Vor zwei Jahren wurde das Refugee-Camp in Berlin-Kreuzberg geräumt

Die geräumte Bewegung

Vor zwei Jahren wurde das Protestcamp der Refugees auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg geräumt. Die Politik hat ihre damaligen Versprechen nicht gehalten. Viele Geflüchtete kämpfen weiter.

Zwei Grasflächen mit kahlen Bäumen, dazwischen leere Bänke auf Kies – am Oranienplatz erinnert nichts mehr an einen der längsten und medienwirksamsten Proteste von Geflüchteten in der Bundesrepublik. Anderthalb Jahre lang war der Platz in Berlin-Kreuzberg besetzt. Mittlerweile, genau zwei Jahre nach der Räumung, sind die Themen Flucht und Asyl allgegenwärtig. Von Obergrenzen, Hotspots und Essenspaketen ist die Rede. Das hat wenig zu tun mit den Forderungen, für die die Geflüchteten kämpften.
Seinen Anfang nahm das refugee movement in Würzburg. Dort begann im Oktober 2012 ein 600 Kilometer langer Protestmarsch bis nach Berlin. Über 70 Geflüchtete leisteten so kollektiven Widerstand gegen Residenzpflicht, Lagerunterbringung und Abschiebung. In Berlin angekommen, besetzten sie den Oranienplatz und machten ihn zum Zentrum der Bewegung. Monika Herrmann (Grüne), seit August 2013 Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, nennt ihn einen »Mahnort deutscher Asylpolitik«.
Am Oranienplatz wurden Demonstrationen und Pressekonferenzen organisiert, am nahegelegenen Mariannenplatz wurde sogar ein internationales Menschenrechtstribunal gegen die Bundesrepublik abgehalten, die für viele Fluchtursachen verantwortlich gemacht wurde. 2013 erfolgte die Besetzung der ebenfalls in Kreuzberg gelegenen ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule. Die Bewegung eroberte sich ihren Platz im Szenekiez. Sie verlangte die Abschaffung der Lagerunterbringung und der Residenzpflicht und kämpfte für ein Bleibe- und Arbeitsrecht. »Wir Geflüchteten waren endlich sichtbar und konnten selbstbestimmt unsere Forderungen stellen«, sagt rückblickend Napuli Paul, damals eine der Wortführerinnen der protestierenden Geflüchteten.
Die Politik reagierte jedoch stärker auf die Besetzung als auf die Forderungen. Das Camp am Oranienplatz sollte aufgelöst werden. Die Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) und der Innensenator Frank Henkel (CDU) handelten zu diesem Zweck ein Einigungspapier mit den Besetzerinnen und Besetzern aus. Diesen wurden eine Unterkunft und die wohlwollende Einzelfallprüfung ihrer Asylanträge versprochen. Im Gegenzug sollten sie den Platz räumen. Einige misstrauten der Vereinbarung und weigerten sich, das Protestcamp aufzugeben. Paul kletterte beispielsweise auf eine Plantane, als am 8. April 2014 die ersten Zelte abgerissen wurden. Fünf Tage harrte sie in dem Baum aus. Die Räumung konnte sie damit nicht verhindern.
Die Skepsis war berechtigt. Das Einigungspapier entpuppte sich als Enttäuschung. Einer Pressemitteilung des Republikanischen Anwaltsvereins zufolge wurde keiner der 576 Asylanträge von Geflüchteten vom Oranienplatz positiv beschieden. »Von Wohlwollen kann hier nicht die Rede sein«, empört sich Herrmann deshalb, »Henkel hat Wortbruch begangen.« Viele ehemalige Besetzer wurden wohnungslos, mussten untertauchen oder wurden abgeschoben. Immer noch kämpfe die Mehrheit von ihnen um einen Aufenthaltstitel, eine Arbeitserlaubnis oder eine Wohnung, sagt die Bezirksverordnete Taina Gärtner (Grüne). Häufig scheitere dies jedoch an der Ausländerbehörde oder der Härtefallkommission. Gärtner vermutet, dass eine »Lex Oranienplatz« dahintersteckt: eine Anordnung von Innensenator Henkel, die Geflüchteten vom Oranienplatz nachteilig zu behandeln. Herrmann teilt diese Vermutung. Ein Sprecher der Innenverwaltung bestreitet die Vorwürfe jedoch. Katharina Müller vom Berliner Flüchtlingsrat hat folgende Beobachtung gemacht: »Zur Benachteiligung bei der Ausländerbehörde wäre ganz grundsätzlich zu sagen, dass der ganze Prozess von einem politischen Unwillen getragen gewesen ist, Ermessensspielräume zu nutzen.«
Im Mai 2015 kritisierte der Flüchtlingsrat, dass die Ausländerbehörde »nicht wie in der Vereinbarung zugesichert jeden Einzelfall ›umfassend im Rahmen aller rechtlichen Möglichkeiten‹« geprüft habe. »Stattdessen folgte schon bald von einem Tag auf den anderen der überraschende Rausschmiss aus den vom Senat zunächst bereitgestellten Ersatzunterkünften. Trotz teilweise noch anhängiger ausländerrechtlicher Verfahren wurden die in Ersatzunterkünften untergebrachten Menschen von der Sozialverwaltung sukzessive in die Obdachlosigkeit ausgesetzt«, schrieb die Organisation.
Das Protestcamp auf dieses triste Ende zu reduzieren, wäre jedoch falsch. Immer noch identifizieren sich viele ehemalige Besetzer mit ihm. »Wir kämpfen weiter«, sagt Paul und verweist auf wöchentliche Treffen, Besuche in isolierten Lagern und die Vernetzung mit anderen Gruppen in Deutschland und Europa. Im März erschien die erste Ausgabe von Daily Resistance, einer von Geflüchteten herausgegebenen Zeitung. Vor zwei Wochen hat sich die Refugee Support Tour auf den Weg nach Griechenland gemacht, um die dortigen Blockaden zu unterstützen. Zudem existieren Pläne, den Oranienplatz wieder als Ort für die Bewegung zu nutzen.
»Die Räumung hat die Bewegung verändert«, gesteht Paul ein, »doch unsere Kritik bleibt bestehen.« Schon damals wurden auf dem Oranienplatz Themen verhandelt, um die die Politik derzeit nicht herumkommt. 2012 warnten die Geflüchteten vor Waffenexporten nach Syrien und in andere autoritär regierte Staaten. Kurz nach der Räumung im Mai 2014 prognostizierten sie: »Es werden noch mehr Menschen aus Syrien, Mali und dem Sudan kommen.« In Anbetracht dieser Vorhersage erscheint das offizielle Erstaunen über den Anstieg der Geflüchtetenzahlen scheinheilig. »Warum werden jetzt noch mehr Zäune gebaut?« fragt Paul. »Die Menschen werden trotzdem hierherkommen.« Statt rassistischer Hetze brauche Deutschland einen rationalen Dialog auf Augenhöhe mit den Neuankommenden. »Wie wollen wir gemeinsam leben?« sollte Paul zufolge die Frage lauten. Sie und andere informieren Geflüchtete über Rechte und Möglichkeiten in Deutschland. Durch den Protest sind Paul und ihre Mitstreiter auch Expertinnen für Flucht und Asyl geworden. Ihre Forderungen sind aktueller denn je.