Patienten ohne Hoffnung auf Heilung auf einer Palliativstation

Nicht mehr heilbar

Rund 25 Menschen arbeiten auf der Palliativstation im Mainzer Marienhaus-Klinikum. Neben Pflegerinnen, Krankenschwestern und Ärzten kümmern sich Sozi-alarbeiter, Physiotherapeuten, Seelsorger, Psychologen und eine Musiktherapeutin um die acht todkranken Patienten und deren Angehörige. Eine Reportage.

Auf dem großen holzbeplankten Balkon der Palliativstation, oben im dritten Stock des Mainzer Marienhaus-Klinikums, über den Wipfeln der Bäume, rauchen zwei alte Männer ihre Morgenzigaretten in der warmen Frühlingssonne und hoffen, noch etwas leben zu dürfen. Sie husten. Sie haben Schmerzen. Der eine sitzt im Rollstuhl, der andere trägt seine elektronische Spritzpumpe voller Morphium wie ein kleines Radio mit sich herum. Beide haben Krebs, beide werden vermutlich daran sterben.

Der Mann im Rollstuhl heißt Kurt Nitzschner. Er ist 72, hat volles stahlgraues Haar. Bis der Krebs kam, fuhr er Lastwagen, ab und zu, neben der Rente. Sein halbes Leben hat er auf den Straßen verbracht, erst als Trucker, dann als Handelsvertreter, erzählt er. Nitzschner sah viele Unfälle, einmal den abgerissenen Kopf eines Toten. Ein Bild, das er nicht vergisst. Auch er geriet auf der Straße in lebensgefährliche Situationen. „Manchmal fährt man nur eine Handbreit am Tod vorbei“, sagt er. Der ist für ihn wie ein alter Bekannter. „Ich habe seit zwei Jahren Krebs. Nicht heilbar, Metastasen überall“, sagt Nitzschner.

Der Aufwand ist hoch. Rund 25 Menschen kümmern sich hier auf der Station um die acht Patienten und deren Angehörige.

Der andere heißt Heinz-Peter Riedel, ein zierlicher 64jähriger Raumausstatter, der Krebs hat seine Knochen so porös werden lassen, dass ihm das Schlüsselbein gebrochen ist. „Krrrrtsch hat’s gemacht, ich kann mich noch ganz genau an das Geräusch erinnern“, sagt er. Mit dem Krebs kam der Schmerz. Es fühlt sich an, als ob sein Körper von einem riesigen Schraubstock zerdrückt werde. Die Luft bleibt ihm weg, er bekommt Angst, zu ersticken. Ohne Morphium erträgt er es nicht mehr. Auf dem Tisch steht die Spritzpumpe, der Schlauch führt an die Kanüle in seinem dünnen Arm.

Auf dem Balkon dürfen sie rauchen. „Das macht jetzt auch nichts mehr“, sagt Riedel und zieht an seiner Zigarette. Das Rauchen auf dem Balkon hat ihnen Dr. Bernd Wagner erlaubt, Stationsleiter und ausgerechnet Lungenfacharzt. Wagner ist 57, ein großer schlanker Mann mit weißen Koteletten. Er spricht ruhig, aber bestimmt, seinem sanften Gesicht könnte man die schlimmsten Sorgen anvertrauen. Er arbeite gerne an diesem Ort, sagt er, für ihn gehöre der Tod zum Leben, genauso wie die Geburt. Kommt man auf das Thema Sterben zu sprechen, provoziert das erstmal eine Klarstellung: Palliativmedizin beschäftigt sich zuerst mit der Lebensqualität von unheilbar Kranken – und nicht mit dem Sterben. Schmerzen sollen minimiert, Ängste genommen und aussichtslose, riskante Eingriffe vermieden werden. „Wir sind hier kein Todestrakt“, sagt er, Palliativmedizin habe den Tod weder zu beschleunigen, noch zu verlangsamen. „Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben“, zitiert er die britische Pallivativ-Pionierin Cicely Saunders.

