Das Chaos der Waffen

Die Besatzung, die Schwäche der Autonomiebehörde und Machtkämpfe haben zur Militarisierung der palästinensischen Gesellschaft geführt. von bassem eid

Vor dem Abkommen von Oslo ging es den Palästinensern in der Hauptsache um ihre eigene Einheit und um das Ende der Besatzung. Aber schon während der ersten Intifada hatten sich zwischen ihnen tiefe Widersprüche aufgetan, die sich im Verlauf des Oslo-Prozesses noch verschärften und bis heute nicht verschwunden sind. Während der ersten Intifada gingen viele Palästinenser auf die Straße, nur mit Steinen und Küchengeräten bewaffnet. Der gegenwärtige Aufstand bedient sich jedoch der tödlichen Gewalt von Feuerwaffen.

Im Dezember 2002 fürchtete der damalige palästinensische Ministerpräsident Mahmoud Abbas alias Abu Mazen, solche Waffen könnten in Zukunft noch viel häufiger eingesetzt werden, und er wollte etwas dagegen unternehmen. Doch seine kurzlebige Regierung war gar nicht in der Lage, mit diesem Problem fertig zu werden, und sein Nachfolger Ahmed Qurei alias Abu A’laa ist genauso hilflos angesichts des bewaffneten Chaos. Weil alle Bemühungen um einen wirklichen Friedensvertrag, der auch für die Palästinenser akzeptabel wäre, gescheitert sind, breitete sich unter ihnen das Gefühl aus, betrogen worden zu sein. Gerade wegen der inneren Spaltung ihrer Gesellschaft richten viele Palästinenser ihre Aggression und Frustration auch gegen die eigenen Landsleute.

Die Bedeutung dieser inneren Auseinandersetzungen wird häufig unterschätzt, denn die meisten Menschen nehmen nur den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern wahr. Ein solch simples Bild vom Nahen Osten unterschlägt die Unterschiede und Abstufungen, die es in beiden Gesellschaften gibt. Wenn man die Palästinenser richtig einschätzen will, darf man die täglichen Streitigkeiten und Kämpfe zwischen den politischen Gruppen, den Familien und den Städten nicht außer Acht lassen. Während der al-Aqsa-Intifada kam es nämlich auch zum Ausbruch einer zunehmend gewaltsamen »Intrafada«. Zwischen 1993 und 2003 gingen 16 Prozent der palästinensischen Todesopfer auf das Konto palästinensischer Organisationen und Einzelpersonen.

Wie andere Nationen auch bewaffnen sich die Palästinenser zunächst deshalb, weil sie sich nicht sicher fühlen. Ihre eigene Aufrüstung soll die Unsicherheit verringern, die sie im Angesicht der Besatzung und der israelischen Militärpolitik empfinden. Inzwischen gibt es im ganzen Land eine Unmenge leichter Waffen, obwohl ein bis an die Zähne bewaffnetes Palästina die Unsicherheit nur noch vergrößern und zur Entwicklung der Gesellschaft nichts beitragen kann.

Seit einem halben Jahrhundert haben sich die Palästinenser daran gewöhnt, mit einem Konflikt auf niedriger Eskalationsstufe zu leben. Die Bereitschaft, Gewalt anzuwenden, hat in dieser Zeit zugenommen. Taten, die in anderen Gesellschaften als brutal angesehen werden, scheinen in Palästina zur Normalität zu gehören. Aber so ging es nicht nur den Palästinensern. Oft haben sich in der Geschichte die Angehörigen gedemütigter, unterdrückter oder von außen bedrohter Völker gegeneinander gewandt. Und weil die Palästinenser heute unter einer Besatzung und im Kriegszustand leben, wächst auch die Feindseligkeit unter ihnen, und die Bürgerrechte leiden.

Sie sind an den Anblick von Waffen gewöhnt, und ebenso daran, von der Besatzungsmacht mit Worten und Taten misshandelt zu werden; deshalb arten verbale Auseinandersetzungen allzu leicht in Schlägereien aus und manchmal sogar in Gruppen- oder Familienfehden. Wer in einer Atmosphäre der Gewalt aufgewachsen ist, dem fällt es schwer, seine Aggressionen zu zügeln.

