Die Verwissenschaftlichung von Fußball

Die Rache an Rehhagel

Christoph Biermann schreibt über die Verwissenschaftlichung des Fußballs.

Den vielleicht besten Grund, dieses Buch zu kaufen, zuerst: eine zweiseitige Polemik gegen Otto Rehhagel, den Mann, der die Europameisterschaft 2004 verdarb. Zum ersten Spiel der Griechen bei der EM 2008 in Salzburg, schreibt Christoph Biermann, sei er »aus niederen Beweggründen« gereist: »Ich wollte Otto Rehhagel untergehen sehen. Vier Jahre zuvor war ich durch die Hitze des portugiesischen Sommers gefahren und hatte gelitten, als Griechenland sich zum Titelgewinn mauerte. Ich mochte den Spaßverderberfußball nicht, und dass Otto Rehhagel auf der Bank saß, machte es kaum besser.« Mit jeweils 1:0 gewannen die Griechen damals ein Spiel nach dem anderen, besiegten den Offensivfußball der Tschechen ebenso wie Franzosen und Portugiesen. »Mein Trip kam einem Exorzismus gleich. Ich wollte die Fußballgeschichte korrigiert sehen«, hoffte Biermann. Rehhagel tat ihm 2008 den Gefallen, sein Team verlor gegen die Schweden mit 0:2 und danach auch die weiteren Gruppenspiele.
Der EM-Sieg der Griechen blieb ein Betriebsunfall. 2008 gewannen die Spanier, deren Kombinationsfußball das Anspruchsvollste und Beste war, was die EM zu bieten hatte. So fällt es Biermann leicht, am Ende doch generös eine Lanze für Rehhagel brechen: Im Grunde habe dieser in Portugal »genial« gehandelt, weil er aus der Situation der Griechen einen »originellen Schluss« gezogen habe, nämlich mit dem veralteten Libero-System zu spielen.
Die Titelgewinn der Spanier oder der Champions-League-Sieg des FC Barcelona sind für Biermann, Sportkorrespondent des Spiegel, aber ein Zeichen dafür, dass die Entwicklung und Verwissenschaftlichung der Methoden im Fußball auch dessen Ästhetik befördern. Weg mit Gerumpel und Sieg-durch-Willenskraft-Methodik, kurz: weg mit dem Stil, der die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in den achtziger und neunziger Jahren geprägt hat. Spätestens nach der aus deutscher Sicht missratenen EM 2004 begann auch hier die Diskussion über moderne Fußballmethodik. Deren Entwicklung beschreibt erstmals umfassend Biermanns Buch »Die Fußball-Matrix – Auf der Suche nach dem perfekten Spiel«.
Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind Mannschaften wie die TSG Hoffenheim oder der SC Freiburg, Clubs, die deutlich besser spielen, als es der Personaletat hergibt. Im Fußball, schreibt Biermann, gebe es zwei Arten von Vereinen: die produktionsmittelbasierten, also die reichsten, die sich die besten Spieler kaufen könnten; und die wissensbasierten, die etwa durch »besonderes Training, durch taktische Raffinesse, gute psychologische Betreuung« ihren Wettbewerbsnachteil ausgleichen können. Dabei seien die Clubs, die »strategisch vorgehen und systematisch versuchen, sich einen Vorteil zu verschaffen, in der Minderzahl«.
Biermann hat mit Hoffenheims Verantwortlichen und mit Volker Finke gesprochen, Statistiker interviewt, das Milan Lab besucht, mit dem der AC Mailand ältere Spieler auf höchstem Niveau leistungsfähig hält, und widmet der »hohen Kunst des Fehleinkaufs« (und dessen Vermeidung) ein eigenes Kapitel.
Auch im Fußball sind es in der frühen Phase oft Außenseiter, die neue Ideen ins System hineintragen und dessen Entwicklung damit befördern. Fast schon legendär ist der Auftritt des damaligen SSV-Ulm-Trainers Ralf Rangnick 1998 im ZDF-»Sportstudio«, für den er den spöttischen Beinamen »Professor« erntete. Rangnick hatte an einer Tafel die Viererkette in der Abwehr erklärt, die Grundlage modernen Fußballs, wie er in Italien oder England längst erfolgreich praktiziert wurde. Weniger bekannt ist