 

Die Station

Acht Einzelzimmer führen in den Gemeinschaftsraum mit offener Küchenzeile und Esstischen. In der Mitte befindet sich ein Separee mit vier Sitzen und gepolsterten Seitenwänden. Hier werden Gespräche geführt, die Ruhe brauchen und nicht im Patientenzimmer stattfinden sollen. Auf dem  Tischchen steht eine fast leere Box mit Taschentüchern. Durch die bodentiefe Fensterfront blickt man auf den großen Balkon. An den Wänden Fotos von Mainz. Narren beim Fastnachtsumzug. Der Dom. Menschen in der Altstadt. Die Fotos zeigen das Leben von seiner schönen Seite. Vielleicht sollen sie Mut machen, noch einmal aufzubrechen.

Rund die Hälfte der Patienten verlässt die Station lebendig. Für sie geht es nach Hause, wenn dort die Betreuung gesichert ist, falls nicht, kümmert man sich hier um die Verlegung ins Hospiz. Manche erholen sich noch einmal und werden auf einer anderen Station weiterbehandelt. Die Sterbenden werden in den Tod begleitet. „Wir wollen die letzte Phase leichter machen, schmerzlindernd, beruhigend“, sagt Wagner. Die Angehörigen der Todkranken werden in die Patientengespräche einbezogen, dürfen so viel Zeit auf der Station verbringen wie sie wollen und können hier übernachten.

Der Aufwand ist hoch. Rund 25 Menschen arbeiten hier auf der Station. Neben Pflegerinnen, Krankenschwestern und Ärzten kümmern sich Sozialarbeiter, Physiotherapeuten, Seelsorger, Psychologen und eine Musiktherapeutin um die acht Patienten und deren Angehörige. Doch nur 15 Prozent aller Krankenhäuser unterhalten eine Palliativstation mit meist acht bis zehn Betten, listet die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin auf. Von einer halben Million Krankenhausbetten stehen 2800 auf Palliativstationen.

Viel zu wenig. Jedes Jahr sterben 400.000 Patienten in deutschen Krankenhäusern, wie das Statistische Bundesamt errechnet hat. Das Klinikum steht als Todesort an erster Stelle. Die Vorstellung, dort im Kreise von Familie und Freunden friedlich einzuschlafen – eine Illusion. In der Realität stirbt der Patient meist während einer Operation – oder alleine.

Die Gesellschaft wird immer älter und einsamer. Die Zahl der kinderlosen oder verwitweten alten Menschen nimmt zu, viele haben am Lebensende niemanden mehr, der sich um sie kümmert, analysiert eine Bertelsmann-Studie die Folgen des demographischen Wandels. Wer begleitet dann diese Menschen, wenn sie todkrank sind? In der Theorie sieht die Versorgung ganz gut aus, Krankenkassen müssen die Kosten übernehmen. Hospize leisten hervorragende Arbeit, mobile Palliatvdienste besuchen die Patienten zu Hause. Die Lücke im System ist das Krankenhaus. Keine Klinik muss eine Palliativstation haben. Doch in der Klinik sterben die meisten Menschen, hier benötigen unheilbar Kranke mehr als Pflege und intensivmedizinische Versorgung. Es geht um das Ende eines Lebens.

Um Gewinn dreht sich alles im Krankenhaussystem. Manager entscheiden nun über ethische Fragen, das Krankenhaus wird zur Fabrik, Ärzte zu Ingenieuren, Pfleger zu Fließbandarbeitern.

