Wolfgang Herrndorfs Blog als Buch

Im verfließenden Moment der Notiz

Wolfgang Herrndorfs Blog »Arbeit und Struktur« ist postum als Buch erschienen.

Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem. (geweint)« Glioblastom, Gehirntumor, das ist keine Lifestyle-Diagnose, kein optimierbares Körperphänomen, nichts, was der Stand der medizinischen Kenntnis mal eben mit ein bisschen Technikzauber vom Tisch wischt. Die Prognose: zwei, vielleicht drei Jahre, dann eine statistische Kurve Richtung null. 2010 erhält Wolfgang Herrndorf, der als Schriftsteller dieser Tage unumkehrbar zu spätem Ruhm kommt, die Nachricht, an einem solchen Tumor erkrankt zu sein. Im Sommer 2013 hat Herrndorf seinem verglimmenden Leben mit einem Schuss in den Mund ein selbstbestimmtes Ende gesetzt. Einige Monate nach der Diagnose aber beginnt Herrndorf, seinem Sterben nicht mehr nur beizuwohnen, sondern es aufzuschreiben.
Als Blog war »Arbeit und Struktur« ein kleines Ereignis. Zunächst als Mitteilungsorgan an die Freunde, für die Freunde gedacht, öffnet Herrndorf es bald einem breiteren Publikum. Ein Krebstagebuch, das sollte Herrndorfs Blog nie sein, statt dessen: Arbeitsjournal, Zustandsbericht, Protokoll, Reflexionsorgan. Der »Quatsch mit dem Sterben«, auf den will sich Herrndorf nicht reduzieren lassen. Seine Notate werden zum Geheimtip unter Lesenden, dann zur Feuilletonsensation. Anfang Dezember 2013, weniger als fünf Monate nach Herrndorfs Tod, ist das Blog nun als Buch erschienen und schnell zu einem veritablen Bestseller geworden.
Arbeit, Arbeit, Arbeit und Struktur: Wo der Tod dem Individuellen so sehr auf die Pelle rückt, dass die persönliche Befindlichkeit eigenartig unwichtig wird, da erscheint die Selbstausbeutungslogik der Kreativlinge in der Berlin-Blase als einzig brauchbarer Rettungsanker. Im Nachschock der Diagnose stürzt Herrndorf sich in die Arbeit, der »Jugendroman« (der später »Tschick« heißen und zu einem internationalen Erfolg werden wird) muss fertig werden und noch ein zweites Buch, und dann, wenn möglich, noch eines und noch eines. »Am besten geht’s mir, wenn ich arbeite. Ich arbeite in der Straßenbahn an den Ausdrucken, ich arbeite im Wartezimmer zur Strahlentherapie, ich arbeite die Minute, die ich in der Umkleidekabine stehen muss, mit dem Papier an der Wand. Ich versinke in der Geschichte, die ich da schreibe, wie ich mit zwölf Jahren versunken bin, wenn ich Bücher las.« Zugleich aber wird Herrndorf klar, dass er sein abzusehendes Ende ebenso in die eigenen Hände nehmen will wie seinen Text: »Was ich brauche, ist eine Exit­strategie«, notiert er im April 2010. »Ich wollte ja nicht sterben, zu keinem Zeitpunkt, und ich will es auch jetzt nicht. Aber die Gewissheit, es selbst in der Hand zu haben, war von Anfang an notwendiger Bestandteil meiner Psychohygiene. Googeln fällt mir unsagbar schwer, ein praktikables How-to ist nicht auffindbar. Freunde informiert: Falls jemand von Mitteln und Wegen weiß oder im Besitz davon ist – am 21. Juni ist das erste MRT. Bis dahin brauche ich was hier. Ob ich die Disziplin habe, es am Ende auch zu tun, ist noch eine ganz andere Frage. Aber es geht, wie gesagt, um Psychohygiene. Ich muss wissen, dass ich Herr im eigenen Haus bin. Weiter nichts.«