Auch die palästinensische Verwaltungsstruktur führt zu inneren Konflikten. Viele meinen, die Autonomiebehörde sei gezeichnet von Fehlern und Versäumnissen der Vergangenheit einschließlich der gescheiterten Abkommen von Oslo und Camp David. Die israelische Politik und insbesondere der Bau des Zauns bzw. der Mauer haben dazu geführt, dass die Verbindungen zwischen den palästinensischen Städten durchtrennt wurden und dass die PA immer weniger in der Lage ist, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Vielerorts herrschen anarchische Zustände, und nicht legitimierte Kräfte versuchen, das Machtvakuum zu füllen. Manchmal handelt es sich dabei um die stärkste politische Fraktion, manchmal aber einfach um diejenigen, die über die stärksten Gewaltmittel verfügen. Da sie immer nur eine quasi- oder halbstaatliche Einrichtung war, hat die PA es nie geschafft, ein Gewaltmonopol zu errichten.

Es hat immer Leute gegeben, die Arafat bekämpften, aber die Kluft zwischen seinen Anhängern und seinen Widersachern hat sich vergrößert, seitdem die USA darauf bestehen, dass er nicht länger die Schlüsselposition in der palästinensischen Regierung innehaben dürfe. Die Palästinenser gaben dem amerikanischen Druck nach und schufen das Amt eines Ministerpräsidenten. Die Regierungen Abbas und Qurei entsprachen dabei den Fraktionen der politischen Elite. Obwohl das Volk sich hinter Arafat sammelte, als die USA seine Ablösung forderten, deutet die seitdem herrschende allgemeine Unsicherheit darauf hin, dass niemand so recht weiß, wie die Macht und die Verantwortung zwischen dem Präsidenten und dem Premierminister aufzuteilen sind. Während Arafats Einfluss beständig schwindet, werden sich die inneren Machtkämpfe vermutlich noch verschärfen.

Die palästinensische Autonomiebehörde ist geradezu schizophren. Einige ihrer Mitglieder, namentlich die Freunde Arafats, bestehen darauf, dass die Palästinenser eine nationale Befreiungsbewegung unter starker autoritärer Führung brauchen. Andere bevorzugen eine kleinstaatliche Lösung und eine den Regeln entsprechende, kontrollierbare demokratische Regierung; sie sind vor allem in der Umgebung des Ministerpräsidenten anzutreffen. Die herrschende Elite ist unfähig, ihre Ziele und Präferenzen eindeutig zu definieren, und ihre Unsicherheit überträgt sich auf die Bevölkerung.

Bisweilen werden die Palästinenser von fremden Mächten dazu ermutigt, sich gegenseitig zu bekämpfen. So wurde Arafat von der amerikanischen Regierung des Öfteren gelobt, wenn er gegen seine eigenen Landsleute vorging. Deshalb wenden sich viele Gegner der USA und ihrer Politik von der PA ab und schließen sich denen an, die die USA bekämpfen. Die Schwäche der PA resultiert zu einem großen Teil daraus, dass sie zwischen inneren und äußeren Ansprüchen steht, denen sie zu entsprechen sucht. Viele Palästinenser verurteilen die Verhaftung bewaffneter Kämpfer, die auf israelischen Fahndungslisten stehen, denn es gehe zuerst um Einigkeit im Widerstand gegen die Okkupation. Es scheint paradox, dass die Forderung nach Einigkeit zur Spaltung führt und dass der palästinensischen Regierung vorgeworfen wird, sie kollaboriere mit Israel und den USA.

Die Spaltung des palästinensischen Volks verläuft zwischen den Flüchtlingen im Exil, den Einwohnern Gazas und der Westbank und denjenigen, die in Israel leben. Mit jedem Kilometer, um den der Bau des israelischen »Sicherheitszauns« vorangeht, wird es schwieriger, zwischen Ein- und Ausgeschlossenen zu unterscheiden. Da die Möglichkeit, von einer palästinensischen Stadt zur nächsten zu fahren, kontrolliert oder eingeschränkt oder sogar unterbunden wird, muss jede dieser Enklaven für sich selbst sorgen. So wird jede zentrale Regierungstätigkeit behindert und manchmal ganz unmöglich gemacht. Und schließlich werden ganze Städte wie Nablus zur Beute einheimischer Gangsterbanden.

übersetzung:

joachim rohloff

Bassem Eid ist der Gründer und Direktor der »Palestinian Human Rights Monitoring Group« (www.phrmg.org), die ihren Sitz in Ostjerusalem hat.