Auseinandersetzung um die Sharia in Nigeria

Das Gesetz der Steine

Die schwangere Nigerianerin, die wegen »unehelichen Geschlechtsverkehrs« gesteinigt werden sollte, wurde vorerst freigesprochen.
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Können sich religiöse Gruppen selbst diskriminieren? »Ein Muslim sollte für die gleiche Straftat nicht einer härteren Bestrafung ausgesetzt sein als andere Nigerianer. Gleichheit vor dem Gesetz heißt, dass Muslime nicht diskriminiert werden sollten«, schrieb der nigerianische Justizminister und Generalstaatsanwalt Kanu Godwin Agabi vorige Woche in einem Brief an die Gouverneure mehrerer nigerianischer Bundesstaaten mit überwiegend muslimischer Bevölkerung.

Die Antwort kam prompt. Muslime werden, sagte Ahmed Sani, Gouverneur des Bundesstaates Zamfara der BBC, keineswegs durch die Androhung der Todesstrafe für Vergehen diskriminiert, die für andersgläubige Nigerianer nicht existieren. Dem Justizminister mangele es an religiöser Toleranz. »Wir sollten uns gegenseitig erlauben, unsere Religion zu praktizieren. Der Islam ist ein Glaube, und nur die Gläubigen können entscheiden, ob etwas falsch oder richtig ist.« Die Einführung der islamischen Sharia widerspreche dem nigerianischen Recht nicht, vielmehr sei sie ein Ausdruck der in der Verfassung garantierten Religionsfreiheit. Im übrigen reagiere der Justizminister offenbar nur auf internationale Proteste aus nicht muslimischen Ländern gegen die Verurteilung von Safiya Husseini. Deren Einmischung aber sei unangebracht.

Die 35jährige Safiya Husseini wurde im vergangenen Oktober von einem lokalen Sharia-Gericht wegen »unehelichen Geschlechtsverkehrs« zum Tod durch Steinigung verurteilt. Im ersten Verfahren gab die geschiedene Frau an, vergewaltigt worden zu sein, und verlangte von dem Beschuldigten Unterhaltszahlungen für ihr Kind. Dieser gestand zwar drei Polizisten die Tat, doch das Gericht verlangte entsprechend den Bestimmungen der Sharia vier übereinstimmende Zeugenaussagen und sprach ihn frei. Das Sharia-Gericht im Bundesstaat Sokoto befand Husseini wegen ihrer Schwangerschaft für schuldig.

Husseini erklärte im Berufungsverfahren, von ihrem geschiedenen Mann schwanger geworden zu sein, was nach der Sharia legal wäre. In der vergangenen Woche verhandelte ein Berufungsgericht den Fall. Der Anwalt der Frau argumentierte, dass die Sharia nicht angewendet werden könne, da der Zeitpunkt der Zeugung vor der Einführung des islamischen Rechts in Sokoto gelegen habe. Rückwirkend könne aber kein Gesetz angewendet werden. Die Richter befanden, über diesen Sachverhalt nachdenken zu müssen. Am Montag sprachen sie Husseini frei.

Das Verfahren hatte nationale und internationale Proteste von Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, Regierungen sowie der Europäischen Union ausgelöst. Der spanische Außenminister Josep Pique sagte, dass die EU »so viel diplomatischen und politischen Druck wie möglich ausüben wird, um diesen Akt extremer Grausamkeit, der absolut abstoßend und absolut inakzeptabel ist, zu verhindern«.

Die auf diese Art gebündelte - und angesichts der Verhältnisse in Nigeria wundersam plötzliche - Kritik meinte Justizminister Agabi, als er in der vergangenen Woche sagte, er erhalte täglich Hunderte von Protestbriefen. Der erwähnte Brief des Ministers an die muslimischen Gouverneure, in dem er Teile der Sharia als verfassungswidrig bezeichnet, ist der bislang schärfste Einspruch der Zentralregierung unter Präsident Olusegun Obasanjo gegen die Einführung des islamischen Rechts. Bislang hatte Obasanjo davon gesprochen, die Rechtsfrage sei politischer und weniger religiöser Natur, aber von konkreten Maßnahmen abgesehen.

Die Auseinandersetzung um die Sharia ist ein Mittel zur Politisierung religiös-ethnischer Identitäten geworden. Muslimische Politiker aus den Provinzen verwahren sich dabei gegen die Einmischung von Andersgläubigen in ihre Angelegenheiten. Eine offizielle Begründung für die Einführung des islamischen Rechts war neben der religiösen Dimension vor allem der weitgehende Zusammenbruch des nigerianischen Rechtssystems in den Jahren der Militärdiktatur. Die Polizeikräfte sind schlecht ausgerüstet und wegen ihres niedrigen und zudem unregelmäßig ausgezahlten Lohns anfällig für Korruption.