In Großbritannien oder den Niederlanden sei das Angebot an Palliativmedizin viel größer als in Deutschland, berichtet eine internationale Kommission aus Palliativmedizinern, Psychologen, Gesundheitsökonomen, Politikwissenschaftlern und Theologen in der renommierten Medizinzeitschrift <I>The Lancet<I>. Der „Report of the Lancet Commission on the Value of Death“ beschäftigt sich mit dem Wert des Todes in den reichen Nationen. Das Ergebnis: Die meisten Menschen sterben allein auf Intensivstationen, weil viele Todkranke überversorgt werden; bis zum letzten Atemzug versuchen Ärzte, die Sterbenden mit allen erdenklichen Maschinen am Leben zu halten. Einerseits, weil der Schutz des Lebens die Aufgabe der Medizin ist, andererseits, weil sich damit viel Geld verdienen lässt. Die Überversorgung durch teure Eingriffe verschlechtere meist die Lebensqualität der Todkranken, ohne zu einer Heilung beitragen zu können – und isoliere die Patienten von Familie und Freunden, kritisieren die Wissenschaftler. Der Tod werde als Krankheit angesehen, die es zu bekämpfen gelte. Stattdessen müssten wir wieder lernen, den Wert des Todes anzuerkennen. Denn jede Geburt wäre ohne den Tod eine Tragödie, schreibt die Kommission.

 

Auf dem Balkon

Stationsleiter Wagner und die stellvertretende Pflegeleiterin Silvia Krimm beginnen die Morgenvisite. Krimm ist eine junge Frau mit großer Brille und braunem Seitenscheitel. Sie blickt meistens streng, spricht sehr klar und deutlich. Sie lächelt selten. Sucht ein Patient ihre Nähe, werden ihre Züge weich. Man merkt, dass sie wirklich zuhört. Danach wird ihr Gesicht wieder ernst. Es verbirgt, wie nahe ihr der Schmerz und die Nähe des Todes gehen, der ja Wagner zufolge so normal sei wie eine Geburt. Jeder hier versichert, wie gerne er „auf Palliativ“ arbeite – doch man braucht dafür anscheinend eine Rüstung.

Sie beginnen bei Heinz-Peter Riedel, draußen auf dem großen Balkon. Die Sonne scheint, es ist ein warmer Tag im Mai. Von hier aus blickt man auf die grünen Wipfel rund ums Klinikum, in der Ferne sieht man die Spitze des Mainzer Doms. Manchmal zieht kühle Luft hinauf, es riecht nach Fluss. Der Rhein ist nur einen Kilometer weit entfernt. Riedel trinkt Kaffee, die Zigaretten liegen in Reichweite. Es könnte fast wie im Hotel sein, sagt er. Wenn nicht sein Arzt und die Pflegeleiterin mit am Tisch sitzen würden. Sie sprechen über sein gebrochenes Schlüsselbein. Es wird wohl nie mehr heilen. Riedels Knochen sind vom Krebs aufgeweicht, nur das Morphium hilft, die Schmerzen zu ertragen. Er fühle sich hier sehr wohl, trotz allem, sagt er. „Zum ersten Mal geht hier jemand richtig auf mich ein.“ Das Personal nehme sich Zeit, die Ärzte hörten zu. „Auf anderen Stationen ist man nur ein Herz oder eine Lunge, eine Nummer unter vielen.“

Er bekommt einen Großteil seiner Medikamente nun intravenös oder als Depot-Pflaster verabreicht statt als Tabletten. Für ihn eine große Erleichterung. „Das waren 164 Stück pro Woche, Chemo mit eingerechnet“, sagt er. Es graut ihm vor den vielen Tabletten. Am Ende wurde ihm übel, wenn ihn das Klingeln seines Handyweckers an die Einnahme erinnerte.

Wagner schlägt vor, einen Port zu legen, einen künstlichen Zugang für Injektionen an seiner Brust. Riedel hatte schon mal einen, dort ist jetzt eine kleine Narbe. Ein neuer soll gelegt werden. Gar nicht so einfach, bei seinem empfindlichen Gewebe. Doch der Port macht die Medikamentengabe noch einfacher. Injektionen können so schmerzfrei verabreicht werden. Dann fachsimpeln die drei über Medikamente. Riedel kennt sich damit aus, er spricht schon wie ein Mediziner. Er möchte einen Port gelegt bekommen, das Risiko, dabei verletzt zu werden, geht er ein.

