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Bless Or Blame

Beiträge zur Diskussion nach dem Anschlag auf die USA.

Die falsche Diagnose

Wenn ich Wertkritiker wäre, würde ich nach Afghanistan ziehen. Da wird nicht viel produziert, und ich hätte nicht so viel zu tun. Einen Medienkritiker würde ich auch noch mitnehmen. Fernsehen gibt es ja nicht, wir hätten also eine völlig relaxte Zeit. Alle Freunde, die was mit Kritik machen, kämen nach und feierten mit uns das Happy End von Arbeit und Kritik. - Das ist der Entwurf zu einem Revolutionsdrama, das es mit der Durchgedrehtheit linker Statements zur Weltlage aufzunehmen versucht.

Ich meine nicht nur die ausgewiesenen Amerikahasser, auch ein paar Texte in Jungle World lesen sich, als seien sie in einem palästinensischen Flüchtlingslager entstanden, so unverhohlen hämen die Autoren über einen »Kamikaze-Volltreffer« und halluzinieren den »Zusammenbruch des Word Trade Center« - als ließe sich die antimoderne Botschaft des Massakers an Mensch und Material doch noch zu einem sinnvollen Beitrag linker Kapitalismuskritik umschreiben, als gäbe es irgendwas zu bejubeln, möglicherweise den Kollaps des Systems, den man ja selbst längst vorhergesagt hatte und der jetzt tatsächlich eingetreten ist, wenn auch in der leicht unpassenden Form eines zur Bombe umfunktionierten Passagierflugzeugs.

Dass es zur fatalen Logik eskalierender Situationen gehört, Haltungen, Argumente und Werte in feuerfeste Formen zu gießen, betonen die Autoren zwar mit Blick auf die patriotische Welle, die durch Amerika schwappt, sie kommen aber selbstverständlich nicht auf die Idee, dass das eigene stramme Bekenntnis zu der Überzeugung, dass der Kapitalismus jetzt abgeschafft gehöre, sonst könne man für gar nichts mehr garantieren, auf Leute, die die Welt für etwas komplizierter gebaut halten, genauso albern wirkt wie Bushs »God bless America«.

Dabei geht es nicht um Stilfragen, sondern darum, dass das Auftexten von linken Glaubensgrundsätzen dieselben desaströsen Effekte auf die Diskussion hat, die die Autoren im Hinblick auf den Gegner (USA/System) gerade noch beklagt haben.

Kein Fußbreit dem Westen? Nur wer die Zivilität von Gesellschaften schon immer für einen Scheißdreck gehalten hat, kann die augenblickliche Gemengelage von Motivationen und Positionen auf das übersichtliche Schema von der »Konkurrenz der Barbaren« bringen. (Dagegen wirkt Huntingtons Ausrufung des »Kampfes der Kulturen« ja schon wieder wie ein Kindergeburtstag.) Dass die fundamentalistische Bewegung mit dem Etikett »Barbaren«, das ihr Politik und Presse aufgeklebt haben, nicht eben differenziert beschrieben ist, ist zwar richtig, aber kein Grund, in einem Akt wahnsinniger Rückprojektion die ganze Welt zum ground zero zu erklären, ihr den Strom abzusperren und die Aufklärung, die Moderne und die Emanzipation auf den Müllhaufen zu werfen. Wer zwischen den »Barbaren der Ersten und der Dritten Welt«, also zwischen »Pest und Cholera« wählt, sei ein Idiot, schreibt Ralf Schröder in Jungle World. Sicher, aber vielleicht ist ja die Diagnose idiotisch. Die Rhetorik von der All-inclusive-Barbarei schafft die denkbar schlechtesten Voraussetzungen, um das gemeingefährliche Potenzial des Fundamentalismus auf der einen Seite zu bekämpfen und die liberalen Essentials der westlichen Gesellschaften auf der anderen Seite gegen die Sicherheitsfanatiker zu verteidigen.

Bin Laden halten Linke entweder für den Rächer der Enterbten oder (bestenfalls) für einen Witz aus dem Anekdotenschatz eines Peter Scholl-Latour. Ob Bin Laden direkt in den Anschlag verwickelt ist, weiß man nicht, und wie es aussieht, wird es auch am Ende einer Operation »Infinite Justice« niemand wissen. Dass er zu den geistigen Brandstiftern gehört, möchten linke Biedermeier nicht großartig skandalisieren.

Dabei stand es sogar in Jungle World, und auch - ich übersetze frei nach Carlos Kunze -, dass Solidarität mit den Terroristen nicht angebracht ist, weil eine Taliban-Stalino-Connection eine »Katastrophe für jede emanzipatorische Bewegung« wäre. Sorry, aber wenn das der state of the art ist, wenn das als Ergebnis kapitalismusanalytischer Großanalysen rauskommt, kann man sie sich doch genauso gut schenken, oder? Antiemanzipativ? Die Taliban? Eine sensationelle Enthüllung. Der fundamentalistische Gemischtwarenladen weiß jetzt, dass die Jungle World nicht beabsichtigt, den Jihad mit Kampftruppen zu unterstützen. Was seine Pläne nicht allzusehr durcheinander bringen dürfte.

