sehr auf Pointen, auf den eleganten Dreh hin angelegt. Der »Stephen King« dieses Buches ist eine Kunstfigur wie schon die Schriftsteller-Masken in »Salem's Lot«, »Stark« und »Bag of Bones«. Allenfalls kann man anhand der Anekdoten in »On Writing« einen Blick in Resonanzräume werfen, in denen beim künftigen Wiederlesen von Kings Romanen die Autoren-Problematik widerhallen mag.

- keine theoretische Auseinandersetzung mit dem Genre oder der Funktion des Erzählens überhaupt. Zwar gibt es da Ansätze, die weit über alles hinausweisen, was einem Seminaristen der Anglistik je an Kings Büchern aufgefallen wäre - etwa über Adverbien oder die Differenz zwischen »Fortgang der Erzählung« und »Handlung«.

Aber kluge Gedanken übers Schreiben finden sich schließlich auch in Norman Mailers Nachwort zu »The Deer Park«, den Briefen Lovecrafts oder irgendeinem Interview mit Jorge Luis Borges - klügere jedenfalls als zumeist an der Universität, und das macht all diese Äußerungen dennoch nicht zu »Theorie«, einer rätselhaften Größe, in der andererseits gerade Akademiker oft Beachtliches erreicht haben.

Was aber ist dann »On Writing«? Ich denke: einfach der neue King-Roman. Und das bedeutet: »On Writing« ist unter den Bedingungen, die ich erläutert habe, ein Buch, das man in diesem Land, zu dieser Zeit, schlechterdings nicht ordentlich besprechen kann. Man wird also einsehen, dass ich in weiser Selbstbeschränkung lieber alles andere untersucht habe als das, was in diesem Fall das Erleuchtetste und Schwierigste wäre: Wie zum Henker King es geschafft hat, auch noch etwas so Dröges wie die plane Selbstdarstellung in einen seiner fintenreichen, schönen, anrührenden und im besten Sinne des Wortes romantischen Texte zu verwandeln.

Stephen King: Das Lesen und das Schreiben. Ullstein, Berlin 2000, 333 S., DM 38