Großbritannien sucht den Autor eines Gedichts

Gone With the Mum

Ein Gedicht sollte die Nation über den Verlust von Queen Mum hinwegtrösten. Aber wer hat es geschrieben?

Seit der Beerdigung von Queen Mum ist Großbritannien einem neuen Gesellschaftsspiel verfallen. Es heißt »Such den Gedichtautor« und scheint ziemlich kompliziert zu sein, denn bisher hat es niemand geschafft, den Verfasser der von Queen Elizabeth höchstpersönlich für die Trauerfeierlichkeiten ausgesuchten Verse zu ermitteln.

Das unter dem Titel »She (He) has Gone« firmierende Werk wird im englischen Sprachraum bei Beerdigungen mittlerweile relativ häufig verlesen. Quer durch alle Schichten. Zuletzt, so meldete der Fernsehsender BBC, sei es anlässlich der Beerdigung eines 53jährigen schottischen Alkoholikers, zur Beisetzung eines 15 Jahre alten Schülers sowie beim Gottesdienst für einen australischen Rockstar zitiert worden. Zum ersten Mal tauchte es 1998 in Northwales auf.

Der Autor ist jedoch nach wie vor unbekannt. Dabei wird sein Gedicht seit mehr als zwei Jahren vor allem im Internet verbreitet, wo es vorzugsweise Angehörigen von Verstorbenen per E-Mail als Trostspende übermittelt wird. Ob die leicht kitschigen Verse tatsächlich Trauernde aufzuheitern vermögen, sei dahingestellt. Immerhin: Sie tun niemandem zusätzlich weh, und darauf mag sich ihr Erfolg in der Net-Gemeinde gründen. Denn das Gereimte handelt durchweg davon, dass Hinterbliebene sich nicht von ihrem Schmerz überwältigen lassen sollten. »Du kannst deine Augen schließen und hoffen, dass sie zurückkommt, du kannst deine Augen aber auch öffnen und erkennen, dass sie für alle Zeiten weggegangen ist.«

Entscheidend für den Erfolg des Gedichtes ist wohl dessen Unisex-Charakter, denn die geschlechtsspezifischen Pronomen können ganz einfach je nach Leiche ausgewechselt werden, was mit den gängigen Rechner-Befehlen »find« und »replace« ohne großen Aufwand zu bewerkstelligen ist.

Wie aber kam ausgerechnet die nach allgemeiner Einschätzung technisch nicht unbedingt als up-to-date geltende Queen zu den Versen? Ein Hofsprecher wollte gegenüber britischen Medien zunächst nicht näher ins Detail gehen. Die Königin habe das Gedicht auf einer »memorial service card« gefunden, hieß es lapidar auf einer Pressekonferenz. Sie sei von den Zeilen sofort sehr berührt worden, da sie nicht nur ihre eigenen Gedanken über den Tod von Queen Mum widerspiegelten, sondern auch zeigten, wie die Nation mit dem Verlust des beliebtesten Mitglieds der Königsfamilie umgehen sollte.

Journalisten fanden rasch eine einleuchtende Antwort: Queen Elizabeth hatte im Januar dieses Jahres eine Abordnung zur Beerdigung der 88jährigen Lady De L'Isle entsandt. Deren Familie ist seit Generationen für ihre enge Beziehung zu den britischen Royals bekannt, die Enkelin Tiggy Legge-Bourke erlangte als Privatsekretärin von Prinz Charles und Kindermädchen der Prinzen William und Harry sogar eine gewisse Berühmtheit, denn schließlich wurde sie im Jahr 1993 von Lady Diana gefeuert. Aus Eifersucht, wie sich Hofberichterstatter bis heute sehr sicher sind.

Das spielte jedoch bei der Suche nach dem unbekannten Poeten keine Rolle: Einzig die Verwandten von Lady De L'Isle, so waren sich alle Medien einig, könnten das große Geheimnis um das Gedicht klären. Und vielleicht sei alles ganz einfach gewesen: Nach der Beerdigung von Lady De L'Isle hatte die Tochter der Verstorbenen, Shan Legge-Bourke, an den Buckingham Palace ein Protokoll der Beisetzungsfeierlichkeiten geschickt.

