Rohstoff Merkel

Die Parteivorsitzende der CDU weiß, wo’s langgeht, und bereitet die Regierungsübernahme vor. von thomas blum

Angela Merkel tut dem Spiegel leid. Als seltsame Frau aus dem Osten werde sie noch immer wahrgenommen. »Nichts verletzt sie mehr. Nichts macht sie so hilflos.« »Kaum jemand springt ihr zur Seite«, wird munter behauptet. Im Falle ausbleibenden Erfolgs habe sie »das falsche Gesicht, die falsche Frisur, die falsche Herkunft«. »So brutal erlebt das keiner.« Den Angriffen anderer Politiker sei sie »schutzlos ausgeliefert«. Kurz: Es geht ihr »schlecht, sie könnte Hilfe brauchen«.

Wäre Frau Merkel aber tatsächlich das hilflose, verzagte und gedemütigte Mädchen, das vom bösen Onkel Stoiber und seinen drei hinterhältigen Neffen Koch, Müller und Wulff »ausgegrenzt« wird, wäre sie heute nicht Vorsitzende der großen konservativen Partei, in der sie insofern ganz gut aufgehoben ist, als sie – die ehemalige FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda – schon seit jeher ein »tiefes Misstrauen zu basisdemokratischen Gruppierungen« hegte. In der Mafia ist schließlich auch noch keiner was geworden, der den Regeln des Geschäftsbetriebs nicht folgt.

Da passt es doch ganz gut, dass eines ihrer Vorbilder die »unerschrockene« Margaret Thatcher ist, die »in einer Krisensituation Großbritanniens mutige Entscheidungen gefällt« habe. Die Frau mit dem falschen Gesicht, eine »undurchschaubare, knallharte Politikerin« (Institut für Frauenbiografieforschung Hannover), versucht nämlich derzeit, wie einst ihr britisches Vorbild, ihre Partei »konzeptionell auf eine Regierungszeit vorzubereiten« (Spiegel), und das gelingt ihr glänzend.

Das CDU-Programm hat sie dafür schon mal auswendig gelernt: das Bekenntnis zu den »nationalen Traditionen« Deutschlands, die Forderung nach einem innenpolitisch »starken Staat«, die »Unverantwortlichkeit« des Ausstiegs aus der Atomenergie, die permanente Rede von der »Verweigerungshaltung« der Gewerkschaften, die Forderung nach der Ausweisung »krimineller Ausländer«, das Plädoyer für Studiengebühren, Eingriffe in den Kündigungsschutz und die Tarifautonomie usw. usf.

In ihrer Zeit als Ministerin für Reaktorsicherheit beklagten sich Umweltverbände, dass sie die Castor-Transporte erzwang und sich »leidenschaftlich für die Atompolitik und den ungehemmten Straßenbau« einsetzte. Den CDU-Wahlkampfslogan »Kinder statt Inder« verteidigte sie ebenso wie Roland Kochs ausländerfeindliche Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Einer der jüngsten Streiche, die wir ihr zu verdanken haben, war die Installation des neoliberalen Wanderpredigers und Grinsemanns Horst Köhler, der sich für eine Art Zweitkanzler hält.

Kurz: »Niemand unter den erfolgreichen Ostpolitikern hat sich dem westlichen System so ausgesetzt wie Angela Merkel« (Alexander Osang).

Vor einigen Jahren schon ist sie mit einer Art Manifest an die Öffentlichkeit getreten, das den Titel »Die Wir-Gesellschaft« trägt. Darin heißt es unter anderem, »nationale Regelungen« müssten »auf ihre Wettbewerbsfähigkeit hin überprüft« werden, woraus sich die »Notwendigkeit« ergebe, »innovativer« zu sein und die »sozialen Sicherungssysteme auf eine breitere Grundlage zu stellen«, wie es zunächst etwas verwaschen ausgedrückt wird. In der Folge wird dennoch klar, worauf die »Neue Soziale Marktwirtschaft« hinauslaufen soll. Bevor steht uns nicht nur die »Privatisierung« von allem Möglichen, unter anderem des »Energiesektors« und der »Wasserversorgung«, sondern auch der »Einzug von Wettbewerbselementen« in die »sozialen Sicherungssysteme« und die Erweiterung der »Möglichkeit betrieblicher Partnerschaft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern«. Wer seine Sozialhilfe morgens zuerst abholt, hat gewonnen, und wer zu spät kommt, kriegt nichts mehr ab. Wem seine Arbeitstelle lieb und teuer ist, der soll gefälligst Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerung akzeptieren.

