Ich, der Künstler ES

Wolfgang Schneider hat ein schönes Buch über den unbekannten Maler Eberhard Schlotter geschrieben. von jörg sundermeier

Trotz seines stattlichen Alters von 85 Jahren ist er noch immer ein weithin unbekannter Künstler: der Maler Eberhard Schlotter. Sieht man einmal ab von ein paar hartnäckigen Anhängern, die zumeist durch die Lektüre Arno Schmidts auf den Maler aufmerksam wurden, so hat das Werk Schlotters keine größere Wirkung entfaltet. Erst recht hat es keine Schule gemacht. Eine Schlotter-Stiftung, die seine Geburtsstadt Hildesheim im Jahr 1981 gründete, nahm nie ernsthaft die Arbeit auf, und als sich elf Jahre später die Stadt Celle auf Betreiben eines Verwandten nun ihrerseits zur Etablierung einer Schlotter-Stiftung entschloss, trat Hildesheim die ihr überlassenen Werke allzu gern an die neue Stiftung ab. In den einschlägigen Kunstlexika und Kunstgeschichten wird Schlotter entweder nicht erwähnt oder aber in ein paar Sätzen der surrealistischen Schule zugeordnet.

Nun wäre ein Maler, der sich seit den vierziger Jahren nicht vom Surrealismus zu lösen vermochte, allerdings kaum der Rede wert. Wenn dann eine Monographie zur Spätphase von Schlotters Schaffen erschiene, wäre bestenfalls eine Gefälligkeitsarbeit zu erwarten, deren einziger Zweck darin bestünde, im Auftrag des Künstlers oder seines Galeristen den Wert der Bilder zu steigern.

Daher überrascht die umfangreiche Monographie, die nun der konkret-Redakteur Wolfgang Schneider vorgelegt hat, in jeder Hinsicht. Zum einen ist »Abgesänge. Eber­hard Schlotter – Das späte Werk« wohl eines der schönsten Bücher, das in den vergangenen Monaten erschienen ist. Sehr aufwändige Reproduktionen von Schlotters Bildern wurden im hinteren Tafelteil platziert, während sich vorne auf hochwertigem Papier und in einem ebenso aufwändig gestalteten Satzbild Schneiders Ausführungen zum Werk und zur Arbeitsweise finden. Die hier noch einmal – in schlechter Auflösung – reproduzierten Bilder und der umfangreiche Fußnotenapparat dürften den Setzer an den Rand des Nervenzusammenbruchs getrieben haben. Dennoch entsteht der Gesamteindruck, dass dieses Buch ein äußerst liebevolles Lektorat erfahren hat.

Schneider verfolgt zwei Ziele. Einerseits, den Maler Schlotter bekannter zu machen und ihm den gebührenden Platz in der Gegenwartskunst einzuräumen. Andererseits aber muss Schneider auch gegen die Anhänger und Interpreten Schlotters vorgehen, die den Maler in eine Umgebung rücken, in die er nicht gehört. Bereits im Vorwort entschuldigt sich Schneider für die Umstände, die diese Arbeitsweise mit sich bringt. Am Beispiel einer Brecht-Zeichnung Schlotters, die erste Interpreten fälschlicherweise für ein Bild aus den fünfziger Jahren hielten, exerzierten sie ihre eigene Sicht auf Brecht durch: Schlotter habe einen Brecht zeigen wollen, der unter der Repression der DDR gelitten hat. Alle Details z.B. ein auffällig kleiner Sessel, auf dem der Dichter sitzt, das Gesicht, das Brecht »sarkastisch lächelnd« zeigt, wurden als Schlotters Interpretation des Brechtschen Leidens an den Verhältnissen wahrgenommen. Schneider wischt diese Interpretation mit leichter Hand vom Tisch, denn die Zeichnung Schlotters geht einschließlich Sessel und Lächeln auf eine Fotografie aus dem Jahr 1931 zurück. Wie sollte Brecht schon damals unter der DDR gelitten haben?

