Das Ende einer Alternative
Nach derzeitigem Stand sieht es so aus, als würde es in diesem Jahr nur eine Parade zum Christopher Street Day in Berlin geben. Der alternative Umzug, der erst »Transgenialer CSD«, dann »Kreuzberger CSD« und zuletzt »XCSD« hieß, wird aller Wahrscheinlichkeit nach ausfallen, das erste Mal nach 19 Jahren. Denn es findet sich nach den Debakeln der vergangenen Jahre niemand, der ihn veranstalten möchte. »Natürlich wäre das sehr schade«, sagte die ehemalige Mitorganisatorin des »kleinen CSD«, Tülin Durman, dem schwul-lesbischen Stadtmagazin Siegessäule. Doch angesichts dessen, wie diese Veranstaltung sich entwickelt hat, ist das Ausbleiben des Umzugs nicht nur bedauerlich.
Was am offiziellen CSD als »unpolitisch« gebrandmarkt wird, das unbeschwerte Feiern, ist nur möglich, weil Schwule, Lesben und andere harte politische Kämpfe für diese Freiheit geführt haben.
Es gab gute Gründe für einen »Transgenialen CSD«, als dieser sich 1998 zum ersten Mal in Bewegung setzte. Ein Jahr zuvor war es auf dem CSD zu einer handfesten Auseinandersetzung gekommen. Der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus, Klaus-Rüdiger Landowsky, hatte zuvor in einer Rede mitgeteilt: »Es ist nun einmal so, dass dort, wo Müll ist, Ratten sind, und dass dort, wo Verwahrlosung herrscht, Gesindel ist. Das muss in der Stadt beseitigt werden.« Aus Protest gegen diese Hetzrede hatte sich der »Herz-mit-Hirn-Block« gebildet, dessen CSD-Wagen Nr. 51, befahren von den »Queerulanten«, zierte eine große Ratte und hielt eine Wanne voller Schlamm bereit, mit dem sich die Schwulen aus Protest gegen Landowskys Aussagen eingeschmiert hatten. Im Block hatten sich ferner das Schwulenreferat des AStA der Freien Universität, ein Wagen einer PDS-Gruppe und einer des Clubs SO36 eingereiht.
Die damaligen Organisatoren des CSD, bestehend aus dem Infoladen Mann-O-Meter (MOM), der Berliner Abteilung des Schwulenverbands Deutschland (SVD) sowie dem Sonntags-Club, hatten diesen politisch unliebsamen Zusammenschluss schon nach kurzer Zeit bei der Polizei von der Demonstration abgemeldet, ohne dies dem »Herz-mit-Hirn-Block« mitzuteilen. Als Grund für ihren Entschluss hatten die Veranstalter Stein- und Schlammwürfe angegeben. Schlamm war tatsächlich geflogen – allerdings auf einen in SA-Uniform posierenden Mann, der an der einen Hand einen Mann in KZ-Häftlingskleidung geführt hatte. Eine Einsatzhundertschaft der Polizei sollte den Ausschluss des Blocks durchsetzen, es kam zu Auseinandersetzungen zwischen Beamten und Demonstranten. Die Schlammwürfe dürften aber nicht der Grund für den Ausschluss gewesen sein. Vielmehr hatten die »Queerulanten« den SVD und den MOM wegen deren Anbiederung an die Politik kritisiert, vor allem an den damaligen Innensenator, den stramm konservativen Jörg Schönbohm (CDU).
Die Forderung nach gleichen Rechten, wie sie damals von der CSD-Leitung proklamiert wurden, hatten vielen Linken nicht gefallen. Sie sprachen sich zum Beispiel gegen die gleichgeschlechtliche Ehe aus, die nur eine Erweiterung der heterosexuellen Norm auf die übrige Bevölkerung darstellte. Es ging um die Frage: Anpassung, ja oder nein? In gewissem Maße war dies, wenn auch auf einer anderen Ebene, eine Neuauflage des Berliner Tuntenstreits von 1973, bei dem sich die Szene an der Frage gespalten hatte, ob man als Schwuler im Fummel der Bewegung schade oder nicht. Dass der »Transgeniale CSD« sich gründete, hatte also nicht nur den rein praktischen Grund, dass man befürchten musste, wieder von der eigenen Demonstrationsleitung der Polizei ans Messer geliefert zu werden. Explizit politische Differenzen waren der Auslöser. So entstand der alternative CSD in Berlin, dessen Transparente die Verfolgung von Homosexuellen in aller Welt, Rechte von Transpersonen und Armut zum Thema machten – tatsächlich Themen, die beim großen CSD nicht ausreichend zur Sprache kamen.