Und jetzt kommt der beste Satz: »Tabus darf es dabei nicht geben.« Übersetzt heißt das: Jede soziale Errungenschaft der Vergangenheit kann bei Bedarf zurückgenommen werden, wenn sie sich als hinderlich erweist beim Vorhaben Deutschlands, »international wettbewerbsfähig« zu sein.

Die Parteivorsitzende der CDU hat, wie wir sehen, im Jahr 2000 bereits das gegenwärtige Sozialabbauprogramm der rot-grünen Bundesregierung formuliert. Und auch heute findet sie, dass deren so genannten Reformen »in die richtige Richtung gingen«. Überhaupt sagt sie täglich dasselbe wie alle anderen auch: »Durchgreifende Reformen« seien »notwendig«, es gebe dazu »keine Alternative« usw. usf. Inzwischen dürfte klar sein, warum die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung die Frau als einen »Reformtornado« bezeichnet. Und auch der Spiegel freut sich schon auf die Kanzlerin Merkel: »Es geht jetzt um die ganz großen Umbauten im Land (…) Der Bundeskanzler hat das (…) durchgestanden. Merkel will weitergehen als er.« So sagt der Reformtornado beispielsweise: »Ich bin strikt dagegen, die notwendigen Veränderungsprozesse ewig zu dehnen und damit den Menschen dauerhaft Schmerz zuzufügen.« Also lieber eine rasche Amputation ohne Narkose als ein mühseliges Herumdoktern.

Dass nach 1990 wieder grenzenlos überall Profit gemacht werden konnte, bezeichnet Angela Merkel in ihrer Programmschrift als »weltweiten Siegeszug der Freiheit«. »Der Mensch« – hups! Entschuldigung! –, »das Humankapital«, ist in dieser Ökonomie der »entscheidende Rohstoff«. Der Rohstoff Mensch, das ist doch gleich viel hübscher und angemessener formuliert als das vernebelte Geschwafel der Parteifreunde mit dem christlichen Menschenbild. Da weiß man doch gleich, dass ein Herrenmensch spricht.

Frau Merkel meint: »Wer Solidarität anderer in Anspruch nimmt, muss umgekehrt den ihm möglichen Beitrag für die Gemeinschaft erbringen.« Wenn der Rohstoff Mensch nicht arbeitet, soll er auch nicht essen, soll das wohl ungefähr bedeuten. »Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und die Bereitschaft zur Hilfe – das sind die zwei Seiten unserer Wir-Gesellschaft.« Fassen wir also das Wesentliche an der so genannten Wir-Gesellschaft zusammen, schaut sie ungefähr aus wie folgt: Wer nicht bedingungslos jeden Job anzunehmen bereit ist bzw. eben seine eigene Persönlichkeit nicht in der Weise entfaltet, wie es das Sozialamt von ihm fordert, der soll auch nichts zu beißen haben bzw. für den gibt es eben auch keine »Bereitschaft zur Hilfe«. Anders formuliert: »Ich kann ja auch nicht in den Bergen die gleichen Schuhe tragen wie am Strand.«

Zwar ist klar, dass die Sozialhilfe ein Niveau hat, »bei dem man wahrlich nicht auf großem Fuß leben kann«, aber genauso klar ist: »Wer arbeitet, muss mehr haben, als wenn er nicht arbeitet.« Naja, so ähnlich irgendwie. Sie wissen schon, was gemeint ist. Zu verschenken und zu verteilen gibt es jedenfalls nichts.

Es handelt sich offenbar um ein Gesellschaftsmodell, das uns nicht ganz unbekannt ist. Früher nannte man es Kapitalismus. »Es geht mir darum, dass sich die Menschen wohl fühlen in ihrer Heimat. Das macht mir Freude.«

Frau Merkel, Herr Stoiber und Herr Koch sind also gar nicht so unterschiedliche Sorten menschlichen Rohstoffs. Manchmal fällt aber selbst jemandem wie Frau Merkel etwas auf: »Manche meinen deshalb auch, zwei Wochen ohne Reformidee wären auch mal wieder schön.«