Angesichts der steigenden Kriminalität kam es in verschiedenen Landesteilen zur Bildung von Bürgerwehren, die das Recht in den Stadtvierteln selbst in die Hand nahmen. Nach anfänglicher Unterstützung durch die Bevölkerung entwickelten sich viele dieser bewaffneten und vom Staat verbotenen Gruppen selbst zu kriminellen Netzwerken. In vielen der bewaffneten Auseinandersetzungen der letzten zwei Jahre spielten die Bürgerwehren ein wichtige Rolle. Inzwischen ist in mehrere Bundesstaaten die Armee eingerückt, um die öffentliche Ordnung wieder herzustellen. Seitdem übernimmt sie vielerorts polizeiliche Aufgaben, geriet jedoch nach einem Massaker an der Zivilbevölkerung Ende vergangenen Jahres selbst in den Verdacht, Spannungen zu schüren.

In dieser Situation stieß die Einführung des harten Strafrechts der Sharia im Norden des Landes auf keinen hörbaren Widerspruch von Muslimen. Doch inzwischen sprechen auch Medien in den muslimischen Bundesstaaten davon, dass die Verhängung körperlicher Strafen über einfache Diebe und »ehebrecherische« Frauen im eklatanten Widerspruch zur allgemeinen Straffreiheit für Politiker und Geschäftsleute steht. Der muslimischen Elite wird vorgeworfen, fragwürdige religiöse Dogmen zum Erhalt ihrer Privilegien in ihren selbst im nigerianischen Vergleich armen Provinzen zu benutzen.

Seitdem Olusegun Obasanjo 1999 nach 14 Jahren Militärdiktatur zum Präsidenten gewählt wurde, haben sich die Spannungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen so verschärft, dass einzelne Beobachter von einem Bürgerkrieg sprechen. Tatsächlich wurden während Obasanjos Amtszeit schätzungsweise 10 000 Menschen bei bewaffneten Zusammenstößen getötet. Die politischen Eliten, die diese Auseinandersetzungen anheizen, verteilen sich dabei auf die verschiedenen Regionen des Landes. Obasanjo selbst kommt aus dem mehrheitlich christlichen Südwesten, wurde aber bei seiner Wahl von einer Koalition des hauptsächlich muslimischen Militärestablishments unterstützt.

Doch diese Koalition ist längst zerbrochen, und schon jetzt bereitet sich das Land auf die Wahlen im Jahr 2003 vor, von deren Verlauf wohl das Überleben der parlamentarischen Demokratie abhängt. Während eines Treffens der wichtigsten politischen Gruppen im Februar beklagte Obasanjo, dass einige Politiker die Gewalt förderten. »Wir alle haben die Pflicht, den Wahlprozess vor dem zerstörerischen Einfluss der Gewalt zu schützen, da sonst das gesamte demokratische System wankt und schließlich kollabieren wird.« Doch seine Kritiker beklagen, dass auch er selbst nicht unschuldig an gewalttätigen Auseinandersetzungen innerhalb seiner Partei PDP sei, die gespalten ist in Anhänger und Gegner des Präsidenten.

Den Hintergrund der Machtkämpfe bildet die ökonomische Situation des Landes. Da Landwirtschaft und Industrieproduktion seit Jahren stagnieren, stammen die wesentlichen Einnahmen des Landes aus der Öl- und Gasförderung, die von der Regierung zusammen mit westlichen Konzernen kontrolliert wird. »Die nigerianische Politik ist heute an einem Scheideweg. Entweder entwickelt sie sich in Richtung einer populäreren Demokratie oder zu einem Mafia-Konglomerat«, urteilte der Sozialwissenschaftler und frühere Minister Uche Chukwumerije in einem Interview mit der oppositionellen Tageszeitung Vanguard.

Obasanjo selbst hat seine erneute Kandidatur zwar noch nicht bestätigt, doch scheint er sich auf den Wahlkampf vorzubereiten. Anfang März beendete er Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über ein Strukturanpassungsprogramm. Der IWF hatte zuvor das Defizit des noch immer im Parlament verhandelten Staatsbudgets für das Jahr 2002 beklagt. Auf dem Uno-Entwicklungsgipfel in Mexiko übte Obasanjo wegen der schleppenden Entschuldung der so genannten Dritten Welt außerdem starke Kritik am IWF und an der Weltbank. Nun soll ein inländisches Sparprogramm entwickelt werden, das den »politischen, ökonomischen und sozialen Realitäten« Nigerias entspricht.

Dieser riskante Schritt, der zur Aberkennung der Kreditwürdigkeit des Landes durch den IWF führen kann, soll Obasanjo wohl die Möglichkeit geben, freier über die Verteilung staatlicher Mittel an seine Unterstützer zu bestimmen. Die Ankündigung eines internationalen Konsortiums unter Führung des britischen Shell-Konzerns in der vorigen Woche, über sieben Milliarden US-Dollar in die Öl- und Gasförderung in Nigeria zu investieren, kommt ihm wahrscheinlich wie gerufen.