Das wirklich Beunruhigende allerdings ist, dass die USA nach Ansicht linker Autoren dieser und anderer Zeitungen bei der Gesinnungsprüfung in den Fächern Wirtschaft und Betragen um einiges schlechter abschneiden als das Netzwerk extremistischen Terrors. Nicht nur, so behaupten es die Kommentatoren, dass Amerika seine Toten selbst zu verantworten habe, jetzt, so die sich einschleichende Argumentation, erpressten sie die Welt auch noch mit ihren selbstgemachten Opfern. Zum Beweis führen die Autoren Opfergruppen aus aller Welt an, denen keine Kamera beim Sterben zusah und die demzufolge anonym und unbeachtet geblieben seien.

Jeder Staat - und übrigens jede Gemeinschaft, jede Protestbewegung und jede Sekte - macht mit seinen Opfern Politik, so gut er kann, selbstverständlich auch die USA, und selbstverständlich betreiben sie mit den Toten von Manhattan und Washington auch Medienpolitik. Das Script zu diesem monströsen snuff movie haben sich allerdings nicht die USA und ihre Medien ausgedacht, die Vorlage dazu stammt mitnichten aus Hollywood, nicht CNN führte Regie, sondern die Attentäter verantworten Dramaturgie, Kamera, Setting und Timing eines obszönen Spektakels, das kein Wegschauen duldete. (Dass dieser »Film« ein »Blockbuster« wird, beruht auf dem Plan seiner »Produzenten«.) Die Tat gleicht weniger einem Bruce Willis-Filmchen, sondern der öffentlichen Hinrichtung der der Gottlosigkeit Bezichtigten. Nicht CNN, sondern das Attentatskommando zerrte die Broker und Kolumnistinnen des WTC zum Sterben vor die Kamera.

Wer jetzt behauptet, die Medienindustrie presse den Toten noch den letzten Mehrwert ab, hat die Lektion, die der Terror erteilen wollte - selbst ein toter Amerikaner sei ein arroganter Amerikaner - bereits verinnerlicht.

Heike Runge

 

Der Zusammenstoß der Barbareien

Die Flüsse fließen stets ins Meer zurück, und die kapitalistische Globalisierung schlägt auf ihr Zentrum zurück, auf das Zentrum ihres Zentrums. Wenn alles globalisiert ist, die Märkte nie schlafen und die westlichen Waren bis in die letzte Ecke der Welt vordringen, wie kann man sich dann wundern, dass auch Krieg und Terror niemanden verschonen?

Sicher, an den Attentaten in New York und Washington beeindrucken die Zahl der Opfer, der spektakuläre Charakter und der unbedingte Wille der Attentäter zum größtmöglichen Gemetzel. Aber im Grunde ist Amerika nur das passiert, was die weitaus meisten Länder in den letzten sechzig Jahren kennengelernt haben, von Guatemala bis Kambodscha, von Serbien bis Vietnam, vom Irak bis Biafra, um vom Zweiten Weltkrieg ganz zu schweigen.

So furchtbar 5 000 Tote sind, beschleicht einen doch das ungute Gefühl, dass Amerikaner, erst recht, wenn sie in Manhattan arbeiten, offenbar gleicher als andere sind. 100 000 tote Algerier, 200 000 Tschetschenen, eine halbe Million Sudanesen, eine Million Ruandesen, oder wieviel immer es auch waren, denn niemand hat sie gezählt, haben keine Schweigeminuten verdient und keine Unterbrechung der Fernsehprogramme.

Niemand sprach vom »schwersten Kriegsakt seit 1945« und keine europäische Hausfrau sank im Fernsehsessel zusammen, als die Russen Groszny plattmachten. Kein Deutscher und kein Italiener sagte, dieser Tag habe sein Leben verändert, als die Serben in Tuzla mordeten oder die Kroaten in der Krajna. Kein europäischer Präsident hielt Sonderansprachen im Fernsehen, als der Iran-Irak-Krieg auf seinem Höhepunkt stand.

Alle Toten verdienen Respekt, und es sind sicher nicht die Bushs und Putins, die glauben machen können, unschuldige Tote rührten sie zu Tränen. Aber die Erschütterung in aller Welt über die Opfer im World Trade Center erinnert ein wenig an die Sympathiewellen für Lady Diana oder andere Personen aus der Regenbogenpresse, während das untergegangene Immigrantenschiff und das bombardierte Flüchtlingslager niemanden interessieren.

Den Europäern gehen die Opfer in New York so nahe, weil sie nun nicht mehr glauben können, dass nur weit hinten in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen. Ein Tornado bewegt sich, und es ist Unsinn zu glauben, ewig in seinem unbewegten Zentrum leben zu können, glücklich lächelnd inmitten eines globalen Müll- und Trümmerhaufens. 5 000 Tote bei einem Anschlag hat es noch nie gegeben, aber bei »normalen« Bombenangriffen auf Großstädte sehr wohl.

Was hier die westliche Öffentlichkeit so empört, ist der besonders dreiste Bruch des staatlichen Gewaltmonopols, dass also Terroristen sich anmaßen, das zu tun, was jedem westlichen Staat erlaubt ist. Soll das heißen: recht geschieht es den Amerikanern, warum sollen sie es besser haben, um so mehr, als sie selbst oft Haupt- oder Mitschuldige an den Kriegen anderswo waren?

Nein. Aber es ist unbestreitbar, dass die Opfer nicht einem »religösen Fanatismus« zum Opfer gefallen sind, den man wie ein Unkraut aus dem Garten der Welt ausrupfen wird. Sie sind vielmehr von der Logik erschlagen worden, deren Hauptvertreter und -nutznießer das Land ist, in dem sie sich gerade befanden.