Die Königin erhält fast täglich solche Mitteilungen über Grablegungen, bei denen sie weder persönlich noch durch einen Vertreter anwesend war. »Und sie liest sie alle«, wie die Times schreibt, Royals müssen sich schließlich wesentlich früher als andere Menschen mit ihrem Tod beschäftigen. Mit dem Erreichen der Volljährigkeit musste so zum Beispiel auch Prinz William Einzelheiten für seine Beisetzung, wie zu spielende Songs und zu verlesende Texte, festlegen.

Trotzdem dürfte die Familie De L'Isle ziemlich überrascht gewesen sein, als sie kurz nach der Zeremonie einen Anruf vom Buckingham Palace erhielt. Wer das Gedicht geschrieben habe, das vor dem aufgebahrten Sarg verlesen worden sei, wollte ein Mitarbeiter der Queen wissen.

Die Antwort kam schnell, war jedoch sehr unbefriedigend. Denn das Werk entstammte dem Lyrikband »Courage in The Four Graces«, den eine Freundin der Familie, Elizabeth Bourdillon, zusammengestellt hatte. Knapp drei Monate später sollte das Gedicht königliche Weihen erhalten.

Bill Legge-Bourke, der Schwiegersohn von Lady De L'Isle, äußerte sich »sehr überrascht« von der königlichen Auswahl, zumal seine Schwiergermutter »88 Jahre alt war, als sie starb, verglichen mit Queen Mum also noch ein Küken«. Die Frage nach dem Verfasser konnte aber auch er nicht beantworten, Legge-Bourke verwies einfach nur auf den Lyrikband und die dafür zuständige Mrs. Bourdillon. Die wiederum kann sich »beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wo ich das Gedicht zum ersten Mal gesehen habe. Es könnte eigentlich überall gewesen sein - sogar als Reklame auf einem Bus.«

Bisher hat sich niemand als Verfasser bekannt. Vielleicht outet sich der Autor aber auch nur deswegen nicht, weil er weiß, dass er von der Literaturkritik auf keinen Fall mit Lob überschüttet würde. Der britische Poet Alan Jones, gleichzeitig Mitherausgeber der Literaturbeilage der Times, erklärte etwa, das Gedicht sei ein »nichtswürdiges Geschreibsel«.

Andrew Motion, der Hofdichter der Queen, hielt als einziger Literat dagegen: Erkennbar bringe das Poem Hinterbliebenen Trost, und daher habe es durchaus seinen Wert.

Blieb die Frage nach dem Autor. Die Experten der Times durchforsteten verschiedene Archive wie die Londoner Poetry Library, die fein säuberlich über alles seit dem Jahr 1912 Gereimte Buch führt. Ergebnislos. Auch Recherchen bei der Dichtervereinigung »The Poetry Society«, dem Verzeichnisdienst »Granger's Index to Poetry« und der Internet-Suchmaschine »Literature Online« blieben ohne Erfolg.

Zusätzlich waren weltweit Spuren verfolgt worden. Der Autor sei ein englischer Philosoph des 18. Jahrhunderts, lautete etwa ein Leserhinweis an die Times, andere Literaturinteressenten wetteten dagegen auf einen deutschen Dichter respektive einen indischstämmigen Verfasser. Das Poem passse zum Nobelpreisgewinner von 1913, Rabindranath Tagore. Diese asiatische Theorie wurde jedoch umgehend entkräftet. Dr. Kethaki Dyson, Experte für indische Lyrik, erklärt, das Gedicht könne dem Stil nach kaum aus dieser Gegend stammen. Es sei eindeutig europäischen Ursprungs. Von einem anonymen Deutschen seien angeblich von Kant ersonnene Zeilen wie »Weine nicht, dass sie vorüber, sondern lächle, dass sie gewesen« an die Redaktion gesandt worden, berichtete die Times. Andererseits ver-wiesen deutsche Wissenschaftler darauf, dass Kant eigentlich nie gedichtet habe.