Die Situation der europäischen »Neuzuwanderer« in Deutschland

Zwischen Sprachkurs und Jobsuche

In Zeiten der Krise versuchen viele junge Europäer einen Job in Deutschland zu finden. Dabei werden sie häufig mit Enttäuschungen konfrontiert.

Am 15. November war auf Spiegel Online von einem neuen Rekord die Rede. Aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamtes lagen vor: Zwischen Januar und Juni 2012 seien 501 000 Personen aus dem Ausland nach Deutschland gezogen. Die größte Gruppe unter ihnen seien die Polen, unter den anderen seien zahlreiche Neuzuwanderer aus Griechenland, Portugal, Ungarn und Spanien. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat im Frühjahr vorigen Jahres bei ihrem Besuch in Spanien auch erklärt, dass Deutschland innerhalb der kommenden zehn Jahre rund 100 000 Ingenieure brauche, daran erinnerte die spanische Tageszeitung El País bereits am 10. November. Merkel habe erklärt, dass diese gerne aus Spanien kommen könnten. Mit anderen Worten: Die Bundeskanzlerin hat 100 000 jungen Arbeitslosen in Spanien einen Job in Aussicht gestellt und Hoffnungen geweckt. Seitdem grassiert in Spanien eine Art Fieber, das El País den »Merkel-Effekt« nennt, das Fieber des Deutsch-Lernens. Goethe-Institute und private Sprachschulen, berichtet die Zeitung, platzten aus allen Nähten.

Die Kanzlerin hat zwar Hoffnungen geweckt, aber nicht an den Ausbau der nötigen Infrastruktur gedacht. Die Goethe-Institute in Spanien, die als Sprach- und Kulturvermittler des Auswärtigen Amtes und somit der Bundesregierung fungieren, stellen keine weiteren Deutschlehrer und Deutschlehrerinnen ein, um dem gestiegenen Bedarf gerecht zu werden: »Derzeit sind alle Stellen am Goethe-Institut Madrid besetzt.« Das verkündete die Website des Instituts einen Tag nachdem der Artikel in der El País erschienen war. »Bitte senden Sie uns keine Blindbewerbungen.«
Spiegel Online zufolge stellt das kein Problem dar. »Selbst die, die kein Wort Deutsch können, sind bei den Unternehmern willkommen.« In diesem Artikel ist nicht mehr von einer halben Million Neuankömmlingen die Rede, deren Hoffnungen auch enttäuscht werden könnten, sondern von den sogenannten Nettozuwanderern, also von jenen übriggebliebenen 182 000 Menschen, die nicht erfolglos und frustriert wieder abreisen mussten, und jenen Deutschen, die es in die Ferne trieb. Doch auch diese 182 000 Menschen brauchen eine Wohnung und vor allem einen Job.
Ist es wirklich so einfach, in der Bundesrepublik Fuß zu fassen? Magda M. hat es geschafft. »Ich bin vor sechs Jahren aus Polen mit einem Erasmus-Stipendium nach Berlin gekommen«, sagt sie, »und geblieben.« In Poznań hatte Magda Germanistik studiert, jetzt arbeitet sie an ihrer Promotion und unterrichtet als Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache an einem Berliner Spracheninstitut. Insgesamt ist sie recht zufrieden mit ihrer Situation, aber eines nervt sie, und zwar der ständige Ärger mit dem Vermieter der überteuerten, aber maroden Wohnung, die sie mit ihrem Freund im Berliner Stadtteil Neukölln bewohnt. »Nun steht ein Prozess an, und das alles ist Grund genug, dass wir beide immer öfter darüber sprechen, endgültig nach Polen zu gehen. Mein Freund ist Deutscher, aber ihm gefällt es hier auch nicht mehr.«