Es gibt nur eine Kraft, die es an Fanatismus und Vernichtungswut mit dem islamischen Fundamentalismus aufnehmen kann, und das ist der Marktfundamentalismus. Die Islamisten, so sehr sie auch selber an ihr idealisiertes Mittelalter glauben mögen, sind ja keinesfalls mit Pferden und Krummsäbeln wie zur Zeit der großen Eroberungen angerückt. Damals konnte man vielleicht vom »Zusammenstoß der Zivilisationen« sprechen.

Heute ist der Islamismus ein Zweig der inhaltslosen Weltvergesellschaftung über den Wert, die es nötig hat, sich lokal mit verschiedenen Pseudo-Inhalten zu bekleiden. Ein Millionär mit Bart, der angeblich in einer afghanischen Grotte sitzt, bekämpft Milliardäre ohne Bart, die in Wolkenkratzern sitzen, und bringt erst einmal deren Angestellte um - denn wenn sich die Könige raufen, müssen die Bauern Haare lassen.

In der letzten Zeit hat sich immer mehr derjenige Teil von Marx' Theorie bewahrheitet, in welcher er das Ende des Kapitalismus nicht auf das Einwirken eines äußeren Subjekts, nämlich des Proletariats, zurückführt, sondern auf die Entfaltung der Produktivkräfte selbst. Vielleicht haben wir es hier mit so etwas zu tun. Nicht der Islam als Gegensubjekt hat zugeschlagen, sondern eine entfremdete Gestalt der modernsten Produktivkräfte, beinah eine List der Unvernunft.

Alles scheint von den Organisatoren des Attentats benutzt worden zu sein: Computer und Internet, Steuerparadiese und Flugsimulatoren, Satellitentelephone und Börsenspekulation. Mit dem kleinen Unterschied, dass sie, im Unterschied zu den Fans der New Economy, die Grenzen der Wirksamkeit dieser Mittel kennen und im entscheidenden Augenblick die lasergesteuerte Bombe durch das Taschenmesser und das Satellitentelephon durch handgeschriebene Zettelchen zu ersetzen wissen.

Hochhäuser zu bauen, in denen 50 000 Menschen zusammengepfercht sind, und Attentate auf diese Hochhäuser zu planen, um so viele Opfer wie möglich zu erzeugen, gehört derselben geistigen Ebene an. Die Vorstellung eines Hochhauses, das unter keinen Umständen einstürzen könne - das behauptete nämlich sein Erbauer in einem alten Interview, das amerikanische Fernsehkanäle ausstrahlten, während die Türme einstürzten - gehört so zum Wesen des industriellen Kapitalismus wie die unsinkbare Titanic.

Der Gigantismus des Stahl gewordenen Kapitals fordert den Gigantismus derjenigen geradezu heraus, die ihren Erfolg an der Zahl der erlegten »Feinde« messen. Die weltweite Verbreitung idiotischer Videogames und von Katastrophen- und Science-Fiction-Filmen, offenbar die einzige Möglichkeit, um die Leere der Warengesellschaft auszufüllen, musste logisch den Versuch erzeugen, die Spielchen in Wirklichkeit umzusetzen.

Ohne die Allgegenwart der Medien wäre die Idee dieses Attentats vielleicht gar nicht entstanden, das offenbar sogar in seinen Verlaufsformen für das Fernsehen konzipiert worden ist. Einer der Stichwortgeber der kapitalistischen Moderne, Jeremy Bentham, verkündete als Ziel »das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl«. Das Endergebnis dieser mechanistischen Vorstellung ist dann der kalt kalkulierte Versuch, das größtmögliche Unglück der größtmöglichen Zahl zu erzeugen.

Noch ein Hinweis: Man weiß heute, dass die Regierung Roosevelt über die japanische Intention informiert war, Pearl Harbour anzugreifen. Sie ließ es geschehen, um die zaudernde amerikanische Öffentlichkeit zum Kriegseintritt zu bewegen. Bin Ladens Kopf wird vielleicht bald Bush auf einem silbernen Tablett präsentiert, und das wäre noch die beste Lösung. Ob damit die Wertvergesellschaftung aufhört, weitere Monstren zu produzieren, ist mehr als zweifelhaft. Dann könnte leider Italiens Staatspräsident, der alte Carlo Azeglio Ciampi, Recht haben, der in einer Fernsehansprache kurz nach den Attentaten die Bürger nicht »beruhigte«, sondern sich traurig fragte : »Wer weiß, was für schreckliche Gemetzel im Dunkeln noch vorbereitet werden.«

Anselm Jappe

 

Die neue Straßenverkehrsordnung

Karl-Heinz Stockhausen ist ein notorischer Irrer, der aus einem hermetischen Wahnsystem heraus denkt und redet und sich vielleicht nicht unbedingt zu politischen Themen äußern sollte. Dennoch hat er in seiner am meisten gescholtenen Passage nichts gesagt, was etwa Christoph Schlingensief nicht auch hätte sagen können, so man ihn denn befragt hätte (was wohlweislich bislang niemand getan hat): »Also, was da geschehen ist, ist natürlich - jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen - das größtmögliche Kunstwerk, was es je gegeben hat, dass also Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nie träumen könnten, dass Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch für ein Konzert, und dann sterben.«

Das ist sicher ein zynischer Gedanke, aber mitnichten ein abwegiger, wie es jetzt von den notorisch Betroffenen und Empörten dargestellt wird. In den ersten Minuten dachte ich genau dasselbe wie Stockhausen. Und gaben uns nicht die Fernsehbilder der ersten Tage wortlos Recht, indem sie sich in einer Endlosschleife am majestätischen Eintauchen der Jets in die glatte Fassade und am spektakulären Kollaps der Türme weideten?

