Versorgen und vernichten

Die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik lässt sich als keynesianische Krisenlösung interpretieren. Doch der Ökonomismus übersieht den entscheidenden Unterschied. von gerhard hanloser

Götz Aly lenkt in seinem neuen Buch die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang zwischen volksstaatlicher Versorgung und Vernichtung im Nationalsozialismus. Dieser Hinweis ist, so grundsätzlich richtig er ist, nicht unbedingt neu. Schon vor Jahren hat eine Gruppe linker und linksradikaler Historiker versucht, genau diesen Zusammenhang zu beleuchten. So wurden in den »Beiträgen zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik«, an denen auch Aly als Herausgeber mitwirkte, Versorgung und Vernichtung als spezifische Klassenpolitik des Nationalsozialismus herausgearbeitet, ebenso in der Zeitschrift Autonomie – Neue Folge. Die fein säuberliche Scheidung von bürgerlicher und nationalsozialistischer Sozialpolitik wollte man nicht mittragen, weil man die nationalsozialistischen Vorläufer der modernen Sozialpolitik, -medizin und -pädagogik erkannte.

Vielleicht waren diese Kreise noch am ehesten dem Horkheimerschen Diktum verpflichtet, wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, solle auch vom Faschismus schweigen. Schließlich waren alle Bereiche des bundesrepublikanischen Sozialstaats von der nationalsozialistischen Politik beeinflusst und geformt, selbst jene, in denen die personellen Kontinuitäten nicht so offensichtlich waren wie in der Justiz, der Verwaltung und den Universitäten. Ist beispielsweise der Deutsche Gewerkschaftsbund nicht als Einheitsgewerkschaft in die Fußstapfen der Deutschen Arbeitsfront getreten? Wurde der bezahlte Urlaub nicht von den Nazis eingeführt? Lag die Autonomie – Neue Folge gänzlich daneben, als sie schrieb: »Stand noch eine Generation zuvor die Klasse dem industriellen Prozess ihrer Konstitution nach fremd gegenüber, so gehen ihre sozialen Bedürfnisse nun tendenziell in Konformismus und Konsum auf – in Deutschland ist dies die Erbschaft des NS.«

Theodor W. Adorno brachte dies rückblickend wie folgt auf den Punkt: »Ungezählten schien die Kälte des entfremdeten Zustands abgeschafft durch die wie immer auch manipulierte und angedrehte Wärme des Miteinander; die Volksgemeinschaft der Unfreien und Ungleichen war als Lüge zugleich auch Erfüllung eines alten, freilich von alters her bösen Bürgertraums.« Ebenso geht Aly von einer real verwirklichten Volksgemeinschaft aus. Doch der Hintergrund der Einbindung der Arbeiterklasse bleibt in seinem sehr detailverliebten, aber theorielosen Buch ausgeblendet.

Im Anschluss an den Historiker Timothy Mason wurde häufig auf die permanente Revolutionsangst der NS-Führung hingewiesen. Und tatsächlich resultierten die sozialpolitischen Verbesserungen und die Versuche, den Massenwohlstand anzuheben, aus der Angst vor einer vermeintlich rebellischen Arbeiterklasse, die von einem neuerlichen 1918 abgehalten werden sollte. Man sollte jedoch nicht den von allerhand Identifikationswünschen getragenen Irrtum der Neuen Linken wiederholen, dass es noch 1933 ein kämpferisches Proletariat in Deutschland gegeben habe. Die Arbeiterklasse war Ende der zwanziger Jahre bereits geschlagen. Verarmung, Inflation und Massenarbeitslosigkeit wirkten verheerend auf das proletarische Bewusstsein. Den »bösen Bürgertraum« machte sich auch ein nennenswerter Teil der Arbeiterschaft zu Eigen.

Faschismustheoretisch ist der Bonapartismustheorie zuzustimmen, wonach wegen der allgemeinen Paralysierung der Klassen der starke Führerstaat die ganze Gesellschaft zusammenfasste und die Sonderinteressen einzelner Klassen nachordnete. Sein paranoider Antikommunismus und seine Angst vor einer Revolution verband das deutsche Bürgertum mit der NSDAP. Die widersprüchliche Gestalt der NSDAP, die die Arbeiterparteien mit ihren Symbolen und sozialpolitischen Zielen beerbte und gleichzeitig für Stabilität, Ruhe und Ordnung sorgte, war eine Antwort auf die tiefe Krise des Kapitalismus.

Dabei war der Nationalsozialismus eine Sonderform einer Politik, die aus der allgemeinen Auflösung des Liberalismus hervorging. Der Glaube an die unsichtbare Hand des Marktes hatte sich nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 nicht nur in Deutschland erledigt. Der Keynesianismus brachte den Staat als produktiven Faktor ins Spiel, der zur inneren Kondition der Akkumulation wurde. Keynes selbst erklärte im Vorwort der deutschen Übersetzung seiner »General Theory«, dass seine »Theorie der Produktion als Ganzes (…) viel leichter den Verhältnissen des totalen Staates angepasst werden« könne.

Die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik mitsamt der Staatsverschuldung, der Kreditausweitung und der Lösung vom Goldstandard lässt sich in die keynesianischen Krisenlösungen einordnen. Wenn heute der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch auf die »entfernte Verwandtschaft« von New Deal und Nationalsozialismus aufmerksam macht, so ist auch dies nichts Neues.

Die Kritische Theorie der vierziger Jahre und der Rätekommunismus von Karl Korsch, Paul Mattick und Otto Rühle erkannten die Ähnlichkeit von stalinistischer Planwirtschaft, amerikanischem New Deal und deutschem Kriegskeynesianismus. Sie kritisierten bürgerlich-kapitalistische Herrschaftsformen ebenso wie deren totalitäre Verwandten.

