Proteste gegen Sparprogramm

Schwungvoll in die Tango-Krise

Ein neues Sparpaket der argentinischen Regierung treibt 150 000 Demonstranten auf die Straßen.

Mit Straßensperren, einem Sternmarsch aus allen Teilen der Stadt und einer anschließenden Kundgebung vor dem Präsidentenpalast ging am Donnerstag der achte Generalstreik gegen die Regierung des Präsidenten Fernando de la Rúa in Buenos Aires zu Ende.

Es wird nicht der letzte gewesen sein, denn die Gewerkschaften wollen ihren Protest gegen das Ende Juli vom Senat abgesegnete Sparpaket fortsetzen. Die so genannte Null-Defizit-Politik, die der neoliberale Wirtschaftsminister Domingo Cavallo dem Land verordnet hat, sieht empfindliche Gehaltseinbußen der Staatsangestellten vor. Um 13 Prozent sollen ihre Gehälter und die Pensionen durchschnittlich sinken, damit der Staatshaushalt am Jahresende ausgeglichen ist.

Betroffen davon sind auch die schlecht bezahlten Lehrer des Landes. Zumeist halten sie sich mit mehreren Jobs über Wasser. Sie bilden mit der Unterstützung von Schülern und Studenten eine der Speerspitzen des Streiks. Von ihnen muss sich die Regierung den Vorwurf gefallen lassen, das Bildungssystem kaputtzusparen, statt in die Zukunft des Landes zu investieren.

Gegen den rigiden Sparkurs, unter dem ausnahmsweise auch Minister und hohe Chargen in der Verwaltung leiden, wird mit immer härteren Bandagen gekämpft. Straßensperren, die kurzfristige Besetzung einer Bank und des Arbeitsministeriums haben die so genannten Piqueteros (etwa: Streikposten) in die Schlagzeilen gebracht. Unter ihnen finden sich Rentner genauso wie Beamte, Arbeitslose und Studenten, die auf ihre soziale Misere und damit auch auf die des Landes aufmerksam machen wollen. Sie werden von der Regierung als gewaltbereit diffamiert, unterstellt wird auch, sie würden von linksradikalen Splittergruppen und radikalen gewerkschaftlichen Organisationen gesteuert.

Doch so einfach ist es nicht, denn inzwischen geht auch die ehemals breite argentinische Mittelklasse auf die Straße. Ihr sind die Menem-Jahre, in denen wenig produziert und viel auf Pump gekauft wurde, sehr schlecht bekommen. Die »große Fiesta«, wie die Regierungszeit des Präsidenten Carlos Menem genannt wird, ist vorbei und hat die Mittelschicht ruiniert zurückgelassen.

Die Zustimmung zu den anhaltenden Protesten wächst. Angesichts einer offiziellen Arbeitslosenquote von 16,4 Prozent und rund drei Millionen Unterbeschäftigten, die sich in kaum einer Statistik finden, ist das kein Wunder. Jeder dritte Argentinier lebt mittlerweile in Armut.

Die Tragweite der Korruption und des systematischen Schuldenmachens unter Menem ist größtenteils erst nach dessen Abwahl aufgedeckt worden. Menem selbst steht derzeit unter Hausarrest, gegen ihn wird wegen Waffenschiebereien ermittelt. Während seiner Präsidentschaft soll Argentinien Waffen illegal nach Kroatien (1991) und Ecuador (1995) geliefert haben. Von dem auf diese Weise eingenommenen Geld fehlt jede Spur; es scheint in dubiosen Kanälen versickert zu sein, ebenso wie viele andere Pesos aus Regierungsfonds zu Menems Zeit.

Unter dem Finanzgebaren der ehemaligen Regierung hat das Land bis heute zu leiden. Nach Menems Abwahl rutschte es in eine Rezession, die sich längst in eine tiefe Depression verwandelt hat, wie auch Wirtschaftsminister Domingo Cavallo zugibt.In der letzten Woche bat er den IWF um eine weitere Finanzspritze, da die Devisenreserven des Landes schrumpfen. Rund sechs Milliarden US-Dollar an Spareinlagen sind allein im Juli von den Banken abgezogen worden, denn das Vertrauen in die Regierung und das nationale Finanzsystem ist erschüttert.

Angesichts einer Auslandsschuld von 130 Milliarden US-Dollar ist die Aussicht auf eine kurzfristige Besserung gering, und ob der IWF abermals mit etwa acht Milliarden US-Dollar, wie von Cavallo veranschlagt, aushelfen wird, lässt sich bisher nicht absehen. Auf dem internationalen Finanzmarkt kann Argentinien jedoch keine Kredite mehr aufnehmen, da die Risikozinssätze von rund 20 Prozent nicht zu finanzieren sind. Zudem ist das nationale Steueraufkommen stark rückläufig, so dass im Finanzministerium bereits an neuen Kürzungsplänen gebastelt wird.

Das Gespenst der Zahlungsunfähigkeit geistert seit Wochen durch die Straßen von Buenos Aires, und die Zahl derjenigen, die das Land verlassen wollen, ist sprunghaft gestiegen. »Rette sich, wer kann«, lautet die Devise in den so genannten besseren Kreisen der Gesellschaft. Eine neue Chance außerhalb des eigenen Landes zu suchen, davon reden viele, und die Schlangen vor den Botschaften und Konsulaten Spaniens und Italiens sind lang. Aus Spanien und Italien wanderten einst Hunderttausende ein, und dorthin möchten nun viele ihrer Nachkommen.

Doch die Wartelisten reichen bis Mitte 2002. An eine schnelle Ausreise ist somit nicht zu denken. Als Anfang Juli das Gerücht aufkam, dass die Bundesrepublik ein Kontingent aus Argentinien aufnehmen werde, hatten die Angestellten der Botschaft alle Hände voll zu tun, die desillusionierten Ausreisewilligen abzuwimmeln.

Korruption, Vetternwirtschaft und Straflosigkeit über mehrere Dekaden haben in Argentinien tiefe Spuren hinterlassen. Die Vertrauenskrise ist hausgemacht, und das Zögern, gegen die Verantwortlichen der Militärdiktatur vorzugehen, gehören ebenso dazu wie die zahlreichen Sparprogramme der Regierung de la Rúa, die allesamt ihre Wirkung verfehlt haben. Sieben sind es bisher, und sie haben dem Präsidenten den Beinamen »de la Ruina« eingebracht. Die Chancen, dass das Land ohne weitere Hilfen von allein wieder auf die Beine kommt, stehen nicht allzu gut.

Doch der IWF tut sich schwer, ein gutes halbes Jahr nach seiner letzten kostspieligen Intervention noch einmal Geld bereit zu stellen. 40 Milliarden US-Dollar hat er im Dezember des letzten Jahres bewilligt, und trotzdem wird derzeit von einer Tango-Krise gesprochen, die eine Ansteckungsgefahr für die Region und darüber hinaus in sich berge. Zwar kann die Regierung de la Rúa bereits Ende August mit der vorzeitigen Auszahlung eines Kredits über 1,2 Milliarden US-Dollar rechnen, der vom IWF gerade bewilligt wurde; aber er wird nicht reichen, wenn die Argentinier weiterhin ihre Konten plündern.

Dass ein zweiter Griff in die Schatulle nötig ist, darüber sind sich die so genannten Finanzexperten bereits einig. Doch damit sind insbesondere die Europäer unzufrieden. Ihre Kritik an der IWF-Strategie wird immer lauter. Warum habe man Argentinien unter Menem offenen Auges in die Krise rutschen lassen, statt zu bremsen, lautet ihre Frage. Die Zeche aber haben andere zu zahlen.