Ein philosophischer Russe verkauft ihm schließlich bei einer Tasse Tee eine vernünftige Pistole, und schnell wird das Werkzeug zur metallenen Rückversicherung dessen, was einst Würde genannt wurde, Ankerpunkt einer subjektiven Restautonomie im Moment ihres Zerfalls. »Ich schlafe mit der Waffe in der Faust, ein sicherer Halt, als habe jemand einen Griff an die Realität geschraubt. Das Gewicht, das feine Holz, das brünierte Metall. Mit dem MacBook zusammen der schönste Gegenstand, den ich in meinem Leben besessen habe.«
Mit dem schlafenden Tumor im Kopf haut Herrndorf in wenigen Monaten den Roman zusammen, auf dem er seit sechs Jahren sitzt: »Tschick«, die ebenso anrührende wie unprätentiöse Geschichte zweier jugendlicher Ausreißer auf dem Weg in die Walachei, wird im Herbst 2010 zum unerwarteten Erfolg – unerwartet für einen, der bis dahin von ein paar tausend Euro im Jahr gelebt hat, der so detailversessen an seinen Texten schraubt, dass er darüber vergisst, sich mal eben eine Dose Ravioli warm zu machen. Zwischendurch übersteht er Chemotherapien und Gehirnoperationen, die sein Leben jeweils um einige Monate verlängern, findet sich nach manischen Schüben in der Neuropsychiatrie wieder, rappelt sich auf und fällt weiter vorwärts. Die zunehmenden sensorischen und motorischen Ausfälle trüben seine Konzentrationsfähigkeit, stören seinen Arbeitsfluss. Oft rauben sie ihm den letzten Nerv, dann wieder setzt er der zunehmenden Zerrüttung die Trotzigkeit desjenigen entgegen, der Haken schlagend weitermacht: »Experiment: Will ein neues Gedicht lernen, um zu schauen, ob das Hirn schlau genug ist, es anderswo abzuspeichern; und einen Prosatext. Weil, sitzt ja vielleicht nicht im selben Areal.«
Unterdes wächst das Blog zum Nebenwerk und darüber hinaus – Spielfläche einer kristallklaren Prosa, die in ihrer spröden Präzision ihresgleichen sucht. Von Anfang an verzichtet Herrndorf auf die großspurige Geste, sich zu den großen Tagebuchschreibern der Weltliteratur ins Verhältnis setzen zu wollen. Thomas Mann? Ein Name, von dem er besser die Finger lässt. »Arbeit und Struktur« verfolgt kein ausbuchstabiertes Konzept, keinen Leitfaden von Krebs und Körperlichkeit, Lebensbilanz und Literaturversuch, und doch ist alles darinnen: der Schmerz und die Liebe, Weltflucht und Umarmung, Leben und Literatur. Überhaupt, der Betrieb und die Kollegen: Als »Arbeit und Struktur« im Netz Furore zu machen beginnt, hält manch einer in der literarischen Öffentlichkeit der Berliner Mitte dieser Republik den Hirntumor für einen Marketing-Trick, berechenbar ausgestelltes Interessantheitsattribut eines künstlerischen Prekariers auf dem Weg in den Halblichtkegel der Literaturszene. Herrndorf notiert die Missgunst, ohne sich im Schutz der Krankheit über sie zu erheben. Das literarische Leben, Herrndorf verfolgt es von der Seitenlinie und mit einer gehörigen Portion Sarkasmus. Doch ist es nicht die Abgebrühtheit des Todgeweihten, die ihn zu seinen glasklaren Aphorismen bringt, sondern vielmehr die Formulierungsfreude desjenigen, der im letzten Moment eine gültige Form gefunden hat – und dieser sich nun unterwirft, bis er nicht mehr kann. Wenn Herrndorf bei einem Gartenfest Daniel Kehlmanns befremdliche Auralosigkeit notiert, vom Schwanzvergleich mit Uwe Tellkamp schwadroniert, die enthusiasmierte Aufregung um Rainald Goetz’ entstehenden Roman »Johann Holtrop« (2012) miterlebt, Martin Walsers nie enden wollenden Stammtischdiskurs ertragen muss oder nach Lektüre der Zeitung schlicht mitzuteilen hat, Martin Mosebach sei nun endgültig übergeschnappt: Nie läuft diesem hellwachen Chronisten der Schaum vor dem Mund zusammen, immer ist es die Freude am Beobachten, der Lebensgenuss des Protokolls im verfließenden Moment der Notiz.