Mit diesem Beispiel setzt Schneider zugleich einen Maßstab für seine eigenen Interpretationen und hält sich anschließend daran, selbst dann, wenn dieser Maßstab ihn zwingt, Schlotters eigene Angaben zu korrigieren. Schneider gelingt es dadurch beinahe immer, den gebotenen Abstand zu wahren. Er beschreibt eindringlich, wie sich das Werk Schlotters – ES sind die Initialen des begeisterten Freudianers – seit den achtziger Jahren entwickelt hat, wie es allmählich und immer mehr das Figürliche verließ, seine Bildsprache reduzierte, und begann, den Zugang zur Innenwelt des Malers zu verschließen. Schlotter selbst ist ein schwieriger Charakter. Er weiß, wie es ein Künstler wissen sollte, um den Rang seines Werkes. Zugleich hat ihn die fortdauernde Missachtung offensichtlich eitel gemacht.

»Fand einen schönen Titel für die Bilder dieses Jahres bei Arno Schmidt. In ›Zettel’s Traum‹ beschreibt er auf einem Bild von mir den abnehmenden Mond als Abgesang. Ab-gang, Abg(es)ang. Wie schön sich im Abgang das ›es‹ festhält. So bekommt das Wort tatsächlich eine neue Deutlichkeit, und es hat einen sauberen Anteil dieses schmerzhaften Alterns. Gliederschmerzen, Müdigkeit und neben mir ein 70jähriges Mäuschen mit seinem Kampf gegen den Krebs. Abgesang, haha. Loth und Lortz und Hensel haben kürzlich eine kleine Fressreise nach Lothringen gemacht und dann festgestellt: ›Wir sind jetzt auf der Zielgeraden.‹ Das ist sauber, amigos. Ein Leben im Dienst der Kunst, und ein bisschen was wird übrig bleiben. Und wie sich die Plätze hinter uns besetzen, und das viele Geschrei.« Das »Mäuschen« in diesem Tagebucheintrag Schlotters von 1992 ist Dorothea Schlotter, seine Frau, die bald darauf dem Krebs erlag.

Schneider hatte das Glück, Einblicke in Schlotters Tagebuch gewährt zu bekommen. Die Leserinnen und Leser profitieren davon, denn die Tagebucheinträge eröffnen da, wo sich Schlotters Bildwelten dem Betrachter zusehends versperren, neue Anhaltspunkte zur Interpretation. Schlotters Stilleben aus den frühen neunziger Jahren etwa, dunkle Bilder, in denen Urnen – wenn man so will – seitwärts abgehen, wirken vor dem Hintergrund von Vergänglichkeit und Tod noch nachdrücklicher, als sie es ohnehin schon tun.

Schneider verfolgt auch die Abwendung von Arno Schmidt, der in Schlotter einen großen Künstler sah, ihn jedoch auch stets zu beeinflussen versuchte. Das war nicht immer gut. Denn Schmidt konnte Malerei nicht denken, er dachte in literarischen Mustern und beschrieb Schlotters Bilder entsprechend. Das Kapitel, in dem Schneider Schlotters Lösung von Schmidt beschreibt, die lange nach dem Tod des Dichters stattfand, ist eines der eindringlichsten in diesem durchweg auch für Laien spannenden Werk.

Nicht minder interessant ist die Interpretation einer der letzten Illustrationsarbeiten des Malers: des Don-Quichotte-Zyklus. Schlotters Don Quichotte ist ein Träumer, der vom Autor Cervantes verraten und verhöhnt wird. Schlotter versucht dagegen, die Ehre des selbst ernannten Ritters zu retten, indem er ihn als scheiternden Menschen, nicht als Idioten zeigt. »Der Gute, der in der Rolle des Nachdenkenden, des Schöpferischen für sich entdeckt, dass die Realität ihrem Wesen nach enttäuschen muss, beschließt einfach, sie nicht anzuerkennen. Was für ein Konzept!«, jubelt Schlotter.

Wolfgang Schneider ist es gelungen, ein Kunstbuch zu schreiben, das seinen Gegenstand lobt, ohne in eine hagiographische Erzählung zu verfallen. Zu hoffen ist, dass mit diesem Buch die Entdeckung des Malers beginnt.

Wolfgang Schneider: Abgesänge. Eberhard Schlotter – Das späte Werk. Justus von Liebig Verlag, Darmstadt 2005, 688 Seiten, 30 Euro