Wagner lenkt das Gespräch auf Riedels Familie. Die kommt später zu Besuch. Mit ihr möchte Wagner über Riedels Zukunft sprechen. Bleibt sein Zustand stabil – damit er nach Hause kann? Wer stemmt dann die Betreuung? Öfters mussten Notarzt und Krankenwagen zu Riedels Wohnung fahren, wenn er die Schmerzen nicht mehr aushielt. Wagner erwähnt, dass ein Psychologe bei dem Familiengespräch anwesend sein könnte, falls gewünscht, aber Riedel winkt ab. Wagner und Krimm verabschieden sich, gehen ins nächste Zimmer.

 

 Heinz-Peter Riedel, Raumausstatter

Krebs setzt ihm zu: Heinz-Peter Riedel, Raumausstatter

Bild:
Hardy Müller

Zimmer 21

Eine 76jährige, klein, krebskrank, in die dicke Decke eingemummelt, als wäre es eine kalte Winternacht. Nur ihr grauer Schopf lugt heraus. Wagner setzt sich nah an ihr Gesicht, um ihr Murmeln zu verstehen.

„Wie geht es Ihnen?“ fragt Wagner.

„Schlimm.“

„Was macht es so schlimm?“

„Ich kann kaum atmen, die Schmerzen…“, flüstert sie.

„Wir haben Ihnen vor einer Stunde eine Spritze gegeben, merken Sie schon eine Besserung?“

„Nein.“

„Was geht Ihnen durch den Kopf?“ fragt er.

„Ich will sterben.“

„Spüren Sie, dass Sie bald sterben müssen?

„Ja.“

„Um ehrlich zu sein, ist das auch unsere Einschätzung.“

Sie blickt ihn müde an, dann dämmert sie weg. Ihr Atmen ist kaum zu hören. Man lässt sie ruhen.

„Gestern war sie noch beschwerdefrei und guter Dinge“, sagt Wagner. Jetzt ist sie zu schwach, um Tabletten zu schlucken. Sie soll Medikamente nun intravenös bekommen. Draußen auf dem Flur besprechen Krimm und Wagner die Dosierung. Krimm notiert es in der Patientenakte. Dann verschwinden die beiden im nächsten Zimmer. Dort bleibt die Tür für Besucher geschlossen. Nur wenn Patienten es ausdrücklich wünschen, über ihre Erkrankung zu sprechen, lässt Wagner es zu. Er will die Patienten schützen, manchmal auch vor ihnen selbst.

 

Zimmer der Geschäftsführung, DGP, Berlin

In Mainz genießen die Patienten eine sehr gute Behandlung. Doch was die Situation von unheilbar Kranken in Deutschlang betrifft, warnt die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) vor einer längst bestehenden Unterversorgung. Die DGP ist eine Wissenschaftsgesellschaft von Palliativkräften aller Fachrichtungen. Heiner Melching, ihr Geschäftsführer, ist 58 und gelernter Sozialpädagoge, arbeitete selbst jahrelang im Sozialdienst einer Palliativstation. Seit zwölf Jahren führt er die Geschäfte der DGP in Berlin. Am Telefon spricht er schnell, die meisten Zahlen hat er im Kopf. „337 Palliativstationen an Krankenhäusern sind bei uns gemeldet. Jedes Jahr wurden es mehr, doch jetzt ist der Trend eingebrochen. Im vergangen Jahr sind es erstmalig ein paar weniger geworden“, sagt er. Er rechnet vor, dass an deutschen Krankenhäusern rund sieben Prozent aller Patienten einen Bedarf an allgemeiner Palliativversorgung haben, wovon wiederum 20 Prozent einer spezialisierten Versorgung bedürfen, und das ist seiner Meinung nach sehr niedrig kalkuliert. Daraus ergebe sich eine Versorgungslücke von 170.000 Patienten pro Jahr. Eine Schätzung.

