Fußball-WM

China entriegelt

Rudi Gutendorf kommentierte das Spiel Brasilien gegen China im Ethnologischen Museum in Berlin.

Brasilien gegen China, einer der hohen Favoriten gegen den krassen Außenseiter, für ein solches Spiel dürfte es kaum einen passenderen Kommentator geben als Rudi Gutendorf. Der mittlerweile 75jährige Fußballtrainer ist vor allem für zwei Dinge berühmt: das Weltenbummeln und den Riegel. Ersteres führte ihn als Trainer in unzählige Länder auf allen Kontinenten, und mit dem Riegel entwickelte er Anfang der sechziger Jahre eine Taktik, die speziell auf nominell unterlegene Mannschaften, die gegen schier übermächtige Gegner anzutreten haben, zugeschnitten ist.

Worum es sich dabei genau handelt, können am besten die Worte des Erfinders erläutern: »In Marl-Hüls beginne ich, an meiner Riegel-Taktik herumzupuzzeln. Die Zuschauer verstehen das System natürlich nicht. (...) Ich aber glaube von Anfang an fest an mein Riegel-System: Alle verteidigen, alle greifen an. Denn der Riegel ist keineswegs nur eine sture Mauer-Taktik. Die Mannschaft muss sich wie eine Spirale zusammenziehen, wenn der Gegner kommt. Ist er abgeprallt, gilt es, kompromisslos nach vorne zu stürmen. (...) Diese Spielweise wirkt nicht immer elegant, manchmal sogar destruktiv - was sie nicht ist. Sie ist effektiv und wirkt auf den Gegner demoralisierend. Jedenfalls hoffte ich das.«

Wie auch immer die Taktik auf den Gegner gewirkt haben mag, Gutendorf feierte bald erste Erfolge damit. So führte er in der ersten Bundesligasaison 1963/64 den damals noch als Meidericher SV firmierenden MSV Duisburg gegen alle Erwartungen zur Vizemeisterschaft. Und er entschließt sich: »Ich gehe mit meinen Spielern konsequent den Weg des Riegels weiter«, und der führt um die ganze Welt.

Sei es Anfang der siebziger Jahre in Südamerika: »Riegel-Rudi-Gegröle wie auf dem Dortmunder Hauptbahnhof hallt mir von weitem entgegen, als ich über die Gangway das Flughafengebäude von Lima betrete«, sei es Anfang der Neunziger im Fernen Osten: »Wir schlagen im ausverkauften Volksstadion Csernais nordkoreanische Mannschaft 1:0 (...). Es ist das erste Mal, dass China gegen den sozialistischen Bruderstaat gewinnt. Mein Riegel hat mal wieder dicht gehalten«, oder gegen Ende des Jahrzehnts in Ruanda: »Aber im Strafraum vor unserem Tor schnappt mein Meidericher Riegel zu, und aus ist's mit dem Fußballzauber der Supertruppe von der Elfenbeinküste«, überall lehren Gutendorfs Mannschaften die jeweiligen Platzhirsche das Fürchten.

Was läge näher, als den Meister des Riegels einzuladen, das Aufeinandertreffen der brasilianischen Ballzauberer mit dem WM-Neuling aus China zu kommentieren? Also hat Rudi Gutendorf am vergangenen Samstag im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem die Übertragung des Spiels mit seinen fachkundigen Anmerkungen begleitet.

Das beinahe ausverkaufte Foyer ist, was die Stimmung betrifft, fest in der Hand der kleinen brasilianischen Kolonie. Das Fähnlein der Chinesen wird diskret aufrecht gehalten vom anwesenden stellvertretenden Direktor des Museums für ostasiatische Kunst. Das Gros der chinesischen Fußballfans hat offenbar die weite Anfahrt bis nach Dahlem gescheut oder aber sich gegen Brasilien ohnehin nichts ausgerechnet.

Dennoch ist selbst die Treppe hinauf in den Sonderausstellungsbereich gut mit Zuschauern gefüllt. In der Cafeteria werden landestypische Speisen gereicht und der Raum ist liebevoll mit den Flaggen der beteiligten Nationen geschmückt. Der Experte erklärt vor Spielbeginn, er werde zu China halten, da er unter anderem deren Torwart Jiang Jin noch persönlich trainiert habe. In der brasilianischen Ecke regt sich leichter Unmut, der aber mit Spielbeginn verflogen ist.