Unsicherer ist die Situation ihrer Arbeitskollegin Sophia K. aus Griechenland. Sophia hat eine Odyssee hinter sich: »Ich habe in Athen Germanistik studiert,« sagt sie, »und auf die Anstellung bei einer Schule gewartet, aber die kam nicht.« Also ging Sophia nach Deutschland: »Ich habe versucht, hier einen Job in einer Sprachschule zu finden, aber niemand wollte mich, da ich keine Muttersprachlerin bin.«
Frustriert kehrte sie nach Griechenland zurück, wo sie eine Zusatzausbildung zur Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache absolvierte und sich erneut auf Arbeitssuche begab. Mittlerweile lebt sie wieder in Berlin und arbeitet mit Magda M. am Spracheninstitut, jedoch nur auf Honorarbasis: »Ich gebe ein paar Unterrichtsstunden hier und ein paar Stunden dort. Ich habe mich beim Finanzamt und bei den Kassen gemeldet, weiß aber noch nicht, ob sich dieses Arbeiten wirklich lohnt.« Sophia K. weiß auch noch nicht, wie lange ihr Freund durchhält, der sich in Berlin als Betreiber eines Ebay-Shops durchschlägt und den die Sehnsucht nach Griechenland quält. »Das geht uns wahrscheinlich allen so«, sagt Sophia. »Nach einigen Monaten, wenn die Phase der Hoffnung und Euphorie abgeflaut ist, kommt die Krise und man sieht alles nur noch negativ.«
Magda M. und Sophia K. sprechen fließend, nahezu akzent- und völlig fehlerfrei Deutsch. Aber kommt man hierzulande auch ohne Sprachkenntnisse zurecht, wie Spiegel Online behauptet? In Magdas und Sophias Unterrichtsstunden sitzen viele, die gegenteilige Erfahrungen gemacht haben. Ana P. aus Bulgarien beispielsweise. Sie hat in Bulgarien Ökonomie studiert, in Italien ein Praktikum absolviert und lebt nun bei ihrem deutschen Freund in Berlin. Neben ihrer Muttersprache spricht sie fließend Englisch und Italienisch, ihr Deutsch ist fortgeschritten, aber sie hat die Erfahrung gemacht, dass vier Sprachen den Personalchefs der Firmen, bei denen sie sich bisher beworben hat, nicht reichen. »Sie können es sich ja aussuchen«, seufzt sie, »die Konkurrenz ist groß.«

In der Regel verlassen sich Personalchefs auch nicht auf eine in der Bewerbung gemachte Angabe, sondern verlangen zum Nachweis ausreichender deutscher Sprachkenntnisse ein Zertifikat gemäß den Standards des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens, also mindestens B 1, den Nachweis der bestandenen Sprachprüfung, die auch am Ende des obligatorischen, mindestens sechs Monate dauernden Integrationskurses ansteht, oder – in den Gesundheitsberufen verständlicherweise, man muss mit Patienten ja reden können – sogar das Sprachzertifikat C 1, das bei sehr fortgeschrittenen Sprachkenntnissen vergeben wird. Seit März 2012 haben Zuwanderer und Zuwanderinnen aus Griechenland und Spanien keinen Anspruch mehr auf ALG II, die Sprachkurse müssen sie seitdem selbst finanzieren. Das heißt, sie müssen Geld und Zeit investieren, bevor sie sich überhaupt auf Jobsuche begeben können.
In Immigrantenforen wie Berlunes oder in kritischen Medien mehren sich daher Erfahrungsberichte von Enttäuschten. In der spanischen Internetzeitung El Diario war bereits vom »Albtraum der jungen Spanier und Spanierinnen, die von Deutschland geträumt hatten«, die Rede. Die Autorin Carmela Negrete berichtet über einen jungen Philosophen aus Jaén, der in Berlin zunächst Möbelpacker auf Minijobbasis, also ohne Krankenversicherung, wurde und mittlerweile Pizza verkauft, sowie von einer Architektin, der man nur Praktikumsstellen mit einer Bezahlung von höchstens 400 Euro im Monat anbietet.
Besonders schlimm sei die Lage für viele, die sich bereits in Spanien auf eine Vermittlungsfirma eingelassen und Verträge unterschrieben hätten, die von der Firma dann nicht eingehalten würden. Der Wortlaut des spanischen Vertrages sei mit dem, den man dann in Deutschland unterschreiben müsse, nicht immer identisch, so die Erfahrung einer Krankenschwester, die es von dem spanischen Ciudad Real erst an einen Ort in der Nähe von Düsseldorf und dann nach Berlin verschlagen hat. »Mit der Krise gibt es viele Firmen, die betrügen.« Ein bisschen Deutsch sollte man also schon können – zumindest, um lesen zu können, was man unterschreibt.