„Natürlich bräuchten wir viel mehr Forschung und Studien, um das belegen zu könnten – aber für solche Studien ist es ausgesprochen schwer, eine Finanzierung oder Förderung zu bekommen“, sagt Melching. Doch schon jetzt habe jede Station Wartelisten. Zwar seien die deutschen Palliativstationen im Schnitt zu 86 Prozent ausgelastet, in der Realität seien es aber 100 Prozent. „Zu den 86 Prozent kommt es, weil bei der kaufmännischen Berechnung der Aufnahme- und Entlassungstag als nur ein Tag gezählt wird und ein Bett als ‚leer‘ gezählt wird, sobald ein Patient verstorben ist. Hinzu kommt, dass Patienten, die auf einer Palliativstation verstorben sind, meist nicht sofort von der Station weggebracht werden, sondern Angehörige und Freunde die Möglichkeit bekommen, sich zu verabschieden. Auch die Neubelegung mit Patienten von der Warteliste nimmt mindestens einen Tag in Anspruch, was zu einem rechnerischen ‚Leerstand‘ führen kann.“

Das Paradox der Palliativmedizin sei ihr Preis, sagt Melching. „Sie ist zu billig, nicht zu teuer.“ Ein Tag auf der Palliativstation koste rund 550 Euro, auf der Intensivstation dagegen 1400 Euro und für einen Durchschnittspatienten müssten im Schnitt 700 Euro aufgebracht werden. „Jede Palliativstation bringt zwar Geld ein, aber nicht so viel wie andere Stationen. Außerdem benötigt sie viel Personal. Das sieht erstmal teuer aus. Für einen Kaufmann ist das einfach nicht attraktiv, weil sich mit Apparatemedizin mehr Umsatz machen lässt“, sagt er.

Und um Gewinn dreht sich alles im Krankenhaussystem. Maschinen im Einsatz bringen Umsatz. Gespräche kosten Zeit – und Geld. Manager entscheiden nun über ethische Fragen, das Krankenhaus wird zur Fabrik, Ärzte zu Ingenieuren, Pfleger zu Fließbandarbeitern. Das Ziel: mehr Gewinn. Der Weg: weniger Personal, kürzere Behandlungsdauer und mehr planbare, gewinnträchtige Eingriffe, etwa Hüftoperationen. Der Preis: ausgebranntes Personal und schlechter versorgte Patienten.

Mittlerweile gingen sogar Controller mit auf Visite, berichtet Melching. Sie sollen überprüfen, welche zusätzlichen Abrechnungsziffern veranschlagt werden können. Denn Krankenhäuser in Deutschland rechnen seit dem Jahr 2004 ihre Leistungen in Diagnosis Related Groups ab, kurz DRGs oder Fallpauschalen genannt. Jede Leistung ist beziffert und wird nach einem vereinbarten Satz bei den Krankenkassen abgerechnet.

„Das DRG-System ist klug gedacht – es wird nur falsch gelebt. Unter Chefärzten gilt immer öfter: Wer holt am meisten raus? Wo kann ich erlösträchtige Therapien anwenden? Wenn etwa eine bestimmte Diagnose 4000 Euro bringt, wird überlegt, wie man es für 3500 Euro machen kann, was eigentlich nur durch Personalreduzierung möglich ist. So bleibt mehr Gewinn übrig. Doch wenn Leistungen ständig günstiger werden, wird auch das dazugehörige DRG reduziert. Aber ein gewinnorientiertes Unternehmen will immer Kosten senken und Erlöse erhöhen. Ein gefährlicher Kreislauf“, sagt Melching. Trotzdem seien die DRGs gut für die Palliativmedizin. Denn sie schreiben vor, multiprofessionelle Teams aus Ärzten, Psychologen oder Sozialarbeitern einzusetzen. Werden genug Konferenzen abgehalten und protokolliert, in denen die bestmögliche Behandlung der Patienten diskutiert wird? All das verlangt das DRG. „Bei den rund 80 Häusern, die nach Tagessätzen statt nach Fallpauschalen abrechnen, fehlen diese Kriterien, sofern sie nicht gesondert vereinbart wurden. Das DRG hingegen sichert zumindest ein kleines Maß an Qualität.“

 