Mut ist keine moralische Kategorie. Dennoch erschien es mir sofort daneben, als in den ersten Politikerstatements von einem »feigen Anschlag auf die zivilisierte Welt« gesprochen wurde. Nicht nur wegen der zivilisierten Welt, sondern vor allem wegen dem Wort »feige«. Wie kann etwas feige sein, bei dem man sein eigenes Leben so kalkuliert in die Wagschale bzw. aus dem Fenster bzw. in eine Fensterfront hinein wirft? Es führt eine direkte Linie von Wagner über Jünger zu Stockhausen.

Aber auch in der linken Rhetorik hat der heroische Tod mit langem Vorlauf seinen Platz. In dem Punkt berühren sich in der Tat die Extreme. Im RAF-Positionspapier »Konzept Stadtguerilla« das 1971 unter dem Tarnnamen »Die neue Straßenverkehrsordnung« erschien, heißt es: »Langfristigkeit und Kleinarbeit sind Postulate, die für die Stadtguerilla erst recht gelten, insofern wir nicht nur davon reden, sondern auch danach handeln. Ohne den Rückzug in bürgerliche Berufe offen zu halten, ohne die Revolution noch mal an den Nagel im Reihenhaus hängen zu können, ohne also auch das zu wollen, also mit dem Pathos, das Blanqui ausgedrückt hat: Die Pflicht eines Revolutionärs ist, immer zu kämpfen, trotzdem zu kämpfen, bis zum Tod zu kämpfen.«

Kein Wunder, dass heute ein nach ganz rechtsaußen abgeschmierter Horst Mahler, der an dem Text mitgewirkt haben soll, die Aktion rundheraus begrüßt. Die Anschläge könnten als so etwas gesehen werden wie die Konkretion des Konzeptes Stadtguerilla im globalen Bürgerkrieg. Und die Ziele - Pentagon, Camp David und World Trade Center - waren keine, die sich nicht auch eine revolutionäre Linke hätte aussuchen können.

Das gesamte Szenario mag den feuchten Träumen einer militanten Fraktion der Globalisierungsgegner entsprechen: Seattle, Prag, Genua, New York. Rache für Carlo Giuliani! First we take Manhattan, then we take Berlin! Warum funktioniert das nicht? Wieso war in den ersten Sekunden klar, dass dieser Anschlag nicht von links kommen kann, nicht als furioser Auftakt für die Weltrevolution zu verstehen ist?

Niemand spielte auch nur eine Sekunde lang mit dem Gedanken, hier seien besonders kreative Aktivisten des Westens am Werk gewesen. Der linke Terrorismus - selbst der der RAF - war immer so stark im westlichen Individualismus verwurzelt, dass ein Selbstmordkalkül darin nicht wirklich, nur auf dem Papier Platz hatte. Der eigene Tod im westlichen Terrorismus (Stammheim vielleicht ausgenommen, aber das stand auch so nicht im Plan) war immer nur ein Worst Case, nie eine Unausweichlichkeit. Im Prinzip ging es immer darum, mit einer wie auch immer vagen Chance eines Tages selbst die Scheuer einfahren zu können. Dass die Linke - heute mehr denn je - soweit westlich verweichlicht ist, dass ihr niemand eine derartige Wahnsinnstat zutraut, ist gut und nicht schlecht.

Sie kann sich zu dem bekennen, was sie sowieso längst ist: postheroisch. Nur von einem immer noch virulenten Größenwahn und bestimmten Allmachtsphantasien wird man sich endgültig verabschieden müssen.

Holm Friebe

 

Schlimmer als das Kapital

Es war nur eine kleine Notiz, die nach den Anschlägen auf die USA in der Meldungsflut fast unterging. In Israel werde nach den Terror-Angriffen in New York, hieß es im Onlinedienst der Tageszeitung Ha'aretz in der vergangenen Woche, wieder mit der Verteilung von Gasmasken begonnen. Sie liegen seit dem ersten Golfkrieg 1991 kostenlos für die Bevölkerung bereit.

Damals drohte der irakische Diktator Saddam Hussein im Fall eines US-Angriffs mit der Vernichtung des »kleinen Satans«. Wenn schon den USA militärisch nicht beizukommen sei, dann sollten wenigstens ihre jüdischen Verbündeten büßen. Für einige Wochen bedrohten irakische Scud-Raketen das Land und zum ersten Mal seit dem Ende des Nationalsozialismus schien ein Szenario wieder möglich, in dem Juden mittels Gas ermordet werden. Schon damals stieß diese Gefahr in Deutschland und Europa auf erstaunliche Ignoranz. Tausende gingen auf die Straße, um gegen den Krieg zu protestieren - nicht jedoch gegen die Vernichtungspläne Husseins, sondern gegen den Feldzug der USA.

