Rote Linie im Schnee

Die türkische Militäroperation im Nord­irak hatte diesmal die Unterstützung der USA. Doch die US-Regierung drängt auf politische Reformen, die auch in der Türkei mehr Befürworter finden. von thomas von der osten-sacken, suleymaniah

Die Offensive im Nordirak endete so überraschend, wie sie begonnen hatte. Am Freitag vergangener Woche gab der irakische Außenminister Hoshiar Zebari bekannt, die türkischen Soldaten würden sich aus dem Irak zurückziehen. Die Militäroperation sei »wie geplant« abgeschlossen worden, sagte am Montag der türkische Präsident Abdullah Gül.

In der Regel herrscht in den kurdischen Bergen bis Mitte März eine durch das Winterwetter bedingte Kampfpause. Umso erstaunlicher scheint auf den ersten Blick die Entscheidung der türkischen Regierung und Militärführung, ausgerechnet im Februar mit ihrer lang angekündigten Offensive gegen PKK-Stellungen im Nordirak zu beginnen. Im Quandil-Massiv, das sich über das Dreiländereck Iran, Türkei und Irak erstreckt, liegt der Schnee noch meterhoch. Begleitet von Luftangriffen und Fallschirmspringereinsätzen überquerten 10 000 türkische Soldaten die Grenze und lieferten sich zehn Tage lang mit den PKK-Einheiten heftige Gefechte.

Da die beiden Kampfregionen, neben Quandil die Berge nördlich des Zab-Flusses, insbesondere im Winter weitgehend unzugänglich sind, liegen bislang nur wenig verlässliche Informationen vor. Beide Seiten verbreiteten Siegesmeldungen. Kurz vor dem offiziellen Ende der Aktion gab das türkische Militär bekannt, man habe mindestens 231 PKK-Kämpfer getötet, die eigenen Verluste beliefen sich auf lediglich 24 Soldaten. Der PKK zufolge mussten mindestens 80 türkische Soldaten ihr Leben lassen, zudem habe man einen Cobra-Hubschrauber abgeschossen. Sicher ist, dass die Gefechte an der Grenze die heftigsten seit Jahren waren.

Glaubt man dem türkischen Militär und der ­Regierung, so unterschied diese Aktion sich auch sonst von ihren Vorläufern. Erstmals konnte die Armee auf Geheimdienstinformationen und Satellitenaufnahmen der USA von PKK-Lagern zu­rück­greifen. Die US-Außenministerin Condoleezza Rice stellte sich in den ersten Tagen der Invasion ausdrücklich hinter die türkische Regierung. Zudem existierte zumindest eine Art Stillhalteabkommen sowohl mit der Regierung in Bagdad als auch der irakisch-kurdischen Regionalregierung in Arbil, die erst 24 Stunden nach Bekanntwerden der Aktion öffentlich reagierte.

Anders als im vergangenen November, als die Türkei erstmals nach Jahren wieder grenzüberschreitende Aktionen begann, verhielten sich die irakischen Kurden auffällig zurückhaltend. Zwar forderte die kurdische Nationalversammlung in Arbil ein sofortiges Ende der Aktion, und auch in Bagdad verurteilte der Regierungssprecher Ali Dabagh die Invasion, größere Demonstrationen blieben jedoch ebenso aus wie eine symbolische Mobilisierung der irakisch-kurdischen Peshmerga-Milizen. Dilshad Barzani, Vertreter der kurdischen Regionalregierung in Deutschland und Bruder des Präsidenten Massud Barzani, sagte dem Kölner Stadtanzeiger: »Türken und Amerikaner kennen unsere rote Linie. Unsere Städte und Straßen dürfen nicht gesperrt werden. Unser Land darf nicht zum Kriegsschauplatz werden. Wir haben auch die PKK gewarnt, ihren Kampf keinesfalls in bewohnte Gebiete zu tragen.«

Die Türkei hatte zwar erreicht, dass sowohl die USA als auch die EU eine kurzfristige Offensive duldeten. Die türkische Regierung war man sich allerdings auch bewusst, dass man sich, wie Cengiz Çandar, Kommentator der nationalistischen türkischen Tageszeitung Hürriyet, schrieb, auf einem schmalen Grat bewegte: Weder dulden die USA eine langfristige Besatzung irakisch-kurdischen Gebiets in Form einer Pufferzone noch eine Destabilisierung der Region. Immerhin seien die irakischen Kurden enge Verbündete der USA, und Peshmerga-Einheiten sorgten in Bagdad, Mosul und dem sunnitischen Dreieck Seite and Seite mit US-Soldaten für die Befriedung des Landes. Einen Bruch mit den Kurden könne die US-Regierung sich nicht erlauben; sollten kurdische Kampf­einheiten aus dem Zentral- und Südirak abgezogen werden, drohe dort erneut ein Ausbruch von Chaos und Terror.