Stationsleiter Dr. Bernd Wagner

Den Tagen mehr Leben geben. Stationsleiter Dr. Bernd Wagner (li.) im Gespräch

Bild:
Hardy Müller

Zimmer 28

Während Wagner und Krimm hinter verschlossner Tür mit einer Patientin reden, läuft ein kreidebleicher 40jähriger durch die Station. Er sucht einen Teebeutel für seine Mutter auf Zimmer 28. Seit drei Nächten wacht er neben ihrem Bett, hat selbst kaum geschlafen. Die Schwestern kümmern sich um den Tee, er soll erstmal etwas essen. Mit einem Krankenhausmenü setzt er sich an einen der Tische auf dem Balkon. Er heiße Michael, sagt er. Vor vier Monaten entdeckten die Ärzte bei seiner Mutter Gebärmutterkrebs. Er erzählt von Bestrahlungen, von Metastasen, der Krebs streut bis ins Gehirn. Endstadium. Sie leidet unter furchtbaren Schmerzen.

Michael hat das schon mal miterlebt. Er begleitete seinen Großvater in den Tod. Er erzählt vom Notarzt, der Morphium spritzte. Er erzählt von den 20 Stunden, die er neben seinem Großvater wachte. „Die Atmung wird schwach, ganz langsam. Dann ist es vorbei“, sagt er.

Das Schwierige kommt danach. Die Entscheidungen, die Formulare. Für die Einäscherung. Für den Bestatter. Für die Todesanzeige. Für die Grabsteininschrift. Ein paar Wochen später wird das Krankenbett aus dem Haus abtransportiert, letzte Rechnungen kommen. „Dann erst kapierst du, das jemand für immer weg ist. Dann kommt der Schmerz.“

Michael sagt, seine Mutter habe eine Patientenverfügung verfasst. Sie wolle keine lebenserhaltenden Maßnahmen. Die Hornhaut ihrer Augen soll gespendet werden. „Jeder sollte eine Patientenverfügung haben“, sagt er. Das mache es den Verwandten leichter.

Nach dem Essen geht er wieder in ihr Zimmer, hält ihre Hand, liest ihr aus einem Buch vor. Er lächelt, obwohl ihm nach Weinen zumute ist. Die Tränen hält er mit Mühe zurück. „Ich will für meine Mama stark sein, sie braucht mich jetzt“, sagt er. Für die kommenden Tage hat er sich freigenommen. Er führt ein Unternehmen, aber an Arbeit ist jetzt nicht zu denken. Bei seinem Handy hat er die Rufumleitung aktiviert, jeder Anruf kommt jetzt in der Firma an. Soll sich das Büro drum kümmern. Michael ist jetzt nur noch Sohn.

 

Zimmer 27

Wagner und Krimm klopfen an Zimmertür 27. Ihr nächster Patient ist Kurt Nitzschner, der Trucker im Rollstuhl. Er richtet sich im Bett auf, streicht sich durchs Haar, dann packt ihn der Husten, schütteltet ihn durch. Sein Gesicht wird rot, seine Finger graben sich in die Bettdecke. Krimm will ihm helfen, doch er winkt ab, hustet Schleim in ein Taschentuch. Es dauert einen Moment, bis er wieder sprechen kann. Sie reden über sein Tablettenproblem. Er weigert sich oft, Schmerzmittel zu schlucken. Nur, wenn er es gar nicht mehr aushält, nimmt er welche. Er erzählt von seinem Trauma: Eine Operation während seiner Jungend. Die Ärzte betäubten ihn mit Äther. Irgendetwas sei dabei schiefgegangen, sagt er. Die Dosierung war wohl zu gering. Er konnte sich nicht mehr bewegen und nicht mehr sprechen, bekam jedoch alles mit. „Ich habe Höllenqualen gelitten. Ich habe gehört, was die Ärzte während der OP über mich redeten.“ Dann setzten Halluzinationen ein. Er erzählt von Horrorgestalten. Seitdem fällt es ihm schwer, Betäubungsmittel einzunehmen. Auf der Station akzeptieren sie seine Tablettenangst. Niemandem wird hier etwas aufgedrängt.