Auch heute wird nach den Anschlägen viel über die Risiken eines möglichen US-Gegenschlags spekuliert, die gefährdete Lage Israels aber ist den zahllosen Experten nicht der Rede wert. Und auch die meisten linken Intellektuellen halten es nicht für nötig, das Land und seine Bewohner in ihren Analysen auch nur zu erwähnen.

Diese Ignoranz ist umso erstaunlicher, da die Intention des Anschlags auf das World Trade Center offensichtlich ist. New York gilt nicht nur als Symbol für die globale Macht des Kapitals, sondern zugleich für den jüdischen Einfluss, dem es angeblich unterliegt. In antisemitischen Verschwörungstheorien steht die Wall Street als Beispiel für jüdische Dominanz schlechthin, von hier aus beherrschten die Juden das globale Finanzwesen und steuerten die US-amerikanische Politik. Der Terror galt dem verhassten jüdischen Amerika, und der Wunsch der islamistischen Fundamentalisten, es zu vernichten, ist identisch mit ihrem Verlangen, die Juden in Isreal endlich ins Meer zu treiben.

Doch statt sich mit dieser Bedeutung des Anschlags zu beschäftigen, spricht auch die wertkritische Linke lieber davon, dass der Terror - bei allem Bedauern über die zivilen Opfer - keinen Unschuldigen getroffen hätte. Frei nach dem Diktum Max Horkheimers, dass, wer über den Kapitalismus nicht reden wolle, auch über den Jihad schweigen solle, wird hier der barbarische Akt als Folge einer barbarischen Welt erklärt, die vollständig dem Zwang der Verwertung unterworfen ist und dadurch ihre eigenen Monster produziere. In diesem Sinne sind der Terror und die kapitalistischen Verhältnisse nur zwei Seiten derselben Medaille, und verwunderlich ist eigentlich nur, dass die Katastrophe nicht schon viel früher eingetreten ist.

Wer daraus die Schlussfolgerung zieht, dass die Linke sich auf keine Seite zu schlagen braucht, macht es sich zu einfach. Denn in diesem Falle ist der Kapitalismus seinen Feinden vorzuziehen. Deren Intentionen basieren allein auf dem Ressentiment und dem Wunsch, die Welt in ein vermeintliches Paradies zu verwandeln, in dem es keine gottlosen Wesen und vor allem keine Juden mehr gibt. In einer solchen Welt wäre der Gedanke der Emanzipation endgültig abgeschafft. Das muss verhindert werden. Wenn nötig, auch mit Gewalt.

Anton Landgraf

 

Sleeper werden

Die meisten Deutschen - Ausnahme: einige Nazis - verurteilen die Terroranschläge in den USA natürlich. Doch mit jedem Tag, der seit dem 11. September vergangen ist, wächst die Zahl derer, die diesem Urteil ein großes »Aber« hinzufügen.

Dieses »Aber« geht etwa so: Die USA mögen sich doch bitte bei einem Gegenschlag zurückhalten. Man mahnt die Weltmacht, auf den Terror »politisch« zu reagieren (als ob militärische Aktionen keine Politik wären), man fordert den Dialog statt Konfrontation. »So besonnen, so zurückhaltend und so kompetent in Sachen Terrorismus-Bekämpfung«, fasst Henryk M. Broder in einem Spiegel-Online-Artikel die Stimmungslage zusammen, »hatte man noch nie so viele Deutsche erlebt.«

Das Bemerkenswerte an diesem Phänomen: Die Deutschen, die jetzt Besonnenheit anmahnen, sind vielfach dieselben, die die Bombardierung Jugoslawiens eher bedenkenlos befürwortet haben. Doch im Jugoslawienkrieg waren ja auch Deutsche zu keiner Zeit von irgendwelchen Vergeltungsschlägen bedroht. Das könnte jetzt anders werden.

Aber es gibt noch andere Gründe. Einer ist auch (aber keineswegs nur) unter den so genannten Linken verbreitet und lautet: Der global operierende amerikanische Imperialismus zerstört die Wurzeln, die Identität, die Kultur der Völker; weil die Amerikaner selbst kein Kulturvolk sind, kennen sie auch keinen Respekt vor den anderen Kulturen. Sie sind und bleiben die neuen Barbaren. Der Unterton dieses Ressentiments: Weil die Amis so sind, dürfen sie sich über den Terror letztlich nicht wundern. Wenn man's genau nimmt, sind sie sogar selbst an ihm schuld. Und so kommt es, dass bei den Anschlägen wohl auch manch »Linker« unterschwellig Genugtuung empfunden hat.

Dazu aber besteht kein Anlass. Selbstverständlich sind die USA eine imperialistische Weltmacht, was sonst. Aber wenn etwas am amerikanischen Imperialismus positiv zu bewerten ist, dann ist es genau das amerikanische Element: die globale Zerstörung ethnischer und religiöser Identität, die Vernichtung des (oft gewalttätigen) Idylls der Doofen und Zurückgebliebenen.

Dagegen sind die Aktionen der islamistischen Terroristen - die objektiv alle Merkmale faschistischer Anschläge tragen - verzweifelte Rückzugsgefechte derjenigen, die diese Identität bewahren wollen. In den islamischen Ländern geht es aber wohl den wenigsten, die diesen Terror unterstützen oder mit ihm sympathisieren, um diese Identität selbst. Sie erhoffen sich vom Sieg der Islamisten schlicht ein besseres Leben. Auch materiell.

