Berlin Beatet Bestes. Folge 258.

Die höhere Mathematik des Rock

Berlin Beatet Bestes. Folge 258. Little Gerhard: Juke Box Baby (1959).

In der Schule war ich in Mathe immer der Schlechteste. Heute kann ich mitunter sogar ziemlich schnell rechnen, besonders dann, wenn Mathe und Rock ’n’ Roll zusammen kommen. Am Sonntag stöberte ich wie üblich in den Single-Kisten des Flohmarkts, der jedes Wochenende am Ende der Straße stattfindet. Ich legte einige Platten beiseite und zog auch »Juke Box Baby« des schwedischen Rock ’n’ Rollers Little Gerhard heraus, der auch einige Titel auf Deutsch aufgenommen hat. Nur um mit dem Händler ins Gespräch zu kommen, hielt ich ihm die Platte entgegen: »Die hier ist super!« Er so: »Ja, dit war so’n Rummelplatz-Renner.« Ich: »Die ist klasse. Die hab ich auch.« Er wieder: »Ja, ja. Dit war so’n Rummelplatz-Renner.«
Der Mann hatte graue Haare, trug die übliche, unscheinbare Sammlerkleidung aus Jeans und Hemd – keine Lederweste! – und machte ansonsten einen recht agilen Eindruck. Dennoch rechnete ich kurz nach: »Juke Box Baby« erschien 1959. Um zu wissen, dass die Single auf Rummelplätzen gespielt wurde, hätte er damals vielleicht 15 Jahre alt gewesen sein müssen, er wurde also um 1944 geboren und ist heute 70 Jahre alt. Na, da hat er sich aber gut gehalten!
Am Abend besuchte ich mit Freunden ein Parkfest. Überall waren Buden aufgebaut, es gab Karaoke und später sollten noch Lesungen stattfinden und Bands auftreten. Plötzlich entdeckte eine Freundin auf einem Plakat, dass auch TV Smith auftreten sollte. Der Sänger der Adverts, eine der frühen englischen Punk-Bands. Was für ein schöner Zufall! Später standen wir vor der Bühne, umringt von lauter ergrauten Punks, die nur noch durch ihre Punk-T-Shirts als Punks zu erkennen waren. TV Smith, drahtig, grauhaarig, aber immer noch in Bondagehosen, begleitete sich selbst auf der akustischen Gitarre und sagte seine Songs auf Deutsch an: »Jetzt kommt meine Knüller von 1977: Gary Gilmore’s Eyes!« Ich fragte die Freundin: »Was meinst du, wie alt ist er wohl?« »Keine Ahnung, 50?« »Nee! Guck mal, ›Gary Gilmore’s Eyes‹ kam 1977 raus. Jetzt lass ihn mal 19 Jahre alt gewesen sein, die Adverts waren doch so eine Teenie-Band, dann wurde er also 1958 geboren und ist jetzt 56. Sieht doch noch ganz gut aus für sein Alter!« Tatsächlich ist TV Smith sogar schon 58.
Später gingen alle nach Hause, ich ging zum Tanzen. Eine kleine Kneipe, es spielte ein Jazz-Trio. Die Musiker waren alle weißhaarig, sie spielten entweder rasend schnell oder sehr langsam. Offensichtlich traten sie nie vor Tänzern auf, was der Sänger und Pianist später auch bestätigte. »Vielen Dank an euch Tänzer. Normalerweise haben wir ein sehr viel ­älteres Publikum und die sitzen auch immer.« Dann legten sie auch schon wieder los. Meine Tanzpartnerin meckerte: »Mann, sind die schnell!« Ich: »Ja, und die sind alle bald 80.« »Hä, wieso?« »Na, der Pianist hat schon in den Fünfzigern Jazz gespielt. Lass ihn 1958 mal 21 Jahre alt gewesen sein, dann wurde er 1937 geboren und ist jetzt also wie alt?« »Ach, ich kann das nicht ausrechnen.« »Dann ist er jetzt 77.«
Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.