Texte von Lydia Lunch

Schmerz-Kontrolle

Kollaboriere mit dem Feind! fordert Lydia Lunch. Ob und wie das funktioniert, kann man in ihren autobiografischen Texten nachlesen.

Mitte der achtziger Jahre hatte ich einen Freund, der mit seinen Eltern in einer Bundeswehrsiedlung aus Fünfziger-Jahre-Mietshäusern wohnte. Dort war alles noch akkurater, als es in der westdeutschen Suburbia ohnehin schon ist. Auch die Wohnung, in der er lebte, war sehr, sehr aufgeräumt, teppichgedämpft und stand in einem seltsamen Kontrast zu seinen nächtlichen subkulturellen Ambitionen. Das wäre eigentlich nicht weiter bemerkenswert, denn wer durfte seine Kindheit und Jugend schon in geschmacklich und kulturell korrekten Elternhäusern verbringen? Die waren in den achtziger Jahren noch gar nicht erfunden.

Doch eine Sache faszinierte mich an dem Zuhause dieses Freundes immer ganz besonders: Inmitten dieses Horts des Anstands und der Sauberkeit hing in seinem winzigen Jugendzimmer, fein säuberlich an die Wand gepinnt, ein kleines Bild von Lydia Lunch im Lackkorsett mit einer Peitsche in der Hand. Das war die einzige Zierde dieses Zimmers, und wie ein Magnet zog dieses Bild in dieser Umgebung alle Blicke auf sich. Ich habe meinen Freund damals nie gefragt, warum er ausgerechnet dieses Foto in diesem Zimmer aufgehängt hat.

Jahre später, als ich zu Lydia Lunchs Performances ging, hatte ich oft das gleiche Gefühl wie damals im Zimmer meines Freundes. Da stand diese unglaubliche Frau auf irgendeiner deutschen Kleinkunstbühne und spie Gift und Galle ins fast ausschließlich männliche Publikum, das in einer Mischung aus Faszination, Ekel und Erregung böse zurückstarrte. Aber im Vergleich mit diesem Weibsbild wirkten diese Männer trotz aller Mühen und Lederjacken immer wie mickrige Sesselpuper.

Wer ist Lydia Lunch? Was ist so faszinierend an ihr, und vor allem für wen? Lydia Lunch, 41 Jahre, ist die unverwüstliche Künstlerin und Performerin der amerikanischen frühen Punk- und No Wave-Szene. Ihre erste Band, Teenage Jesus And The Jerks, gründete sie mit 16 Jahren in New York. Über die Jahre folgten Kollaborationen mit dem Filmemacher Hubert Selby Jr., mit Exene Cervenka, Henry Rollins und natürlich mit Nick Cave, Die Haut, Sonic Youth und den Einstürzenden Neubauten, um nur einige wenige Weggefährten zu nennen.

Den Prä-Punk-Sozialisierten ist sie vor allem als Spoken Word-Performerin bekannt. Lunch, die in ihrer Kindheit und Jugend von ihrem Vater sexuell missbraucht wurde, beschäftigt sich in ihren Auftritten mit den Themen Macht und Inzest, Gewalt und Unterwerfung, dem »ewigen Zyklus« der Opfer und Täter; geprägt ist das alles von einer apokalyptischen Weltsicht. Antrieb für diese Art der nervenaufreibenden Selbstdarstellung und Entblößung ist ihr unbedingter Wille, sich nicht als Opfer abstempeln zu lassen. »Ich wurde zum Täter (...). Seit ich elf bin, habe ich jede Beziehung als psychologischen Test von Stärke, Willen, Macht, Kontrolle und Schmerz betrachtet«, sagte sie in einem Interview.

In Deutschland sind im vergangenen Jahr zwei Bücher mit Texten von Lydia Lunch erschienen: »Paradoxie«, ihre locker erzählte Autobiografie, sowie »Belastende Indizien« mit Texten aus Lunchs Filmen und Performances. Leider sind beide Bücher nur bedingt interessant, schwarz auf weiß gedruckt wirken Lunchs Injurien wie die Geschichte einer ausgeflippten alten Tante, die zwar cool ist, aber immer dasselbe erzählt. Immer fließen alle erdenklichen Körpersäfte in Strömen. Es wird gekotzt, gewichst, gepisst und geschissen; dazu gefickt, gesoffen, geprügelt und es werden Drogen eingefahren, bis wahlweise Magen, Nieren oder Eierstöcke aufgeben.

Und weil Lydia Lunch ihre Exzesse mit unbedingter Ernsthaftigkeit und Ausdauer betreibt, hat das Szenario etwas unfreiwillig Komisches. So entsteht eine Art gewalttätiger pornografischer Spaghetti-Western, aber der Held ist zur Abwechslung mal eine Frau, die von Stadt zu Stadt, von Abenteuer zu Abenteuer rast. »Was passieren muss, passiert. Leben und Lernen. Außerdem konnte ich auf mich selbst aufpassen«, sagt sie zum Abschied und reitet dann nicht auf einem Pferd in den Sonnenuntergang, sondern mit einem nichtsnutzigen Kerl ins Verderben.

Neben der bizarren Komik bietet Lunchs Biografie einen weiteren interessanten Aspekt: Es ist einer der detailliertesten Berichte aus einer Zeit, als noch niemand wissen musste, was Gentrifizierung bedeutet; einer Zeit, als die Innenstädte für viele Menschen eine wüste no go area waren. New York, Los Angeles, Amsterdam und London sind die Stationen der jungen Lydia Lunch, und wegen der Freiräume, die sich ihr dort öffnen, kann man sie heute nur als beneidenswert empfinden.

Besonders ihrer New Yorker Zeit widmet Lunch sich in »Paradoxia« ausführlich, und jeder, der schon mal dort war, kann ihr wildes Treiben in den Orten und Straßen, die sie ausdrücklich nennt und beschreibt, verfolgen. New York als kaputter anarchischer Ort, wo heute astronomische Mieten für die Glitzerfassaden der einstigen Bruchbuden gezahlt werden. Ob man sich dort

in ritueller Weise zugrunde richtete oder Topflappen strickte, ist für die Faszination, die von der Beschreibung dieser untergegangenen Stadt ausgeht, zweitrangig.

Lydia Lunch ist immer eine Künstlerin gewesen, die auf den Voyeurismus ihrer Zuschauer setzt. Dass sie dabei auch die Blicke von Leuten auf sich zieht, die mit ihrem Anliegen gar nichts anzufangen wissen, ist normal. In ihren Büchern allerdings werden nur hartgesottene Fans entdecken, warum man dieser Künstlerin Respekt zollen muss: Weil sie als Frau auf permanenten Konfrontationskurs geht und sich durch nichts und niemanden klein kriegen lässt.

Lydia Lunch: Paradoxie. Tagebuch eines Raubtiers, Miranda Verlag, Berlin 2000, 211 S., DM 30

Dies.: Belastende Indizien. Monologe, Tiraden, Stücke, Miranda Verlag, Berlin 2000, 213 S., DM 30