Allerdings gilt wohl auch: Wenn ihnen der Kapitalismus dieses bessere Leben ermöglichen würde, dann fänden die Islamisten in diesen Ländern kaum eine Basis. Man muss wirklich kein Marxist sein, um zu sehen: Dazu ist der Kapitalismus nicht in der Lage. Zwar bringt er einen ungeheuren Wohlstand hervor, aber eben nur für einen kleinen Teil der Menschheit. Deshalb bleibt es richtig, ein globales Wirtschaftssystem zu fordern, in dem der produzierte Reichtum gerecht verteilt wird. Ziemlich sicher entzöge dieses System ethnisch-religiösen Erlösungskonzepten den Boden. Der altmodische Name für ein solches System lautet immer noch: Sozialismus.

Nur: Um die Sache des Sozialismus steht es momentan schlecht. Kaum einer will mehr etwas mit ihm zu schaffen haben. In der so genannten ersten Welt nicht, denn hier verteidigt nicht nur der Kapitalist seine Profite. Auch der Student, der Journalist oder der Sozialhilfeempfänger mag für sein Ikea-Regal nicht den Preis zahlen (vermutlich das Fünffache), der den Regalproduzenten in der dritten Welt einen angemessenen Lohn garantierte. Die Gründe, weshalb der Sozialismus in der Dritten Welt momentan auf Anhänger verzichten muss, sind vielfältig. In den arabischen Ländern liegt es u.a. daran, dass man es hier bereits mit staatssozialistischen Konzepten versucht hat. Man erinnere sich: Erst nachdem sie gescheitert oder von außen zu Fall gebracht worden waren, schlug die eigentliche Stunde der Islamisten.

Angesichts dieser Situation bin ich - an diesem Punkt muss man beginnen, von sich selbst zu sprechen - ratlos. Ziemlich sicher ist zwar, dass ein Krieg der USA (plus einiger Verbündeter) gegen Afghanistan, die Taliban, die Terroristen oder wen auch immer - eher neues Elend hervorbringen wird als etwas Gutes. Aber ich mag aus den genannten Gründen nicht gegen diesen Krieg auf die Straße gehen - noch nicht einmal gegen eine eventuelle deutsche Beteiligung. Die Situation sähe anders aus, gäbe es irgendwo in der Dritten Welt - in diesem speziellen Fall in ihrem islamischen Teil - Verbündete, das heißt: eine nicht ethnisch motivierte, nicht religiöse und nicht antisemitische soziale Bewegung. Doch das ist nicht der Fall. Für den Krieg aber mag ich auch nicht sprechen, denn er bekämpft nur die Symptome des Elends, nicht seine Ursachen.

Was also kommen wird, sind Krieg und noch größeres Elend irgendwo in der Dritten Welt. Und hier? Wahrscheinlich die Einschränkung demokratischer Rechte, eine noch stärkere Gleichschaltung der Medien, noch mehr Rassismus, das Übliche eben, aber in noch nie erlebter Qualität. Vielleicht auch ein paar Anschläge.

Tun kann man dagegen im Moment wenig, außer vielleicht der Propaganda - speziell der deutschen - kein Wort zu glauben, zynische Witze zu machen, bei nichts mitzulaufen und keine Angst vor dem zu haben, was da kommen wird. Und abwarten. Selbst zum Sleeper zu werden und die Entwicklung genau beobachten. Kann ja sein, dass der Krieg irgend etwas hervorbringt, zu dem man ja sagen kann. Wahrscheinlich ist es nicht.

Christian Y. Schmidt

 

Die Welt als Kaserne und Gefängnis

Was ist davon zu halten, dass die Bundesregierung einerseits den USA jegliche Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus zusagt, aber bereits im Nebensatz versucht, mäßigend einzuwirken und vor einem »Vergeltungsschlag« warnt? Deutet sich damit bereits an, dass die Unterstützung für die Verbündeten nur verbaler Natur sein wird? Und sind die Solidaritätskundgebungen für Muslime in Deutschland Ausdruck der versteckten Sympathie der Deutschen für die Attentäter von Manhattan, womöglich gar Ausdruck des deutschen Antisemitismus? Oder verhält sich die deutsche Bevölkerung letztlich auch nicht anders als alle anderen Europäer? Ist es nicht sympathisch, wenn die Deutschen von sich behaupten, Amerikaner zu sein, und mal nicht von ihrem Stolz faseln, Deutsche zu sein?

Wenn führende PolitikerInnen der Bundesrepublik die USA zur Mäßigung aufrufen und vor einer Verteufelung des Islam warnen, dann hätte man sich ähnlich moderate Stimmen auch im Kosovo-Krieg vor zwei Jahren gewünscht. Damals war jedoch nur vom Schlächter aus Belgrad und von der Verblendung seiner blutrünstigen Untertanen die Rede. Die gemäßigten Töne, die heute angeschlagen werden, lassen durchaus die Vermutung zu, dass man nicht ganz so entschieden an der Seite der USA und Israels steht, wie man vorgibt, und dass die Unstimmigkeiten zwischen den Verbündeten momentan nur verdeckt werden.