Nach zehn Minuten zieht Gutendorf ein erstes Fazit: Die Chinesen seien erstaunlich stark und würden die Brasilianer mehr beschäftigen, als denen lieb sei. Vielleicht hätte er das nicht sagen sollen, denn die Brasilianer werden nun stärker und erzielen kurz darauf durch Roberto Carlos' Freistoß das 1:0. Unbeschreibliche Jubelszenen werden von einem halben Dutzend Brasilianerinnen direkt vor der Leinwand veranstaltet. Nach einer halben Stunde wagt Gutendorf ein weiteres Zwischenresümee: Die Chinesen halten sich erstaunlich gut. Gleichzeitig orakelt er, dass das Kalkül der Brasilianer sein könnte, auf den Einbruch der Chinesen in der zweiten Halbzeit zu warten, um dann zuzuschlagen.

Aber weit gefehlt. Als in der gleichen Minute der stellvertretende Direktor des Museums für ostasiatische Kunst den Ort der Übertragung verlässt, nimmt das Verhängnis für die Chinesen seinen Lauf. Die Brasilianer konzentrieren sich eine Viertelstunde lang auf ihr Spiel und erzielen noch vor der Pause zwei weitere Tore. Die fälligen Jubelausbrüche im Museum sind unvermindert heftig.

In der Halbzeitpause erklärt Gutendorf Brasilien zum eindeutigen Turnierfavoriten. Nur wenig später folgen ihm auch die Londoner Buchmacher, haben sich doch spätestens nach dem zweiten Vorrundenspieltag sämtliche Favoriten außer Brasilien und Spanien - will man letztere zu diesem Kreis dazurechnen - in eine mehr oder weniger verzwickte Lage manövriert.

Die zweite Hälfte bringt dann nicht mehr viel Aufregendes. Brasilien macht schnell das 4:0 und beendet nach einer guten Stunde jegliche Bemühungen, das Ergebnis noch zu verbessern. Das nun folgende Ballgeschiebe der Brasilianer wird von sporadischen Vorstößen der Chinesen unterbrochen, die einen Pfostenschuss einbringen und im Übrigen verhindern, dass man als Zuschauer gänzlich einnickt.

Gutendorf schweigt während der gesamten zweiten Halbzeit. Am Ende stellt er mit einem leichten Anflug von Zufriedenheit fest, dass die Chinesen seit der Zeit, als er Trainer dort war, keine allzu großen Fortschritte gemacht hätten. Das Ergebnis sei standesgemäß, weil man sich für das Geld, das man für einen der brasilianischen Superstars ausgeben müsse, zwei komplette chinesische Nationalmannschaften leisten könnte.

Offenbar hat es der andere prominente Globetrotter im Weltfußball, Bora Milutinovic, der Trainer der Chinesen, der zwar in weniger Ländern als Gutendorf tätig war, dafür aber bei den letzten fünf Weltmeisterschaften mit je verschiedenen Nationalmannschaften angetreten ist, nicht verstanden, seinen Spielern die Regeln für den Riegel zu vermitteln.

Vielleicht lag es aber auch nur an jener brasilianischen Reisegruppe, die im selben Hotel wie die chinesische Mannschaft logierte und im Unterschied zu dieser gar nicht daran dachte, Schlaf zu suchen, sondern vielmehr alles tat, um die Chinesen nicht zur Ruhe kommen zu lassen. Woran auch immer es gelegen hat, die chinesischen Fußballer konnten die Brasilianer nie in Verlegenheit bringen und widerlegten als größtes Land der Erde eindrucksvoll die seit gut 20 Jahren beschworene Formel, derzufolge es im Fußball keine Kleinen mehr gebe.

Eine Überraschung hat im Museum jedenfalls nicht stattgefunden. Überrascht waren nur jene gewöhnlichen Museumsbesucher, die recht verwundert schauten, dass ihnen bereits in der Eingangshalle des Museums die erste und in gewisser Hinsicht an diesem Ort exotischste Attraktion geboten wurde. Keine Objekte in Vitrinen, sondern lärmende Fans vor einer großen Leinwand.

Rudi Gutendorf: Mit dem Fußball um die Welt. Ein abenteuerliches Leben. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2002, 19,80 Euro