Antisemitismus in Frankreich

La haine des antijuifs

In Frankreich bedrohen Neofaschisten und Jugendliche aus arabischen Einwandererfamilien die jüdische Bevölkerung.

In der Jugendsprache der Banlieues, der Trabantenstädte der französischen Ballungszentren, werden die Juden »feujs« genannt, die Frauen »meufs« und die Bullen »keufs«. Bezeichnenderweise ist »Les antifeujs« der Titel des »Weißbuchs« über die Aggressionen gegen Juden und Jüdinnen in Frankreich, den die jüdische Studentenunion UEJF und die Antirassismusorganisation SOS Racisme Mitte März der Öffentlichkeit vorstellten.

In dem Buch werden 405 antijüdische Aktionen aufgeführt, die zwischen September 2000 und Ende Januar dieses Jahres begangen wurden. Die Bandbreite der Taten reicht von eindeutig antisemitisch motivierten Beleidigungen über das Anspucken von Personen bis hin zum Werfen von Steinen oder Brandsätzen auf Synagogen. Die meisten Übergriffe fanden im Herbst 2000 statt, dem Zeitpunkt des Beginns der palästinensischen Intifada im Nahen Osten. Seitdem ist die Zahl der Übergriffe zwar zurückgegangen, dennoch bleibt das Niveau antijüdischer Attacken auf dem höchsten Stand seit 1990, dem Jahr, in dem französische Neofaschisten den jüdischen Friedhof von Carpentras schändeten und so eine ganze Reihe von Nachahmungstätern animierten.

Wie die Herausgeber in ihrem Vorwort schreiben, wollen sie mit dem »Weißbuch« und dem gewählten Titel keine Parallele zum organisierten Antisemitismus des 20. Jahrhunderts ziehen, dennoch stellen die antisemitischen Übergriffe eine wachsende Bedrohung für die Jüdinnen und Juden in Frankreich dar.

In der letzten Februarwoche prangte ein Davidstern in gelber Farbe an der Vorderfront des Ladens von Sheila Abikzir. Nur dies. Keine Inschrift, kein Bekennerschreiben und kein sonstiger Text waren zu finden. Doch wurde damit alles ausgedrückt, was die Täter mitteilen wollten.

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich das je erleben muss«, erklärte Abikzir fassunglos der Jungle World. Seit 18 Jahren gehört ihr das Spielwarengeschäft im eher bürgerlichen und beschaulichen 15. Pariser Bezirk. Die französisch-ägyptische jüdische Familie war 1956 aus Alexandria nach Paris gekommen. Nichts an dem Geschäft für Kinderspielzeug, das »Rose et Bleu (Rosa und Blau)« heißt, lässt erkennen, dass es jüdische Inhaber hat. Der Name nicht, die Schaufenster nicht und die Einrichtung des Ladens auch nicht. Der Sinn der Tat, die Stigmatisierung einer nicht durch äußere Merkmale gekennzeichneten Bevölkerungsgruppe, ist offenkundig.

Auf die Frage nach den Tätern zögert Abikzir einen kurzen Moment. Dann meint sie, ihrer Ansicht nach handele es sich um Rechtsextreme. Zwar hätten Jugendliche aus arabischen Einwandererfamilien in den letzten Monaten eine Reihe von Schmierereien verübt, so auch bei ihrer Freundin im Pariser Stadtteil Belleville. Doch sei der Charakter der Taten nicht der gleiche. Die ihr bekannten Schmieraktionen von »Maghrebinern« seien doch spontan verübt worden, erläutert sie.

In ihrem Fall hingegen müssen die Täter planmäßig vorgegangen sein. Abikzir zeigt eine schwere Kette, die mit einem Bolzenschneider durchtrennt wurde. »Nur um die Farbe an meinem Geschäft anzubringen. Nichts ist gestohlen worden«, sagt sie. Die Antisemiten hätten gewartet, bis der gegenüber liegende Nachtclub gegen fünf Uhr früh die Türen schloss. In den anderen Fällen sei auch nicht die symbolische gelbe Farbe für die Schmierereien benutzt worden, meint Abikzir.

In der Polizeidienststelle im 15. Pariser Bezirk glaubt man ebenfalls, dass es sich in diesem Fall um neofaschistische Täter handelt. Ein Sprecher verweist auf eine nahe gelegene Außenstelle der Universität Assas Paris-2, die als Hochburg rechtsextremer Schlägergruppen bekannt ist.