Ein langer Krieg in den Bergen hätte für die Türkei aber auch andere negative Folgen. Während im Nordirak die Invasion vergleichsweise gelassen hingenommen wurde, entlud sich in den kurdischen Städten Südostanatoliens der Unmut. Hier hat die PKK noch immer viele Unterstützer. Sie ist in letzter Zeit politisch eher in die Defensive geraten, doch die Bilder von kämpfenden Guerilleros stärken erneut ihr Ansehen. Die beste Werbung für die PKK sei immer noch das türkische Militär, meint auch im Gespräch ein der PKK nahe stehender Schriftsteller in Arbil: »Immer wenn es zu Angriffen kommt, interessiert sich die ganze Welt für den kurdischen Kampf.«

Nicht nur die US-Regierung drängt inzwischen auf eine politische Lösung der so genannten Kurdenfrage. Offensichtlich war die Unterstützung für eine kurzfristige Invasion mit der Forderung nach Reformen in der Türkei verbunden. Mit bislang seltener Deutlichkeit forderte Verteidigungsminister Robert Gates die türkische Regierung auf, einen »konstruktiven Dialog« mit der von ihr bislang offiziell nicht anerkannten Führung der irakischen Kurden aufzunehmen und »ökonomische und soziale Initiativen« im Südosten der Türkei in Angriff zu nehmen. Auch türkische Zeitungen mit unterschiedlicher politischer Orientierung stellen ähnliche Forderungen. Mehmet Metiner, Kommentator von Bugün, wünscht sich eine Anerkennung der »nordirakischen Administration«, die Sabah drückt ihre Hoffnung aus, eine militärische Zerschlagung der PKK könne nun endlich den Weg für eine »nachhaltige politische Öffnung« ebnen. Ohne politische Einbettung sei auch die jüngste Militär­initiative zum Scheitern verurteilt.

Bereits im November waren ähnliche Töne zu vernehmen. Auch wenn die wenigen Reformen, die die AKP-Regierung in dieser Hinsicht bislang auf den Weg gebracht hat, nicht einmal als kosmetisch zu bezeichnen sind, hat sich in der öffentlichen Meinung in der Türkei einiges geändert. Außer kemalistischen Hardlinern scheint niemand mehr ernsthaft zu glauben, das »Kurdenproblem« sei mit Gewalt zu lösen. Diesmal äußerten einige säkulare türkische Analytiker die Vermutung, die Invasion solle lediglich von dem Kulturkampf ablenken, den die AKP kürzlich mit der Aufhebung des Kopftuchverbots in den Universitäten vom Zaun gebrochen habe. Beide Ereignisse seien eng miteinander verknüpft, meinte etwa der General a. D. Haldun Solmazturk im Gespräch mit der kemalistischen Tageszeitung Milliyet.

Es ist also fraglich, ob die Militäraktion im Nord­irak in eine politische Strategie eingebettet ist oder nur ein weiterer vornehmlich innenpolitisch motivierter Militärschlag ohne weitreichende Konsequenzen war. Sollte die türkische Regierung ernsthaft Reformen durchführen wollen, ob auf Druck der USA oder aus eigener Einsicht, dann könnte eine als militärischer Sieg über die PKK deklarierte Offensive auch eine propagandistische Waffe darstellen. Schließlich versucht die türkische Armee seit fast 25 Jahren, die »Kurdische Arbeiterpartei« zu besiegen. Anders als in der Vergangenheit genießt sie derzeit weder die volle Unterstützung von USA und Nato, noch kann die Türkei die neue Realität jenseits der Grenze leugnen: Die international anerkannte Autonomie der Kurden im Irak wird auch weiter Bestand haben.

Trotz teils martialischer Erklärungen hat weder die kurdische Regionalregierung noch die Türkei ein Interesse an einer Destabilisierung des bislang relativ ruhigen Nordirak. Erst dann nämlich böte sich hier verschiedenen militanten Organisationen und Terroristen ein fruchtbarer Nährboden. Ohne weitgehende Zugeständnisse an die Kurden in der Türkei aber wird es keine Lösung geben. Die Qandil-Berge sind militärisch weder von irakischer noch von türkischer Seite zu kontrollieren, und die PKK wird ihre bewaffneten Einheiten dort unterhalten, bis die Türkei zu ernsthaften Kompromissen und einer Amnestie bereit ist. Als Vermittler bieten sich seit längerem die beiden großen irakischen Kurdenparteien an, die sich zudem eine offizielle Anerkennung ihrer Regierung durch die Türkei erhoffen. Ein solcher Schritt fände sicher die Unterstützung der USA, die zugleich Druck auf die irakisch-kurdische Führung aus­üben, sich kompromissbereiter gegenüber der irakischen Zentralregierung zu zeigen. Erstes Ziel der US-Regierung ist die Befriedung des Gesamt­irak, notfalls auch zu Ungunsten kurdischer Aspirationen. Hierfür ist die Kooperation des Nato-Alliierten Türkei notwendig.

Obwohl Äußerungen wie die des irakischen Präsidenten und Führers der Patriotischen Union Kurdistans (Puk), Jalal Talabani, der auf dem türkischen Sender Kanal D erstmals die PKK als »terroristische Organisation« bezeichnete, auf Unverständnis stießen, hält sich die Unterstützung für die türkisch-kurdischen Kämpfer im Nordirak in Grenzen. Solidaritätsbekundungen sind eine Sache, die Vorstellung, in einen Krieg mit der Türkei gezogen zu werden, eine andere. Erst Tote unter der irakisch-kurdischen Zivilbevölkerung hätten zu einem Stimmungswandel geführt. Denn zwischen Zakho und Halabja herrscht dieser Tage Unzufriedenheit mit der eigenen Regierung. Die schlechte Stromversorgung oder die grassierende Korruption beschäftigen die Menschen weit mehr als das Schicksal der PKK. Gerade erst wurde eine unabhängige Organisation namens Hatakay gegründet, deren Ziel es ist, eine Million Unterschriften zu sammeln, um so Neuwahlen für das kurdische Regionalparlament zu erzwingen.

Der Konflikt in den kurdischen Bergen des Nord­irak bleibt bislang trotz der jüngsten Zuspitzung begrenzt, trotz widerstreitender Interessen riskiert keine Seite eine unkontrollierbare Eskalation. Dies unterscheidet ihn von so vielen anderen Auseinandersetzungen in der Region und lässt weiter auf eine politische Lösung hoffen.