Der Film »Ein Geheimnis« von Claude Miller

Das Leben ist schön

Claude Millers Literaturverfilmung »Ein Geheimnis« ist Jugenddrama, Geschichtswerkstatt, Antifaschismus und beste Schauspielerei.

Erinnerung – und was sie für die Gegenwart bedeutet, das ist das große Thema von Claude Millers Literaturverfilmung »Ein Geheimnis«. Die­ser Film baut auf einer Grunderfahrung eines jeden auf, die der Selbstbewusst­werdung. Und dieser Erkenntnisfortschritt fällt gern in die Zeit der Pubertät, jene Le­bensphase, in der nichts mehr stimmt und die mit ihrer charakteristischen Ungewissheit und dem Unwohlsein nicht selten bis ans Lebensende anhält.
Um eine dramatische Erinnerungsgeschichte zu erzählen, bietet die Bruchlinie zwischen Kind­­heit und Erwachsensein mehr als ideale Vor­aussetzungen. Wer bin ich, warum bin ich es, was habe ich davon? lauten die Fragen dieses schwierigen Lebensabschnitts. Die Antworten gefallen den wenigsten, und sie enttäuschen oft genug.
Eine ebensolche juvenile Seinswendung erzählt Claude Miller auf der Grundlage von Phillippe Grimberts autobiographischem Roman. Fast 50 Jahre nach Kriegsende entschied sich der Autor Philippe Grimbert, Psychoanalytiker aus Paris, die Geschichte seiner Familie aufzuschreiben: Er erzählt aus der Sicht eines Nachgeborenen die Geschichte des europäischen Judentums im Zweiten Weltkrieg. Dass seine Fa­milie wie viele andere auch den drängenden Gefühlen von Verlust und Schuld mit Anpassung und Schweigen begegnet, mochte ihm nicht genügen. Aber Grimbert ist weit davon entfernt zu urteilen – in seiner Recherche erscheinen die Verwandten als Protagonisten einer Ge­schich­­te, der sie ausgeliefert waren und daher Fehler begingen. Sie sind zu unmöglichen Dingen gezwungen worden.
Im Film tritt Autor Grimbert als François auf; im Alter von sieben (Valentin Vigourt), 15 (Quentin Dubuis) und 37 Jahren (Mathieu Am­alric). Als Jugendlicher soll er die Wahrheit kennen lernen, die er als Kind schon intuitiv vorwegnahm; aber erst als Erwachsener wird er die Möglichkeiten haben, seine eigene Vergangenheit zu analysieren.
Zu Beginn stellt sich die Sache für ihn so dar: Seine Familie besteht ganz klassisch aus Mama, Papa, Kind. Die Grimberts sind auf den ersten Blick nicht unglücklich. Seit Kriegsende betreiben sie ein kleines Modegeschäft, Mutter Tania ist so schön, dass sie sogar modelt.
Dennoch, eine Sache stimmt nicht so ganz: Vater Maxime (Patrick Bruel) hat so ganz andere Vorstellungen davon, wie sein Sohn sein soll­te. Da ist eine unausgesprochene Trauer, wenn der gelernte Turner den Jungen an die Ringe oder den Barren hängt. Denn François ist so schmächtig, dass alle Kraftübungen verlorene Liebesmüh zu sein scheinen. Er kommt so gar nicht nach den sportlichen Eltern – auch Mutter Tania (Cécile de France) ist leidenschaftliche Athletin, eine Schwimmerin. Um sich zu trösten, phantasiert sich François einen großen Bruder herbei. Der große Bruder, der alles kann. Und das heißt vor allem, dass er François beschützen kann. In der Realität findet er in der jüdischen Nachbarin Louise (Julie Depardieu) eine Verbündete.
François spürt auch mit den Jahren immer mehr, dass seine Eltern nicht ganz offen sind. Auf dem Dachboden findet er Hinweise, die für den Vater eine überaus schmerzliche Bedeutung zu haben scheinen – Vater schweigt aber immer nur. Da auch seine Mutter Tania nur ausweichend auf seine Fragen reagiert, verbleibt allein Louise als sichere Informationsquelle.
So teilt sie ihm eines Tages mit – er ist mitt­lerweile 15 und stellt Fragen –, dass zu seiner Kleinfamilie noch einmal Mutter und Kind gehörten, Maximes erste Frau Hannah (Ludivine Sagnier). Und der große Bruder ist nie Einbildung gewesen: Er hieß Simon (Orlando Nicoletti) und war ein echtes Kind des Turnvaters – mit drei konnte er auf den Händen laufen.
Maxime verliebte sich noch am Tag seiner eigenen Hochzeit mit Hannah in Tania.
