Wie Sonic Youth die Musik der neunziger Jahre prägten

Verblödung minus Utopie

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Sonic Youths Utopie wurde nicht wahr: Statt J Mascis wurde George H. W. Bush Präsident, aber nur offiziell: Inoffizieller Anführer, zumindest der musikhörenden Jugend, war spätestens seit 1991 Kurt Cobain. Dessen Band Nirvana wäre wohl nie außerhalb von Washington State bekannt geworden, wären da nicht Sonic Youth gewesen. Sie freundeten sich an, gingen zusammen auf Tour und vermittelten Nirvana an ihr eigenes, neues Majorlabel Geffen Records, wo »Nevermind« 1992 erschien.

Nach »Daydream Nation« war die Band ausgelaugt. Sie erhielt zwar hervorragende Kritiken für das Album und waren ja bereits subkul­turelle Heroen, doch finanziell wirkte sich das nicht aus. Die Verkaufszahlen blieben unter den Erwartungen, mit den Strukturen der Indie-Musikbranche gab es nur Ärger, und wie sich Thurston Moore in David Brownes Biographie der Band erinnert, war auf einem großen Label auch »eine professionelle Veröffentlichung und Abrechnung plus ­Krankenversicherung« zu haben. Außerdem wunderten sich die Mit­glieder, wie ihr abwegiger Sound klingen würde, wenn er mit mehr Geld, also aufwendiger aufgenommen werden würde, wie eine kommerzielle Platte einer großen Rockband. Die Band aus dem New Yorker Underground begann im Sommer 1989 Verhandlungen mit dem Label Geffen, die schließlich erfolgreich waren. Ihr vorheriges Label Enigma löste sich 1991 aufgrund von Geldproblemen auf.

Im Sommer 1990, nachdem ihr Album »Goo« erschienen war, interviewte der MTV-Moderator Dave Kendall Thurston Moore und Steve Shelley und fragte gleich zu Beginn: »Wie oft wurdet ihr in den letzten Monaten gefragt, ob ihr euch restlos verkauft habt, jetzt, da ihr einen Deal mit einem Majorlabel habt?« Moore antwortete mit reichlich Lakonie in der Stimme: »Du bist der Erste!« Natürlich war das nicht so: Nicht nur von außen war der Druck groß, auch die Band selber hatte Angst, ihre ­Seele dadurch zu verkaufen, dass sie jetzt mit der Musikindustrie arbeiteten. Trotzdem blieben sie integer: sie ließen sich volle künstlerische Freiheit garantieren, setzten als Produzen­ten lauter Musiker aus der Szene ein und fingen einmal mehr damit an, Pop­referenzen zu streuen, die für ein Mainstream-Publikum gar nicht so leicht zu verstehen waren. Ende der Achtziger lechzte der Musikmarkt nach Gitarrenmusik, das machte die Labels erpressbar. Indem Sonic Youth mutig genug waren, den Indielabels den Rücken zu kehren und sich auf die Musikindustrie einzulassen, verbogen nicht sie sich, sondern sie verbogen die Industrie und wurden belohnt mit besseren Produktionsmitteln und der Möglichkeit, den Boden für junge Bands zu bereiten.

So ist es kein Wunder, dass Anfang der neunziger Jahre die Zeit war, in der massenhaft Gitarrenbands gegründet wurden, die nicht nur die Musikszene immens prägten und Bekanntheit erlangten, sondern auch alle mit Sonic Youth verbandelt waren, obwohl sie den Majorlabeln zum Teil extrem kritisch gegenüberstanden: Riot Grrrl entstand, was ohne den Einfluss von Kim Gordon, die sich jahrelang als »Girl in a Band« gehalten hatte, kaum möglich schien (zwischen Gordon und Bikini-Kill-Sängerin Kathleen Hanna besteht darüber hinaus eine Freundschaft). Noise-Rock-Bands wie The Jesus Lizard, Unwound, die Cows oder Fugazi gründeten sich, ebenso Indiebands wie Pavement (deren Bassist Mark Ibold später fünftes Mitglied von Sonic Youth werden sollte) oder die Breeders, bei deren Video zum weltweiten Hit »Cannonball« Kim Gordon Regie führte. Auch ein Musiker wie der selbsternannte Loser Beck verdankt Sonic Youth eine Menge: Thurston Moore unterstützte ihn enorm und empfahl ihn ebenfalls an Geffen Records. Und dann war da eben auch noch Grunge: Das erste Album von Hole produzierte Kim Gordon, da kannten sich Courtney Love und Kurt Cobain noch gar nicht. Und die Zeit, in der Punk endgültig tot sein sollte, kam zwar ein paar Jahre später, wurde aber von Sonic Youth und Nirvana gemeinsam auf das Jahr 1991 datiert, in dem sie ihre gemeinsame Europa-Tour »The Year Punk Broke« nannten.