Gleichzeitig forciert die deutsche Regierung wegen der Anschläge den Ausbau des Polizeiapparats, der Sicherheits- und Geheimdienste, sie will zukünftig Militär im Inneren einsetzen und zieht zudem weitere Verschärfungen des Ausländer- und Asylrechts in Erwägung. Von deutschen Hardlinern wird der Ausbau des autoritären Sicherheitsstaates gefordert, gerade so, als hätten die Anschläge den Potsdamer Platz in Berlin und nicht Manhattan in Schutt und Asche gelegt. Geheimdienste, die noch vor zwei Wochen überhaupt nichts von Anschlägen ahnten, wissen nun plötzlich, dass in Deutschland 100 »Schläfer« nur darauf warten, sich zusammen mit irgendwas anderem in die Luft zu sprengen.

Angesichts der realen Bedrohung durch die radikal-islamistischen Terroristen mögen das alles Nebenwidersprüche sein. Doch wenn nun denjenigen, die Schilys Sicherheitskonzepte und seine krude Ausländerpolitik kritisieren und vor überzogenen militärischen Schlägen warnen, vorgeworfen wird, das Geschäft von Taliban, Hamas und Dschihad zu betreiben und die Gefahr des radikalen Islamismus wegen der eigenen latent antisemitischen Haltung zu verharmlosen, dann wird es absurd. Jede mäßigende Stimme wird in dieser Logik als Unterstützung für die Mörder von Manhattan denunziert. Jeder, der sich weiterhin gegen Abschiebungen und rassistische Sondergesetze einsetzt, gerät in den Verdacht, Kämpfer des Heiligen Krieges ins Land holen zu wollen.

Dabei ist es unwahrscheinlich, dass mit der Einführung bewaffneter Flugbegleiter »wie in Israel« (so der bayerische Innenminister Günther Beckstein) sich in Zukunft Anschläge völlig ausschließen lassen. Es wird Selbstmord-Attentäter auch nicht von ihrer Tat abhalten, wenn in ihrem Ausweis ihr Fingerabdruck verzeichnet ist. Und was ist eigentlich damit gemeint, dass künftig mit der Rasterfahndung »unauffällig in Deutschland lebende Ausländer« erfasst werden sollen? Sind nun alle unauffällig in Deutschland lebenden Personen zu potenziellen Kämpfern bin Ladens geworden? Soll die so genannte offene Gesellschaft, die nie wirklich offen war für alle, verteidigt werden, indem man sie abschafft?

Selbst wenn alle Flugzeuge eines Tages so sicher sein sollten wie Fort Knox, wird niemand garantieren können, dass nicht ein radikaler Islamist oder ein deutscher Neonazi in einem Kernkraftwerk sitzt und den falschen Knopf drückt oder als Arbeiter bei Bayer Leverkusen ein bisschen Nervengift in das Grundwasser kippt. Es kann nicht die Antwort auf die Massaker sein, die Welt in ein Großraumgefängnis zu verwandeln.

Glücklicherweise reagierte die US-Regierung bisher besonnener als so mancher brandneue und selbst ernannte Freund der Nato hierzulande. Beispielhaft mag hierfür eine Erklärung der Zeitschrift Bahamas stehen. »Hinter dem Ruf nach Frieden verschanzen sich die Mörder!« ist ihre Stellungnahme nach den Anschlägen in den USA überschrieben. Darin wird der Antirassismus zum »ideologischen Überbau« für den »Verrat an der Aufklärung« erklärt, den Alt-68er mit ihrem »Multi-Kulti-Gewese« betrieben. Aus der Sicht der Bahamas-Redaktion »kommt momentan dem Koran eine ähnliche Rolle zu wie seinerzeit Hitlers Machwerk ðMein KampfЫ. Und die amerikanische Verfassung ist wohl das neue Kommunistische Manifest. Eine derart deutsche Projektion von Anti-Deutschen dürfte nicht mehr zu überbieten sein. Fällt diesen Leuten eigentlich ihr eigener Revisionismus noch auf?

Es ist scharf zu kritisieren, wenn linke Gruppen nun in den üblichen Anti-Amerikanismus verfallen und eilig zu Friedensdemonstration aufrufen, ohne die Grundlage der Situation, nämlich die mörderischen Anschläge, auch nur im Ansatz zu reflektieren. Jene aber, die glauben, der Bedrohung durch den radikalen Islamismus sei nur durch Flächenbombardements und den Ausbau des autoritären Staates zu begegnen, seien auf das verwiesen, was Hannah Arendt in ihrem 1970 veröffentlichten Essay »On Violence« geschrieben hat: »Man kann Macht durch Gewalt ersetzen, und dies kann zum Siege führen, aber der Preis solcher Siege ist sehr hoch; denn hier zahlen nicht nur die Besiegten, der Sieger zahlt mit dem Verlust der eigenen Macht.«

Stefan Wirner

 

Keine Träne für New York?

Das Baruch College in New York City, wo ich seit einigen Jahren unterrichte, liegt einen Steinwurf von der Kaserne des 69. Infanterieregiments der New Yorker Nationalgarde entfernt. Der festungsartige Steinbau aus dem 19. Jahrhundert dient zur Zeit als Informationsstelle für Angehörige der Vermissten. Vor ein paar Tagen haben hier einige Menschen damit begonnen, neben dem Eingang Flugblätter, Familienfotos und Karteikarten anzukleben, auf denen zu lesen ist: »Missing.« »Please help.« »Has anyone seen our daughter?« »We're scared.« »War.« »No war.« Mittlerweile ist die gesamte Fassade, die sich immerhin mehr als 100 Meter lang hinstreckt, mit Tausenden solcher Botschaften fast vollständig bedeckt - eine schwer zu verkraftende Dokumentation der Katastrophe, die über diese Stadt an einem sonnigen Herbstmorgen hereingebrochen ist.