Einige Jahre später wusste auch Hannah, was die Stunde geschlagen hat: Im Schwimmbad, die­sem zentralen Ort des Films, beobachtet sie, wie Maxime seiner Schwägerin nachstarrt. Han­nah ist nah am Wasser gebaut, jede Tasse, die auf den Boden fällt, löst heftige emotionale Erschütterungen aus. Wie muss es erst bei echten Krisen sein.
Bald sind die Deutschen in Paris einmarschiert und verbreiten Terror. Die Juden müssen Sterne tragen, Berichte über Internierungen tun ihr Übriges, um Angst zu schüren. Die Pariser Juden sind hin- und hergerissen: Sollen sie nun ausharren oder flüchten?
Nur Maxime plant gemeinsam mit Vetter Georges, über die Demarkationslinie in den freien Ort Saint Gaultier zu flüchten. Die Frauen sollen alsbald nachkommen. Mit der Hilfe von Schleusern gelingt ihr Vorhaben auch.
Die in Paris gebliebene Hannah erfährt aber bald, dass auch Tania in Saint Gaultier eingetroffen ist. Hannah hat nun die Gewissheit, dass sie Maxime an die Schwägerin verlieren wird. Die weiteren Fluchtvorbereitungen überlässt sie den Freundinnen Louise und Esther.
Mit gefälschten Papieren gelingt den drei Frau­­en und Simon die Flucht, allerdings ist Han­­nah in einem erbärmlichen emotionalen Zustand. Denn sie muss dorthin flüchten, wo sie ge­wiss niemand haben möchte. Wo soll sie hin? In Paris wird sie mit Sicherheit getötet wer­den.
Als die Reisegruppe in einem südfranzösischen Gasthof auf die Schleuser wartet, taucht die Polizei auf. Bei Louise und Esther haben sie nichts an den Papieren auszusetzen – es sind gute Fälschungen. Hannah aber befindet sich in einer schweren depressiven Phase. Als hätte sie nur auf eine Kontrolle gewartet, legt sie ihre echten Papiere auf den Tisch, denen zu ent­nehmen ist, dass sie und Simon Juden sind. Die beiden werden verhaftet.
Louise und Esther kommen durch und treffen Maxime und Tania. Die beiden Liebenden können sich eine Weile zurückhalten – aber die Anziehungskräfte sind zu groß, sie werden nicht umsonst bis ins hohe Alter ein Paar bleiben.
François aber wird eines Tages genau wissen wollen, was mit seiner engsten Verwandtschaft geschah. Als erwachsener Mann – wir befinden uns nun in der Gegenwart – wendet er sich an den Anwalt Serge Klarsfeld, der herausfinden wird, was mit Hannah und Simon geschah. Am Schluss ist er damit dennoch nicht angelangt.
Aber das Ziel ist erreicht, die Erzählung ist ge­brochen. Der scheinbar rationale Charakter der Wirklichkeit, das Kernstück aller Erinnerung, wird uns vor Augen geführt. Regisseur wie Autor wissen, das unglaubliche Geschehen macht sich an der Geschichtsstruktur zu schaffen.
Dieser Film ist Fiktion, und dann auch wieder nicht, diese Geschichte ist wahrhaft verwirrend und unglaublich. So unglaublich verwirrend, lässt uns der Regisseur durch seine strapazierten Figuren mitteilen, wie es das ganze 20. Jahrhundert war.
Dass Erinnerung eine Re-Inszenierung sei, das ist hier das Ziel der Fotografie: Miller setzt es mit schönen, großen Bildern in Szene und stellt damit sehr starke Kontraste her. Die Menschen in seinem Film sollen attraktiv sein, sie sind witzig, wenn sie über das Tragen der gelben Judensterne spotten. Die nationalsozialistische Realität erreicht den Zuschauer nur in Spu­­renelementen – hier eine Träne, dort das Schild, dass Juden der Zutritt zum Schwimmbad unter­sagt ist. Dennoch ist die Bedrohung allgegenwärtig und macht die Spannung aus – sie stellt sich zwischen den Protagonisten ein, ihrer Schönheit und der hässlichen Wirklichkeit. Die Erinnerungen der Familie, die oral history, die der Junge allein durch seine Anwesenheit weckt, und die Lebenslügen, die er allein durch seine Anwesenheit prüft – sie konfrontieren ihn und den Zuschauer mit der drastischen Aussage, dass das Leben vor ihm da war und er ein Schick­sal hat, das er wenig beeinflussen kann.
Jugenddrama, Geschichtswerkstatt, Antifaschismus und beste Schauspielerei, all das vereint dieser Film.

»Ein Geheimnis«. F 2007. Regie: Claude Miller, D: Patrick Bruel, Cécile de France, Ludivine Sagnier, Start: 18. Dezember 2008