Neue Atomstrategie der USA

Offensive Abschreckung

Neue Verhältnisse erfordern neue Strategien. Die US-Regierung habe deshalb ein aktualisiertes Szenario für den Einsatz von Atomwaffen erstellt, erklärte Daniel G. Bell vom Nationalen Sicherheitsrat. Die Washington Post schrieb: »Die neue Doktrin erfordert auch eine allgemeine Planung für mögliche Nuklearschläge gegen andere Nationen, die das haben, was Bell als 'voraussichtlichen Zugang' zu nuklearen Waffen bezeichnet und den Vereinigten Staaten gegenwärtig oder möglicherweise in Zukunft feindlich gegenüberstehen.«

Das war im Dezember 1997, als Ussama bin Laden gerade begonnen hatte, sich in den afghanischen Bergen häuslich einzurichten. Die im Nuclear Posture Review (NPR) aktualisierte Atomstrategie, deren Veröffentlichung in der Los Angeles Times das Ergebnis einer gezielten Indiskretion gewesen sein dürfte, hat mit dem 11. September also wenig zu tun. Sie beinhaltet eine erneute Ausweitung der Einsatzdoktrin, denn nunmehr gilt schon das Versagen konventioneller Waffen bei der Zerstörung eines Ziels als mögliche Rechtfertigung für einen Nuklearschlag, ebenso wie »überraschende militärische Entwicklungen«.

Damit setzt sie konsequent fort, was seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Politik nicht nur der USA, sondern auch der europäischen Nato-Staaten war. Über allgemeine nukleare Abrüstung wurde nicht einmal ernsthaft debattiert, selbst auf die Option des atomaren Erstschlages mochte die Nato nicht verzichten. Die nuklearen Streitkräfte, so hieß es dann im Strategiekonzept der Nato, das im April 1999 während des Krieges gegen Jugoslawien verabschiedet wurde, sollten »dafür sorgen, dass ein Angreifer im Ungewissen darüber bleibt, wie die Bündnispartner auf einen militärischen Angriff reagieren würden«. Die »eigenständige Abschreckungsfunktion« der britischen und der französischen Atommacht wurde ausdrücklich betont.

Im NPR ist nun von »offensiver Abschreckung« die Rede, und postwendend legte der britische Verteidigungsminister Jeffrey Hoon vorige Woche mit der Bemerkung nach, man werde »unter den richtigen Bedingungen« Atombomben benutzen, wenn Staaten wie der Irak Massenvernichtungswaffen einsetzten.

Für einen solchen Einsatz gibt es allerdings noch technologische und politische Hindernisse. Atomwaffen haben den Nachteil, dass sie die eigenen Truppen und das Einsatzgebiet radioaktiv verseuchen. Dieses Problem soll durch die Entwicklung neuer »Mini-Atombomben« behoben werden, doch die Physik setzt den Bemühungen, die Strahlung zu reduzieren, Grenzen.

Der politische Fallout, den ein Nuklearschlag gegen den Irak oder ein anderes islamisches Land zur Folge hätte, dürfte den Nato-Strategen ebenfalls zu denken geben. Zudem wäre ein Atomwaffeneinsatz gegen den Irak schlicht überflüssig. Dass die alliierten Truppen im Zweiten Golfkrieg 1991 ihren Vormarsch stoppten, lag nicht am Widerstand der irakischen Armee, sondern an der Sorge, die politische Entwicklung nach einem Sturz des Regimes nicht unter Kontrolle halten zu können. Wie in anderen derzeitigen Konflikten sind die Probleme vor allem politischer Art, und beim nation building ist der Einsatz von Atombomben wenig hilfreich.

Sie als Gefechtsfeldwaffen akzeptabel und einsetzbar zu machen, ist daher eher ein langfristig angelegtes Projekt. Es richtet sich vor allem gegen China und Indien, die als aufstrebende Weltmächte gefährliche Konkurrenten der Nato-Staaten werden könnten, und gegen Russland, das versuchen könnte, seinen politisch-ökonomischen Abstieg durch eine offensivere Benutzung seiner Militärmacht zu kompensieren. Die jetzt vom Pentagon geplanten bunker busters, die tief in gepanzerte Stellungen eindringen sollen, dürften dafür gedacht sein, die Atomsarsenale dieser Staaten zu vernichten.