Nitzschner erzählt von seiner Erkrankung. Der Krebs streut. Knochen, Rücken, Blase. Das Schlimmste, sagt er, sind die Schmerzen – ein Brennen, einfach unvorstellbar.

Ärzte empfahlen ihm vor zwei Jahren, die Blase zu entfernen, das könnte sein Leben vielleicht etwas verlängern. „Ich will aber nicht mit einem Urinbeutel herumlaufen“, sagt er. „So kann man doch nicht LKW fahren.“

Seit 41 Tagen ist er hier auf Station, im Durchschnitt bleiben Patienten elf Tage. Sobald sein Gesundheitszustand stabil genug ist, soll er verlegt werden. Wagner hat sich um einen Hospizplatz gekümmert. Nächste Woche könnte Nitschner dort einziehen. Doch es bleibt offen, ob sein Zustand das erlaubt.

Am liebsten würde Nitzschner nach Hause, doch er lebt allein. Er ist auf den Rollstuhl angewiesen und benötigt im Alltag immer häufiger Hilfe. Manchmal lähmt ihn der Schmerz. Seine 18jährige Tochter ist berufstätig und kann ihn nicht rund um die Uhr betreuen.

Wagner sagt, dass Hospiz sei eine Option.

Nitzschner wirkt wenig begeistert. Das Hospiz ist für ihn eine Endstation. Er denkt an sterbende Menschen. Die Pflege, die Unterstützung, die er dort bekommen könnte, erscheinen ihm als wohl als endgültiger Verlust seiner Selbstständigkeit. Dem alten Trucker fällt es schwer, auf dem Beifahrersitz des Lebens Platz zu nehmen. Stattdessen drängt er darauf, noch einmal nach Hause kommen. Es geht um seinen Nachlass.

„Ich will es erledigen, bevor der große Tag kommt“, sagt er.

„Der große Tag, Sie meinen…“
„…der Tag, an dem ich sterben werde.“

Wagner überlegt. „Vielleicht ist möglich, vom Hospiz aus stundenweise nach Hause zurückzukehren“, schlägt er vor.

Ein Kompromiss. Nitzschner will darüber nachdenken.

 

Zimmer 28

Michael kommt aus dem Zimmer seiner Mutter. Er ist noch blasser geworden. „Sie sagt, sie geht jetzt auf die andere Seite.“ Eine Pflegerin sieht nach seiner Mutter. Ihr Zustand scheint sich zu verschlechtern.

 

Im Konferenzraum

Jeden Mittwoch um 13 Uhr trifft sich das Team zur Konferenz. Auch heute. Pflegerinnen, Ärzte, Sozialarbeiterin, Physiotherapeutin, Pfarrerin und Psychologe sitzen um ein Rechteck aus aneinandergereihten Tischen. Auf einem Beistellwagen steht eine LED-Kerze. Wenn jemand gestorben ist, wird sie angeschaltet. Wagner schlägt gegen einen kleinen Gong. Gespräche verstummen. Sie beginnen mit dem Neuzugang, einer alte Dame mit Krebs. Ihre Verdauung funktioniert nicht mehr. Sie muss Kot erbrechen. Die stellvertretende Pflegeleiterin Krimm führt Protokoll, Wagner macht sich Notizen.

Sie sprechen über alle Patienten. Sie sprechen über deren Angehörige. Sie sprechen über Therapien. Eine Patientin soll bald nach Hause entlassen werden. Doch dort kommt sie kaum die Treppe hinauf. Die Physiotherapeutin schlägt vor, sie durch Beintraining ans Treppensteigen zu gewöhnen. Bisher üben sie, mit dem Rollator zu gehen, damit die Patientin lernt, sich wieder eigenständig zu bewegen. Die Physiotherapeutin erzählt von Tränen. Ein Fall für die Pfarrerin - oder eher für den Psychologen? Manche wollen von Gott nichts wissen - andere auf einmal wieder. Manche können sich einem Mann leichter öffnen, andere einer Frau. Das Team bespricht sich. Die Pfarrerin übernimmt. Krimm protokolliert. Wagner notiert.