Nirvana verkauften ein Jahr später mindestens zehn Millionen Kopien von »Nevermind«, während die mittlerweile elf Jahre bestehenden Sonic Youth von David Letterman in seiner Show als eine »exciting young band« angekündigt wurden. Obwohl die Band sogar versuchte, »kommerzieller« zu klingen, gelang ihr der klas­sische Durchbruch nicht. Ihre Rolle war die der Wegbereiter, der Avantgarde. Zeitweise dachten sie daran, sich aufzulösen, nicht nur aus gekränkter Eitelkeit heraus, sondern auch aufgrund finanzieller Probleme.

Sonic Youth aber machten weiter. Sie behielten ihre Kompromisslosigkeit und veröffentlichten mit »Wash­ing Machine« und »A Thousand ­Leaves« mitten in den Neunzigern zwei Alben, die so kompliziert, so experimentell und so radikal klingen, dass man sie niemals als Release einer großen Plattenfirma vermuten würde. Zusätzlich gründeten sie ihr eigenes Label Sonic Youth Records, auf dem sie in regelmäßigen Abständen Jamsessions veröffentlichten. Ihr Wechsel zum Majorlabel hatte keine viel beschworene oder befürchtete »Kommerzialisierung« zur Folge: sie erlaubte der Band erst richtig, ihren eigenen Sound zu entwickeln und damit ein größeres Publikum zu erreichen und Geld zu verdienen.

Sonic Youth lösten sich 2011 auf. Ihr letztes Album mit dem pragmatischen Titel »The Eternal« (Das Ewige) veröffentlichten sie wiederum als erstes Album seit »Goo« wieder auf ei­nem Indielabel, nämlich bei Matador.

Die ersten Jahre der Neunziger waren also eine Zeit, in der die Loser, die Nerds, die Schlechtgelaunten und die Außenseiter bei MTV liefen und Platten verkauften. In einer Zeit, in der das Ende der Geschichte verkündet wurde, streuten diese Bands nicht nur Referenzen an die eigene, nämlich die vergangene Musikgeschichte und trugen sie hinein in eine, wenn auch zuweilen pessimistisch gesehene Zukunft, sondern sie produzierten selbst Geschichten: Anekdoten, Songtexte, Szenen und Diskussionen. Seit der einstige Detroit Rock der Stooges oder MC5 vollends durch den Detroit Techno verdrängt worden ist und Gitarren in der Musik kaum noch eine Rolle spielen, geht auch immer mehr Geschichte verloren. Techno kennt weder eine Vergangenheit, noch eine Zukunft: Techno kennt allein die brutale und endlose Gegenwart auf der Tanzfläche, das banale Sein im Moment. Keine Melodie, an die man sich erinnern könnte, kein Songtext, der etwas erzählt.

Diedrich Diederichsen besprach »Daydream Nation« damals für die Spex und attestierte der Platte und gleichzeitig der gesamten Musik eine Dialektik zwischen gutem Traum und Dämmerzustand, zwischen der Verkündung von »bad news« und dem Sich-erheben über die Verhältnisse. Sein Text trug den Titel »Utopie und Verblödung«. Heute scheint es so, als sei davon nur noch die Verblödung übrig geblieben.