Der gute Mensch von Hellersdorf

In Berlin regiert der Sparwahn. Aber nicht alle wollen mitmachen. Zumindest nicht freiwillig. von alexander wriedt

Was Uwe Klett (PDS) an diesem Morgen in der Zeitung liest, verschlägt ihm die Sprache. Er, der sozialistische Bürgermeister des Berliner Ostbezirks Hellersdorf-Marzahn steht als Feind hungernder Kinder da. Berlin sei »fassungslos über die herzlose Entscheidung, der Armenküche das Geld zu streichen«, muss er da lesen. »Warum nehmen sie den Kindern die Suppe weg?«, fragt die Bild-Zeitung, natürlich im Namen aller Berliner.

Die »Armenküche« ist das Kinderhilfsprojekt Arche des evangelischen Pfarrers Bernd Siggelkow, das sich in Hellersdorf um zahlreiche Freizeitangebote und eben auch um warmes Essen für Kinder kümmert. Für eine Weile schien es, als werde die Arche der Sparpolitik des Berliner Senats zum Opfer fallen. Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) sperrte dem Neubaubezirk die Konten für »freiwillige soziale Leistungen« und brachte neben Siggelkows Arche 30 weitere soziale Einrichtungen in Schwierigkeiten.

Das ist nicht schön, aber fast noch eine Kleinigkeit, verglichen mit den jüngsten Sparbeschlüssen. Der Senat steigt aus dem sozialen Wohnungsbau aus. Insgesamt betrifft diese Entscheidung 50 000 Menschen, die in 25 000 Wohnungen leben. Der Senat geht davon aus, dass die Mieten um zwei Euro auf 6,50 Euro pro Quadratmeter steigen werden; »durchschnittlich«, sagt Sarrazin. Die Miete in begehrten Gegenden kann durchaus von knapp vier auf 13 Euro pro Quadratmeter angehoben werden. Fünf Jahre lang will die Stadt noch Zuschüsse zahlen, von Jahr zu Jahr geringere. »Wer merkt, dass er sich die Wohnung nicht mehr leisten kann, muss dann eben umziehen«, so Sarrazin.

Weiterhin müssen die Berliner Wasserbetriebe ab sofort eine »Konzessionsabgabe« in Höhe von 68 Millionen Euro entrichten. Dann zahlen die Berliner pro Kopf jährlich 15 Euro mehr. Und die Berliner Verkehrsbetriebe erhöhen ihre Fahrpreise zum 1. August. Der Senat genehmigte die neuen Preise, obwohl die PDS heftig protestierte.

Wie hart dürfen die finanziellen Einschnitte eigentlich sein, ohne dass ein sozialdemokratisch-sozialistisch geführter Senat seine Glaubwürdigkeit verliert? Bürgermeister Klett hat diese Frage für sich bereits beantwortet. Er hält den Sparkurs für unzumutbar und beteiligt sich an den »Montagsdemos«, die aufgebrachte Bürger inzwischen organisieren, um es »denen da oben« zu zeigen.

Zwar hat sich die Aufregung mittlerweile ein wenig gelegt, da der Senat die 36 000 Euro für die hungernden Kinder jetzt aus anderen Geldtöpfen nimmt. Dennoch versteht Klett die Welt nicht mehr, seit seine Genossen zu »denen da oben« gehören. Während in der landeseigenen bankrotten Bankgesellschaft Millionenbeträge versickern, müssen manche sozialen Einrichtungen schließen, weil ihnen die paar Tausend Euro für eine halbe Stelle fehlen. Ist das gerecht?

Angesichts des Schuldenbergs von 47 Milliarden Euro werden solche Fragen gar nicht mehr gestellt. Wegen Sarrazins Kontensperrung sind die ärmeren Bezirke stattdessen gezwungen, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie Sozialpolitik angesichts leerer Kassen aussehen kann. »Man mag kaum glauben, dass Menschen in dieser Stadt hungern. Doch hierher kommen täglich etwa 120 Kinder, die nur deshalb eine warme Mahlzeit erhalten, weil wir sie ihnen zubereiten«, sagt Siggelkow, der gemeinsam mit seiner Frau und 15 ehrenamtlichen Helfern fast täglich am Herd steht. »Es gibt Haushalte hier in Hellersdorf, die sind so sehr überschuldet, dass sie sich buchstäblich jeden Cent absparen.«