Doch eine ökonomistische Sicht übersieht die entscheidenden Unterschiede: die ideologische Wirkungsmacht des Rassismus und Antisemitismus in Deutschland. Ärgerlich ist, dass Götz Aly die Frage der Ideologie nicht behandelt. Bereits in seinem mit Susanne Heim veröffentlichten Buch »Vordenker der Vernichtung« wollte er dem Antisemitismus keinen besonderen Stellenwert geben. Hier offenbart sich auch die größte Schwäche von »Hitlers Volksstaat«: Wie lässt sich der Durchhaltewillen im Krieg und die bis in die letzten Tage durchgeführte Vernichtung der europäischen Juden erklären, wenn doch »die Deutschen« nur wegen der materiellen Besserstellung aus ihrer Mitte heraus »beispiellose Massenverbrechen zulassen und begehen«?

Nach dem Winter 1941, spätestens aber seit 1942/43 war mit dem klaren Durchmarsch der deutschen Soldaten und einer Aussicht auf materielle Besserstellung Schluss. Propagandaminister Joseph Goebbels verlangte in seiner berüchtigten Berliner Sportpalastrede am 18. Februar 1943 nicht nur den »totalen Krieg«, sondern auch den Verzicht, der mit den Kriegsanstrengungen verbunden sein müsse. Im Rückgriff auf die frühe »Kampfzeit« der nationalsozialistischen Bewegung betonte er: »Das deutsche Volk will eine spartanische Lebensführung für alle, für Hoch und Niedrig und Arm und Reich.« Der Krieg, nicht die Pflege des Magens, sei nun die Hauptaufgabe.

Auch der aggressive, liquidatorische Antisemitismus spielte eine mobilisierende Rolle, nicht nur in besagter Goebbels-Rede. Herbert Marcuse stellte fest, dass die antisemitischen Stichworte gegen »Plutokraten« und »Finanzkapital« die »wahrscheinlich populärsten Parolen der Nazis« gewesen seien – gerade auch gegen Ende des Krieges. Dass dies so war, lässt sich nicht nur als generalisierte Projektion der eigenen Raublust auf die imperialistisch-»plutokratischen« Länder wie Großbritannien deuten. Der sich steigernde Antisemitismus in der Propaganda zeigt vielmehr, dass im Vernichtungsprogramm eine »Erlösung« angestrebt wurde, die sich »die Deutschen« in anderen Bereichen längst abschminken mussten.

War die nationalsozialistische Gesellschaft, wie Franz Neumann herausstellte, immer noch eine Klassengesellschaft, so sorgte doch der allen bekannte oder zumindest erahnte Massenmord dafür, dass sich die Deutschen zu einer Volksgemeinschaft zusammenschweißten. Dazu gesellte sich Angst vor Rache, insbesondere einer halluzinierten jüdischen. »Genieß den Krieg, denn der Frieden wird fürchterlich sein«, hieß es damals. Doch der Frieden wurde nicht fürchterlich – ganz im Gegenteil, dank des Kalten Krieges wurde die BRD schnell in den Westen eingemeindet. Dass Ludwig Erhard ab 1948 deutlich jeden weitergehenden staatlichen Interventionismus ablehnte und sich bereits damals eine spezifische Form des dirigistischen Liberalismus konstituierte, der wirtschaftliche Freiheit, Wachstum, Wohlstand und Geschichtsvergessenheit offerierte, muss Aly in den interessierten Aktualisierungen seiner Thesen verschweigen.

Das Problem sind nicht Alys Erkenntnisse, wonach das nationalsozialistische ein System der materiellen Einbindung und Bestechung der subalternen Klassen war und dies über 1945 tradiert wurde, sondern seine interessierte Standpunktlosigkeit, die wiederum – im Sinne des frühen Horkheimer – Ideologie ist und die wirtschaftliche und politische Elite des NS entlastet.

Wollten die Rätekommunisten mit ihrem linksradikalen Antitotalitarismus, der New Deal, Stalinismus und Faschismus auf einen Nenner bringt, noch den sterbenden, autonomen Klassenkämpfen gegen die totale Herrschaft zu ihrem Recht verhelfen, so will der eine oder andere deutsche Revisionist und Bürger mittels Totalitarismustheorie die Besonderheit des Nationalsozialismus vertuschen oder den Liberalismus gegenüber allen möglichen Kollektivismen feiern.

Denunzierten die Linksradikalen die Ruhe im »Modell Deutschland« als postfaschistisches Erbe und sprachen von einer totalen Subsumtion der Arbeiterklasse unter das nationale und produktive Kommando, so scheint Aly sozialstaatliche Leistungen abgebaut und die dysfunktionale Herrschaft des Wohlfahrtsstaats flexibilisiert wissen zu wollen. Mit der Wende weg vom alten Sozialstaat liefert er mit seiner Beschreibung von materieller, »sozialstaatlicher« Versorgung im Nationalsozialismus bloß einen scheinbaren Tabubruch.

Aus einer Einsicht, der in der keynesianischen Epoche eine sprengende Kraft hätte zukommen können, ist nun eine funktionale Ansicht geworden. Doch die Intention verdirbt das richtig Bemerkte. Auch wenn es nicht der ganzen historischen Erkenntnis über den deutschen Faschismus entspricht, sollte sich derjenige, der auf den Rückgriff auf die Vergangenheit angewiesen ist, um die Gegenwart kritisieren zu können, ins Gedächtnis rufen, dass insbesondere der Aufruf zum Verzicht zum Nationalsozialismus gehörte.

Von Gerhard Hanloser erschien im Unrast-Verlag: »Krise und Antisemitismus«. Münster 2003, 136 S., 13 Euro