Herrndorfs Prosa, es lässt sich nicht anders sagen, ist ein Ereignis. Was im Blog als Tages- oder Wochenration daherkam, als Lichtblitz manchmal und gelegentlicher elektronischer Kurztrost, dass da noch immer einer ist, der weiterschreibt, erreicht im Buch eine Dichte und entwickelt einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Wie seltsam ist doch dieses Erzählarrangement! Da stirbt einer und macht sich Notizen, und wer ihn liest, der weiß immer schon um seinen Tod, sein Ende, und liest diese Sätze doch wie die stets aufs Neue beglaubigte Hoffnung auf einen neuen Tag, ein paar weitere Zeilen, eine Stunde, einen Abend, einen Augenblick, die letzte Klappe stets vor Augen. Nie verfällt Herrndorfs Text in die Larmoyanz des Selbstmitleids, den stummen Schrei einer nicht auszudenkenden Verzweiflung. Dass seine Cowboy-Pose ihm immer wieder aufhilft und sich zugleich als überlebensnotwendige Farce erweist, macht »Arbeit und Struktur« so anrührend. Der »Abwehrzauber des Weiterarbeitens«, den Herrndorf immer wieder beschwört, zum Ende hin versagt er immer wieder seinen Dienst, weicht zurück vor der Kälte der Mortalitätsraten, der Sterbestatistik, den Studien und Prognosen, die Herrndorf dem großen Google-Orakel beständig aus den Rippen leiert. »›Weitermachen!‹, rät Marcuse; was im ersten Moment ja okay klingt. Aber dann doch auch eher wieder nicht. Als ob da einer das Konzept nicht verstanden hat. Und was wünscht man sich selbst so? Hier ruht für immer? Für immer tot? Haut ab und besauft euch im Prassnik, ich zahl? Was ich vermutlich gut fände: Starb in Erfüllung seiner Pflicht.«
So wenig Herrndorf sich auf die Logiken und Grenzen des Tagebuchschreibens einlässt und sich stattdessen aus den Trümmern der Gattungskonventionen kurzerhand sein eigenes Genre bastelt, so sehr verweigert er sich den eingespielten Pathosformeln einer Literatur des Verfalls. Dieser Schreibende, er ist kein großer Kranker, kein dahinsiechender Heine in der Matratzengruft. Herrndorf hadert nicht mit dem Gott des Geschwürs, an den er sowieso nicht glaubt, er verflucht nicht die Buchhalter des Literaturbetriebs, die ihm auf einmal zu Füßen liegen und Schecks ausstellen, die einzulösen ihm keine Zeit mehr bleibt. Doch er geht auch nicht der mal schreienden, mal stillen Erhabenheit aus dem Weg, die ihm das absehbare Ende der eigenen Existenz immer wieder aufdrängt. Der Gestus des Chronisten, er bleibt auch zwischen Bierflasche und Kneipengelümmel, zwischen Bad im Plötzensee und Zusammenbruch am Küchentisch eine fragile Verabredung, die selbst pathoslastig ist. Herrndorfs Aufschreibe­system weiß um die Zerbrechlichkeit dieser Abmachung und gerade darin liegt die Möglichkeit ihres Gelingens.
Was ist eigentlich Lebenszeit, und wann ist es genug? An sich selbst beobachtet Herrndorf die Obsession mit der Liste, mit Büchern, die noch zu lesen sind (»Für den ganzen Proust reicht’s halt nicht noch mal«, heißt es einmal lakonisch), Ländern, die es noch einmal zu sehen, Menschen, die es noch einmal zu treffen, zu lieben gilt – und neben alledem: mit der Arbeit, die noch zu tun bleibt. »Ich fange an, mich vorsichtshalber auf drei Monate herunterzurechnen. Könnte man leben, wenn man nur noch drei Monate hat? Nur noch einen Monat?« Herrndorf bringt die Rechnungen auf seine Weise zu Ende, arbeitend, schreibend, auf dem Fußballfeld, beim Schwimmen, in Büchern, in Kneipen. Dass ihm das erste Halbjahr 2013 nicht zu einer endlosen Kette von Abschieden, von Abgesängen wird, verdankt er wohl der Waffe in seiner Hand und seinem Bett, aber auch der unausgesetzten Logik der Fortschreibung. Zwar werden die Blog-Einträge kürzer, oft überspringt das Journal nun ganze Tage und Wochen, doch nur, um schließlich ein weiteres Mal zurückzukehren mit einem berückenden Landschaftseindruck, einer Runde Schwimmen, einem Gesprächsfetzen.
Herrndorf beobachtet den Zerfall von Syntax und Semantik, die Auflösung gedanklicher und sprachlicher Kohärenz in seinem eigenen Kopf, solange er kann. Nicht immer fällt es ihm leicht, auf den bemerkenswerten Erfolg seines Blogs mit dem Stolz des Erfolgsschriftstellers zu blicken, immer öfter erscheint es ihm als zusätzliche Bürde. Im Februar notiert er: »Würde die Arbeit am Blog am liebsten einstellen. Das Blog nur noch der fortgesetzte, mich immer mehr deprimierende Versuch, mir eine Krise nach der anderen vom Hals zu schaffen, es hängt mir am Hals wie mein Leben wie ein Mühlstein.« Doch die atemlose Syntax dieser todtraurigen Satzmelodie, sie trägt noch immer auf eine nächste Seite, einen neuen Eintrag, einen weiteren Tag.
Am Abend des 26. August 2013 hat Wolfgang Herrndorf am Berliner Hohenzollernkanal schließlich den letzten Punkt gesetzt. »Arbeit und Struktur« ist ein Text, der bleibt.

Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur. Rowohlt, Berlin 2013, 448 Seiten, 19,95 Euro