Bezirksbürgermeister wie Uwe Klett verweigerten sich angesichts solcher Verhältnisse einer Politik, die sich in erster Linie um Sparsamkeit bemüht. Hellersdorf-Marzahn überzog den Etat für »freiwillige soziale Leistungen« im Jahr 2002 um knapp 350 Prozent. Für 2003 veranschlagte Klett von vornherein 12,2 Millionen Euro statt wie vorgesehen eine Million, in der Erwartung, dass der Senat den Fehlbetrag wie gewohnt begleichen würde. Klett versechsfachte innerhalb von zwei Jahren die Schulden des Bezirks auf 30 Millionen Euro, in zwei Jahren wären es voraussichtlich 100 Millionen.

Schulden? »Das Wort Schulden mag ich nicht«, sagt Klett. »Der Bezirk kann sich im Sinne des Wortes gar nicht verschulden, denn er bekommt sein Geld vom Senat«, erklärt der Absolvent der Hochschule für Ökonomie in Karlshorst. Dieser Gewohnheit setzte Sarrazin mit seiner Kontensperrung ein Ende und forderte »ein schlüssiges Sanierungskonzept«. Öffentlich die Finanzkrise beschwören und dann im Stillen so weitermachen wie bisher, »das ist vorbei«, sagt Sarrazin knapp.

Vorbei ist es auch damit, dass ein Kommunalpolitiker wie Klett seine Sparverweigerung als Kampf für eine Umverteilung »von oben nach unten« ausgeben kann, und sei es nur in der eigenen Partei. »Als wir noch in der Opposition waren, machte sich das ja ganz gut«, sagt der Landes- und Fraktionsvorsitzende der PDS, Stefan Liebich.

Doch seit die PDS die Hauptstadt mitregiert, wollen er und seine Kollegen beweisen, dass Sozialisten solider haushalten können als die Westberliner Kapitalisten. Und weil Erfolge angesichts der katastrophalen Arbeit der früheren Regierungen mit etwas Anstrengung auch zu erreichen sind, werden Störenfriede in den eigenen Reihen nicht geduldet. »Klett vertritt Positionen, von denen wir uns längst verabschieden mussten«, heißt es aus der PDS-Fraktion. Und 52 Prozent der Berliner stehen hinter dem Sparkurs der Landesregierung. Deshalb wurde die Politik Kletts, nicht etwa der Senat für die Kontensperrung verantwortlich gemacht.

»Klett knickte ein«, meldete die Bild-Zeitung, die mit Berichten über die »traurigen Augen« der hungernden Kinder dazu beitrug, dass er seiner expansiven Ausgabenpolitik öffentlich abschwor und das geforderte Sanierungskonzept vorlegte. Die taz klatschte Beifall. »Es ist kein Rückschritt, wenn linke Parteien ihre soziale Verantwortlichkeit auch darin sehen, ein Gemeinwesen für kommende Generationen demokratiefähig zu halten«, schreibt die Zeitung, die einmal selbst von der üppigen Berlinförderung profitierte und jetzt die »harten Schnitte« des Senats lobt.

Vor allem die Berliner Bezirksverwaltungen gelten als Geldvernichter. »Da gedeihen noch Kraut und Rüben«, rügte die FAZ. Das Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf hatte dem Senat gemeldet, man beschäftige 35 Kindergärtnerinnen in Stellen, die es gar nicht mehr gebe. Als die Erzieherinnen in Schöneberg aushelfen sollten, fand sich plötzlich nur noch eine einzige. Und der Bezirk Wedding sanierte für mehrere Millionen Euro ein Krematorium, das bereits zur Schließung vorgesehen war.

Doch auch gutbürgerlichen Bezirken scheint der Überblick über ihre Finanzen gelegentlich verloren zu gehen. In Zehlendorf rief die Direktorin der Zinowwald-Grundschule im Herbst des vergangenen Jahres die Schüler auf, angesichts der Geldnot ihr eigenes Klopapier mitzubringen. Das ging selbst den Regierenden zu weit. »Klopapier muss als Grundausstattung garantiert sein«, meldete die Schulverwaltung.