Mit dem jüdischen Staat hatte der alternative CSD jedoch immer seine Probleme. Als sich 2003 die eigens gegründete Gruppe »Queer for Israel« als Reaktion auf zuvor während einer anderen Demonstration auf dem Kreuzberger Heinrichplatz verbrannte Israel-Fahnen mit einer ebensolchen Fahne am Transgenialen CSD beteiligen wollte, forderte eine Person auf dem Lautsprecherwagen über das Mikrophon, man solle die »Scheißfahne« herunternehmen. Zudem versuchten Demonstrationsteilnehmer, die israelische Flagge anzuzünden. Über das eigene Gründungsstatut, das das Zeigen von Nationalsymbolen verbietet, sahen Veranstalter und Teilnehmer ein Jahrzehnt später hinweg, als 2015 vom Balkon des Neuen Kreuzberger Zentrums eine mit der Regenbogenfahne verknotete Palästina-Fahne über dem sich darunter bewegenden Demonstrationszug geschwenkt und von der Mehrheit der Anwesenden frenetisch bejubelt wurde. Verantwortlich für diese fatale Kombination aus bedruckten Stoffen war die Gruppe »Berlin against Pinkwashing«, die seither regelmäßig und penetrant in der Szene auftritt.
Auch das wiederkehrende Reden über die angebliche »Kommerzialisierung« des großen CSD lässt tief blicken. Die mitfahrenden Wagen von Unternehmen gelten als Zeichen des Kommerzes. Auch der bloße Spaß an der Freude, den man auf einem typischen CSD in allerlei Farben zu sehen bekommt, wurde auf der Kreuzberger Veranstaltung stets angeprangert, denn politisch ist anscheinend nur derjenige, der sich das Lachen verkneift. Was am offiziellen CSD als »unpolitisch« gebrandmarkt wird, das lustvolle, unbeschwerte Feiern, ist jedoch nur möglich, weil Schwule, Lesben und andere in der Vergangenheit harte politische Kämpfe für diese Freiheit geführt haben. Die Zeiten, in denen sich Schwule nur vermummt auf Demonstrationen wagten – so war es im Berlin der siebziger Jahre –, wünscht sich hoffentlich niemand zurück. Wer, wie Redner und Teilnehmer des alternativen CSD, Unternehmen mit Diversity-Abteilungen vorwirft, sie wollten sich von irgendetwas reinwaschen, verkennt, dass ein Unternehmen mit einem Diversity-Kodex ein angenehmerer Arbeitsplatz für eine nichtheterosexuelle Person ist als eines ohne. Der Rest der Argumentation ist typische Lustfeindlichkeit.
Doch das laszive Zurschaustellen des spärlich bekleideten Körpers zu Popmusik ist immanent politisch: Die sich auf dem großen CSD Versammelnden beharren auf ihrem Anderssein und bestehen darauf, gesehen zu werden und sich ohne Angst in der Öffentlichkeit zu bewegen. Die dort zu sehenden muskulösen, trainierten Körper mögen nicht dem persönlichen Geschmack entsprechen, sie aber zu »durchkapitalisierten, kommerziellen Körpern« zu erklären, wie es im Milieu rund um den alternativen CSD regelmäßig geschieht, ist politisch fatal. »Leistung« als einen gesellschaftlichen Zwang zu kritisieren, ist etwas grundlegend anderes, als Menschen anzugreifen, die mit einer persönlichen sportlichen Leistung ihren Körper so formen, wie er ihnen gefällt. Zudem durchzieht die Kommerzialisierung auch das queere Milieu, was dieses jedoch lieber auf andere projiziert. Selbstverständlich ist auch »queer« ein Label, eine Marke, ein Verkaufsargument. Wer naiv von der Unschuld eines Begriffs ausgeht, nur weil er subkulturell geprägt ist, hat von kapitalistischer Verwertung nichts verstanden.
Der Unterschied zwischen dem großen und dem alternativen CSD ist mittlerweile nur noch ein lebensweltlicher. Ausschlaggebend für den Besuch des einen oder des anderen ist eher der persönliche Geschmack als das politische Programm. Der CSD in Kreuzberg pflegte zuletzt nur noch einen Abgrenzungskampf. Das zeigt eine Auswahl aus den Aufrufen vergangener Jahre: »Selbstbedienung durch die Zocker« hieß es 2010, Homoaktivisten wurden 2015 dargestellt als »von oben umarmt, kuschelnd mit Staat und Großkonzernen«, 2016 kritisierte man die »sogenannten Errungenschaften der westlichen Gesellschaft«.
Dabei gäbe es gerade in diesem Jahr genug Gründe, um zu protestieren, zum Beispiel gegen die Massenverhaftung und Misshandlung von Schwulen in Tschetschenien, gegen die Ermordung Homosexueller im Iran oder gegen die Verfolgungspolitik vieler afrikanischer Staaten, in denen Homosexualität als dekadentes Importprodukt des Westens gilt. Über diese Missstände, davon kann man ausgehen, würde man auf dem großen CSD mehr hören als auf dem alternativen. Denn heutzutage scheint es einer Mehrheit aus dem links-queeren Milieu wichtiger zu sein, gegen die angebliche Instrumentalisierung seiner politischen Kämpfe und für deren vermeintliche Authentizität zu demonstrieren, anstatt zu feiern, was besser geworden ist, und Kritik an dem zu üben, was besser werden muss.