Die Ukraine und die EU

Von Orange zu Blau

Der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch hat das Assoziierungsabkommen mit der EU ausgesetzt. Bei der Entscheidung zwischen der EU und Russland steht das Land unter ökonomischem Druck.

Orange ist aus der Mode. Auf dem Maidan-Platz in Kiew überwiegen bei den Protesten das Blau der Europäischen Union und das Blau-Gelb der ukra­inischen Fahne. Wie vor neun Jahren fordern die Demonstrierenden Demokratie, Rechtsstaat, wirtschaftliche Entwicklung, Annäherung an die EU und eine Abnabelung von Russland. Bis heute wurde keine dieser Forderungen vollständig erfüllt. »Wir gehören zur Europäischen Union und nicht zur Sowjetunion«, war auf einer der Flaggen zu lesen. Ein junger Demonstrant sagte: »Russland, das ist das System der Vergangenheit, ich möchte nicht mehr in einem Land leben, in dem ein einziger Mann entscheidet, ich will in einem Land leben, in dem die Menschen die Entscheidungen treffen.«

Seit Präsident Viktor Janukowitsch das Assoziierungsabkommen mit der EU am 21. November ausgesetzt hat, demonstrieren die Menschen für eine Annäherung an die EU. »Die Rückkehr nach Moskau«, wie die Regierung ihre Entscheidung nennt, trifft bei ihnen auf wenig Gegenliebe. Allein am Sonntag gingen Hunderttausende gegen Janukowitsch auf die Straße. Von der brutalen Räumung durch die Sondereinheit »Berkut« in der Nacht zuvor haben sich die Demonstranten nicht einschüchtern lassen. Am Montag blockierten Protestierende den Zugang zum Regierungsgebäude, trotz der Kälte wurde in Kiew eine Zeltstadt errichtet. Dennoch hofft Janukowitsch wohl, dass die Proteste wieder abflauen werden.
Am 21. November hätte die Ukraine eigentlich ein Freihandelsabkommen mit der EU unterschreiben sollen, doch dies scheiterte, weil sich Janu­kowitsch von Wladimir Putin unter Druck setzen ließ und er Angst vor seiner Konkurrentin Julia Timoschenko hat. Moldau und Georgien unterschrieben hingegen das Abkommen. 2009 entschied die EU-Kommission, die finanziellen Mittel für die europäische Nachbarschaftspolitik zu verdoppeln. Die betreffenden Staaten sollten bei rechtsstaatlichen Reformen unterstützt werden, zudem wurden zollfreier Handel und eine visumsfreie Einreise in die EU in Aussicht gestellt. Der mit Abstand wichtigste Partner für diese europäische Nachbarschaftspolitik ist die Ukraine, die anderen Staaten sind Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Weißrussland und Moldau. Der verantwortliche EU-Kommissar Štefan Füle betonte, man wolle dennoch die Beziehungen zur Ukraine »auf eine neue Stufe heben« und sei bereit, das Abkommen neu aufzulegen. Auch Angela Merkel sagte, dass die EU weiterhin mit der Ukraine verhandeln wolle.
Die russische Regierung möchte eine Annäherung dieser Staaten an die EU verhindern und die Region als eigene Einflusssphäre behalten. Putin zufolge müssen sich die Staaten zwischen der EU und der von ihm angestrebten »Eurasischen Union« entscheiden. Die Ukraine ist wichtig für Putins kapitalistische Neuauflage der Sowjetunion. Russland hat das Nachbarland für seine Annäherung an Europa schon des Öfteren mit der Einstellung der Gasexporte und einer Erhöhung der Preise bestraft. In den vergangenen Wochen bildeten sich lange LKW-Schlangen vor der russischen Grenze, weil der Zoll die Kontrollen aus »Verbraucherschutzgründen« intensivierte, weswegen viele der ukrainischen Exporte verdarben. Sollte die Ukraine sich weiter an die EU annähern, droht Putin mit wirtschaftlichen Konsequenzen. Falls sich die Ukraine wieder Russland annähert, erhält das Land Wirtschaftshilfe, neue Kredite und vor allem billige Gaslieferungen.
Selbst Janukowitsch deutete an, dass das Arrangement mit Putin nicht auf Freiwilligkeit beruhe. Immerhin setzte er die Politik der Annäherung an die EU jahrelang konsequent fort. Er sagte sogar öffentlich: »Ich bitte die Menschen, die Situation nicht zu politisieren.« Was er den Demonstrierenden mit diesem Satz, der unsinniger nicht sein könnte, sagen möchte, ist, dass es sich bei der Annäherung an Russland vor allem um eine Reaktion auf ökonomische Sachzwänge handele und nicht um eine politische Entscheidung seinerseits.
Hätte die Ukraine das Freihandelsabkommen mit der EU unterschrieben, wären zunächst EU-Waren vermehrt in die Ukraine exportiert worden, da die Ukraine noch nicht ausreichend wettbewerbsfähig für den europäischen Markt ist. Die Entwicklung dieser Wettbewerbsfähigkeit nimmt viel Zeit in Anspruch und kostet vor allem sehr viel Geld, doch die EU war nicht bereit, der krisengebeutelten Ukraine größere Kredite und direkte Wirtschaftshilfe anzubieten. Auf kurze Sicht ist es ökonomisch weniger schmerzhaft, sich an Russland zu orientieren.
Der Gedanke, dass nach einigen ehemaligen Sowjetrepubliken und Staaten des Warschauer Pakts nun auch der Geburtsort der russischen Nation, der Kiewer Rus, an den Westen fallen könnte, ist der russischen Regierung unerträglich. Ohne eine große Eurasische Union wird Russland nur einer von vielen Global Players sein und weiterhin an Einfluss verlieren.
Der zweite Hauptgrund für Janukowitschs Rückzieher ist seine Angst vor Julia Timoschenko. Deutschland und Schweden haben ihre Freilassung deutlich als Bedingung für das Abkommen genannt, doch diese ließ sich bislang weder von der EU noch von der Opposition im ukrainischen Parlament durchsetzen. Obwohl Janukowitsch signalisiert hatte, seine Kontrahentin auf freien Fuß setzen zu wollen, weigert er sich nun. Timoschenko reagierte auf das poli­tische Schmierentheater mit dem einzigen Druckmittel, das ihr in Haft noch bleibt. Sie erklärte in einem Brief, den ihr Anwalt verlas: »Ich trete in einen Hungerstreik, um Janukowitsch aufzufordern, das Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU zu unterzeichnen.« Zudem forderte sie die EU auf, keine weiteren Forderungen für die Vertragsunterzeichnung an die Ukraine zu stellen, das beinhalte auch die Forderung nach ihrer Freilassung. Ironischerweise stärken die Proteste die Verhandlungsposition Janukowitschs gegenüber Putin, da sie zeigen, dass er auch eine andere Wahl gehabt hätte. Wahlen würde er derzeit aber wohl nicht gewinnen und es ist unklar, ob er dem Druck der Straße standhalten kann. Ein Misstrauensantrag der Opposition im Parlament gegen Ministerpräsident Nikolai Asarow scheiterte jedoch am Dienstag.