die Geschichte, die Biermann über den Ursprung von Rangnicks Methodik erzählt. In Deutschland war Helmut Groß, Trainer des SC Geislingen und im Hauptberuf Ingenieur für Brückenbau, in den achtziger Jahren einer der ersten, der die ballorientierte Raumdeckung in den Fußball einführte. Groß musste sich mit dem Widerstand schwäbischer Traditionalisten auseinandersetzen. »In Geislingen konfrontierte ein Spieler Groß mit der Bitte, in der ersten Halbzeit als rechter Verteidiger und in der zweiten Halbzeit als linker Verteidiger spielen zu dürfen. Er wollte partout nicht dorthin, wo sein Vater am Spielfeldrand stand. Der verstand nämlich nicht, dass sein Sohn niemanden bewachen, sondern sogar ignorieren musste, wenn der Ball gerade auf der anderen Seite des Spielfelds war und er als Verteidiger einrücken sollte«, schreibt Biermann. Groß wurde Mitglied im Lehrstab des Württembergischen Fußballverbands, lernte dort Rangnick kennen und gehört heute zu dessen Stab in Hoffenheim.
Ist der wissenschaftliche Fortschritt im Fußball also unaufhaltsam? Das vielleicht einzige Manko von Biermanns Buch ist das Fehlen eines Kapitels über die Wechselwirkungen zwischen Irrationalität und Rationalität im Fußball. Auch die meisten wissensbasierten Strategien im modernen Fußball bauen auf Irrationalem auf: der Identifikation der Fans mit einer Mannschaft – einer »imaginierten Gemeinschaft« – und der daraus erwachsenden Bereitschaft, regelmäßig Geld für Tickets, TV-Abos oder Merchandising-Artikel zu zahlen. Erst dies spült das Geld in die Kassen, um Scoutingsysteme oder Trainer- und Psychologenstäbe finanzieren zu können. Gleichzeitig macht der moderne Fußball die Identifikation der Fans noch etwas irrationaler: sind sie doch oft die Einzigen, die noch nach Jahren den Club unterstützen, während die Objekte ihrer Identifikation, vom Spieler bis zum Manager, längst den Verein gewechselt haben. Insbesondere in Krisenzeiten bricht das Irrationale oft wieder auch in die Spieler- und Trainerebene des Fußballs ein und macht Fortschritte im wissensbasierten Herangehen zunichte.
Dies beweist derzeit insbesondere die argentinische Nationalmannschaft. Bei der WM 2006 hatte das Team unter Trainer José Pekerman den spanischen Kombinationsfußball von 2008 schon vorweggenommen und avancierte zum Turnierfavoriten. Im Viertelfinale gegen Deutschland verzockte sich der Trainer jedoch beim Einwechseln, die Mannschaft schied aus: ein taktischer Fehler, den man 2010 hätte korrigieren können. Pekerman trat nach dem Turnieraus zurück. Sein Nachfolger Maradona, ernannt wegen seiner mythischen Erfolge als Spieler, nicht seiner Trainerqualifikationen wegen, führte jedoch das Team in eine Niederlagenserie.
Ronald Reng schrieb kürzlich in der Taz über die Frage, warum Lionel Messi mit dem FC Barcelona Erfolge feierte, unter Maradona jedoch oft auf verlorenem Posten steht. Maradona, glaubt Reng, wende das System an, das ihn zum Weltstar gemacht hatte. Damals sei lediglich die Verteidigung fest zugeordnet gewesen, im Angriff setzte man aber auf die spontane Kreativität Einzelner. Messi sei in Barcelona heute aber an ein festes System von Spielzügen gebunden – und wisse daher im Nationalteam nicht den Schritt, der als nächstes kommt. Argentinien ist so von einem der modernsten Teams der Welt zu einer Mannschaft geworden, deren Ausscheiden in der Vorrunde der nächsten WM nicht überraschen würde. Profitieren könnten in der Gruppe B davon Rehhagels Griechen, die sich erneut durch die Qualifikation gemauert haben.

Christoph Biermann: Die Fußball-Matrix. Auf der Suche nach dem perfekten Spiel, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009, 256 Seiten, 16,95 Euro