Derzeit mangelt es nicht an Empfehlungen, wie wir die Ereignisse vom 11. September denn nun zu verstehen haben. Robert Kurz legt uns in seinem Artikel »Totalitäre Ökonomie und Paranoia des Terrors« (www.nadir.org) folgende Interpretation nahe: »Alles, was heute geschieht, ist unmittelbar oder vermittelt ein Produkt des zwanghaft vereinheitlichten Weltsystems. Die One World des Kapitals ist selber der Schoß, der den Mega-Terror gebiert. Es war die militante Ideologie des westlichen Totalitarismus, die den ebenso militanten neo-ideologischen Wahnvorstellungen den Weg geebnet hat.« Im Klartext: selber Schuld.

Was ist zu tun, um eine Wiederholung der Ereignisse vom 11. September zu verhindern? Für Leute wie mich, die hier leben und arbeiten, ist das keineswegs eine akademische Frage. Gibt es irgendein Mittel, unser Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit auch nur annähernd zu sichern? Dazu Robert Kurz: »Es gibt nur einen Weg, dem Terror wirklich den Nährboden zu entziehen: die emanzipatorische Kritik am globalen Totalitarismus der Ökonomie.«

Es steht nicht zu erwarten, dass Herr Kurz uns demnächst einmal persönlich hier in New York eingehender erläutern wird, wie wir den Angriff auf unser Leben und unsere Lebenszusammenhänge durch eine »emanzipatorische Kritik am globalen Totalitarismus der Ökonomie« bewältigen können. Zu vermuten ist vielmehr, dass er uns als Marionetten einer verlogenen Trauerkultur bereits längst abgeschrieben hat.

Keine Träne für New York also? Eine definitive Antwort bleibt Kurz schuldig. Ralf Schröder dagegen ist wenigstens ehrlich. An einem Tag, an dem immer noch mehr als 5 000 tote Menschen unter den Trümmern liegen, ermuntert er seine Leser, »eine verspätete Schweigeminute für Che Guevara abzuhalten«.

Warum und unter welchen Umständen Robert Kurz, Ralf Schröder und ihresgleichen die Fähigkeit abhanden gekommen ist, Menschen wie uns mit einem Funken Verständnis und Mitgefühl für unseren Schmerz und unsere Überlebensängste gegenüberzutreten - darüber kann man nur spekulieren. Politisch waren deutliche Anzeichen dieses Defizits bereits nach dem Bombenattentat von Oklahoma City erkennbar, das viele, zu viele Linke kühl und manchmal hämisch mit der Diagnose ad acta legten, »Amerika« habe sich diese Suppe ja nun wirklich selber eingebrockt.

Die grotesken Karikaturen unserer Stadt, Gesellschaft und Lebensweisen, die sich von bürgerlichen und radikalen Medien vermittelt tief in die Gehirne vieler Menschen eingefressen haben, tragen vermutlich das ihre zu den oft eigentümlich aseptischen Reaktionen auf die Ereignisse vom 11. September bei. Angesichts dieser ideologischen Rahmenbedingungen kann sich ein ganz normaler Linker ernsthaft fragen, was er denn mit Brokern, Kolumnistinnen und den als moralisch enthülst, potenziell blutrünstig wahrgenommenen Überlebenden überhaupt zu schaffen haben soll. Die offensichtliche Schwierigkeit, auf den Seiten dieser Zeitschrift und anderswo eine eindeutige Antwort auf diese Frage zu formulieren, wirft ein grelles Licht auf die menschliche und intellektuelle Verelendung der deutschen Linken.

Potenziell beunruhigende Fragen nach den Moralkategorien von Terroristen aus der Dritten Welt werden präventiv mit Verweisen auf die kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse vom Tisch gefegt. Derartige Argumentationsmuster waren bekanntlich in der Palästina-Solidarität der siebziger Jahre gang und gäbe. Heute macht dieses recht durchsichtige Ausweichmanöver noch weniger Sinn als damals, vor allem deshalb, weil es das jüngst so gern zitierte »historische Subjekt« und die »Politik in der ersten Person« völlig von der Bildfläche verschwinden lässt.

Die wortreichen Belehrungen über die systemische Determiniertheit unmenschlichen Handelns münden für ihre Verfasser in genau dem moralischen Bankrott, den Marx einstmals der bürgerlichen Gesellschaft attestiert hat.

Sowohl diejenigen, die unsere Stadt am 11. September verwüstet haben, als auch ihre überlebenden Mitkämpfer, die uns derzeit nach dem Leben trachten, sind mitnichten seelenlose Roboter, die von irgendwelchen Systemen auf Mord programmiert worden sind. Sie sind vielmehr genau wie du und ich teilautonome Individuen, denen trotz aller Strukturzwänge immer noch Handlungsspielräume offenstehen.

Die Täter hatten eine Wahl, und sie haben sich für den Massenmord entschieden. Wer sich dies nicht eingesteht, sollte die logisch zwingende Konsequenz ziehen und unterdrückte Menschen allesamt als potenzielle Killer kategorisieren.

Thomas Heinrich

Der Autor ist Professor für amerikanische Wirtschaftsgeschichte am Baruch College in New York.