Die Schmieraktion an dem Geschäft in der Rue de la Croix Nivert ist wegen ihrer symbolischen Qualität - nicht in Bezug auf die ausgeübte physische Gewalt - der wohl schlimmste Anschlag auf französische Juden und Jüdinnen in jüngerer Zeit. Gleichzeitig bildet er, vom mutmaßlichen Täterprofil her gesehen, eine Ausnahme. Denn nur in einer Minderheit der antisemitischen Angriffe kann man von neofaschistischen Tätern ausgehen. In der Mehrzahl der Übergriffe, bei denen Tatverdächtige ermittelt wurden, handelt es sich um Jugendliche oder Heranwachsende aus dem Kreis der maghrebinischen Einwanderer. Die meisten von ihnen sind Männer, die zuvor schon straffällig wurden.

Auch wenn der Staatsapparat und die politische Klasse in Frankreich die Strafverfolgung der Täter fordern, betrachten viele jüdische BürgerInnen die offizielle Darstellung der antisemitischen Übergriffe als Verharmlosung. So sind zu der jüdischen Geschäftsinhaberin Vertreter aller größeren Parteien gekommen. Sie glaubt allerdings, dass dies mit den bevorstehenden Wahlen zusammenhängt. Und sie fügt hinzu: »Die Konservativen kamen vorbei und erklärten, das sind die Linken gewesen«, vermutlich um die Angst vor dem Neofaschismus zu schüren.

Ein Grund für die Verharmlosung durch die Politiker könnte die Sorge sein, dass durch zu viel Aufmerksamkeit ein Konflikt zwischen zwei Bevölkerungsgruppen entstehen könnte. Bisher sind die Befürworter antijüdischer Aktionen in der maghrebinischen Community in der Minderheit. Das belegt auch die von der jüdischen Studentenunion vorlegte Befragung mehrerer hundert Jugendlicher aus Einwandererfamilien durch das Forschungsinstitut Sofres.

Allerdings scheinen bei einigen Staatsrepräsentanten auch andere Motive für die zurückhaltende Bewertung der Angriffe eine Rolle zu spielen. So hat der dem regierenden Parti Socialiste (PS) nahe stehende Politologe Pascal Boniface in einer internen Studie eine Abwägung der zahlenmäßigen Stärke der beiden Communities vorgenommen und nahe gelegt, dass für eine »effektive Wahlstrategie« die Größe der maghrebinischen Community zu berücksichtigen sei. Die Mehrheit der drei bis vier Millionen Franzosen maghrebinischer Herkunft dürfte allerdings an einer solchen ethnizistischen Einteilung der Wahlbevölkerung ebenso wenig Interesse haben wie die Mehrheit der 600 000 bis 700 000 jüdischen Staatsbürger.

Zu einer Ethnisierung mit potenziell fatalen Folgen trägt aber auch der Diskurs der offiziellen israelischen Politik bei. Bereits Anfang Januar hatte der stellvertretende israelische Außenminister, Michael Melchior, Frankreich als das »schlimmste europäische Land in Sachen Antisemitismus« bezeichnet und den französischen Juden die Emigration nach Israel angeboten. Wegen der Zuwanderung vieler nordafrikanischer Juden nach der Entkolonialisierung ist die französiche Community heute die zahlenmäßig stärkste in Europa.

Henri Israel, französischer Jude und PS-Vizebürgermeister der Pariser Vorstadt Fresne, wies das israelische Angebot in Le Monde scharf zurück. »Zweifellos versucht der Staat Israel, durch propagandistische Manipulation sein demographisches Problem zu lösen.« Ferner sei es gefährlich, die französischen Juden als Bürger eines fremden Staates darzustellen.

Im Februar hat der israelische Regierungschef Ariel Sharon noch einmal nachgelegt und eine klar rassistische Interpretation der Situation in Frankreich verbreitet. Die französischen Juden sollten nach Israel auswandern, denn die Situation in ihrem Land sei unhaltbar, »weil es sechs Millionen Araber in Frankreich gibt«, erklärte er.

Nicht nur, dass die Zahlenangabe falsch war, Sharon spielt mit dieser Argumentation nur denjenigen in die Hände, die glauben, sie führten einen Stellvertreterkrieg, wenn sie Juden in Frankreich angreifen.