Rainald Goetz' »Irre« im Theater

Pauschalpunk

Nicht der Kranke sei krank, sondern die Gesellschaft sei es, die ihn krank mache. So lautete das Credo des Sozialistischen Patienten-Kollektivs Ende der Siebziger, so las man es bei Michel Foucault, und so war es die Achtziger hindurch als Allgemeinplatz an WG-Küchentischen zu vernehmen. Das war damals neu, griffig und irgendwie auch Punk - Pauschalpunk.

»Einer flog übers Kuckucksnest« muss auch so um den Dreh gewesen sein. 1983 kam »Irre« heraus, der halbautobiografische Erstlingsroman von Rainald Goetz, damals 29. Goetz hatte Geschichte und Medizin studiert und ein Praxisjahr in der Geschlossenen absolviert. »Irre« ist die Geschichte des idealistischen Assistenzarztes Raspe, der im Klinikbetrieb selbst irre zu werden droht. Die Psychiatrie wird hier als eines jener hermetisch geschlossenen Systeme abgebildet, wie sie die Luhmannsche Systemtheorie beschreibt, der sich Goetz kurze Zeit später zuwandte. Sie ist eine Megamaschine auf Autopilot, angetrieben von den Incentive-Systemen des Klinik-Karrierismus, mit den Patienten als Input. Das unterscheidet »Irre« von anderen Büchern zum Thema: Nicht um die Patienten geht es, sondern um das System Psychiatrie, es wird mit dem medizinisch-analytischen Blick seziert, Organigramm vor Psychogramm.

Das war einigermaßen modern für 1983, dem Jahr, in dem sich Goetz die Stirn mit einer Rasierklinge aufschnitt und seinen Kultstatus begründete. Heute würde man sagen: ein guter Promotiongag. Seither hat sich einiges geändert. Doppelt riskant deshalb, »Irre« als Schauspiel auf die Bühne zu bringen, wie es nun Jossi Wieler erstmals in Hannover versucht hat. Denn es ist ein Roman, der wenig dramatische Momente bietet. Und es ist ein Text vom Anfang der Achtziger, der das Klima in der alten Bundesrepublik abbildet - nicht mehr aktuell und noch nicht historisch.

Für beide dramaturgischen Probleme werden hier halbherzige Lösungen gefunden. Zum einen reden die Figuren von sich anfangs in Prosasprache und indirekter Rede - Dr. Röder sagt etwas und fügt an: »... sagte Dr. Röder«. Das funktioniert recht gut, weil es manisch selbstreflektiert wirkt und so den Beginn des Irre-Werdens markiert. Weil es auf Dauer doch zu mühsam ist, lassen die Figuren es bald bleiben, und der Effekt ist weg. Zudem verstellt die Inszenierung durch eine vordergründig aktualisierende Rahmenhandlung den historischen Blick auf die Achtziger, der andernfalls hätte funktionieren können.

Okay, die Achtziger sind wieder da, aber Punk ist zu weit weg, als dass man das Setting so einfach umtopfen könnte. Wenn sich Raspe (Fabian Gerhardt) im Waver-Outfit den silbernen Kamm an die Stirn setzt, dann spielt das natürlich auf die Rasierklinge an, ist nur viel harmloser.

So laviert man sich artig und unentschieden durch das halbhistorische Material. Sportiv turnen die Ärzte im Bühnenbild herum, das als dreigeschossiger Rundbau Foucaults »Panoptikum« zitiert. Als choreografierte Mensch-Maschine in hektischer Doppelbesetzung von Ärzten und Patienten umstolpern sie die zentrale Idee des Buches. Richtig irre ist das nicht.

»Irre«. Inszenierung: Jossi Wieler. Mit Matthias Neukirch, Fabian Gerhardt. Schauspiel Hannover