Nicht alle in der Ukraine wünschen eine Annäherung an die EU. Das Land ist gespalten in einen prowestlichen, relativ verarmten Westen und einen prorussischen, industrialisierten Osten. Nicht zuletzt die ukrainischen Russen, die knapp 18 Prozent der Bevölkerung stellen, sprechen sich für eine Annäherung an Russland aus. Doch selbst wenn Janukowitsch sich nun für eine solche entscheidet, ist noch lange nicht gesagt, dass die nächste Regierung diese Politik fortführen wird. Im Westen des Landes hat das stolze Schwenken der blau-gelben Fahne zu Zeiten der »Oran­genen Revolution« auch der rechtsextremistischen Allukrainischen Vereinigung Swoboda ein Forum geboten. In manchen Regionen nahe der EU-Grenze ist sie sogar stärkste Partei geworden. Bei den Parlamentswahlen im Oktober 2012 schloss Timoschenkos Vaterlandspartei ein Bündnis mit den Rechtsextremisten.
Die Lage ist also deutlich komplizierter, als sie oftmals dargestellt wird. Die Formeln »gute EU gegen böses Russland« und »liberale Demonstrierende gegen reaktionäre Kräfte« ignorieren die wirtschaftlichen Zwänge, denen das verarmte Land unterliegt. Und dennoch: Bei der Wahl zwischen der EU und Russland sollte schnell klar sein, was auf lange Sicht das kleinere Übel ist.