Draußen scheint die Mittagssonne. Durchs offene Fenster weht der Essensgeruch der Kantine herein. Einer Pflegerin fallen die Augen zu. Ihr Kopf sackt auf die Brust.

Sie reden über einen Patienten, der mit seinem Sohn zerstritten ist. Der Psychologe hat mit dem Sohn telefoniert. Der will seinen Vater nicht sehen.

„Man kann am Ende nicht alles gerade biegen“, sagt der Psychologe.

Sie besprechen, wie man einer Sterbenden helfen kann. „Sie kann nur noch auf der linken Seite liegen, wegen der Wassereinlagerungen“, sagt die Physiotherapeutin. Massagen lehnt die Patientin ab, ihre Haut tue ihr weh, ein Brennen, das kaum zu lindern sei.

Sie überlegen bei jedem Patienten, was die Situation verbessern könnte. Manchmal hilft schon ein Ventilator oder ein Gespräch mit dem Psychologen. Manchmal bleibt nur eine Sedierung als Option übrig.

 

Der Besucherraum

Auf dem Sofa im Besucherraum liegt eine Gitarre. „Die nehmen wir manchmal für die Musiktherapie“, sagt Wagner. Wer hier im gedämpften Licht einer Schirmlampe sitzt, zwischen Gitarre, Kartons und einem Bücherregel, kann für einen Moment vergessen, in einem Krankenhaus zu sein. Vielleicht ist das ja der Zweck der wohldosierten Unordnung. Wagner packt die Gitarre in ihren Koffer. Auch er spielt Gitarre und singt in einer Indie-Band, den „The Wide Plains“, Erstgründung 1989. Inzwischen treten sie nicht mehr auf, aber auf Youtube haben sie ein paar Musikvideos hochgeladen. Wagner singt von der Angst eines Krebspatienten vor dem Untersuchungsergebnis, er singt vom Verlust der Normalität, während für Gesunde das Leben weitergeht.

Er stellt den Gitarrenkoffer in die Ecke. Für Musik ist jetzt keine Zeit.

 

Auf dem Balkon

Riedel hat Besuch, seine ältere Tochter ist vorbeikommen. „Sie ist Achtzehneinhalb“, sagt er. Die beiden reden über Handy-Akkus, über eine danebengegangene Klausur, vergleichen Smartphone-Preise. Sie reden gegen das Thema Tod an. Sie sehnen sich nach Normalität, das kann man spüren. Auf dem Tisch steht die Morphiumspritzpumpe. Die Tochter versucht zu lächeln, manchmal gelingt es ihr. Riedel erzählt von seiner jüngeren Tochter, „fünfzehneinhalb“, und seinem Langhaar-Chihuahua namens Wölfchen, „zwölfeinhalb“. Ein halbes Jahr ist für ihn sehr viel Zeit.

 

Zimmer 22

Eine neue Patientin wurde aufgenommen, eine gebräunte 82jährige mit roten Fingernägeln und kurzem Haar. Jetzt sind alle Betten auf der Station belegt. Wagner besucht sie. Die Patientin ist abgemagert, aber ihr Bauch sieht aus wie bei einer Schwangeren. Krebs. Der Darm arbeitet nicht mehr. Seit Wochen hatte sie keinen richtigen Stuhlgang mehr, sie erbricht ihren Darminhalt. Essen wird für sie zum Alptraum. Das Sprechen strengt sie an, es ist nur noch ein Hauchen. Die Chemotherapie habe ihr zugesetzt, Hände und Füße fühlten sich taub an, sagt sie. Ihr Bauch sei so angespannt, als ob er gleich platzen würde. Nachts liegt sie wach. Sie erzählt von der Zeit vor dem Krebs. Ein Jahr ist das her. Bis dahin trainierte sie regelmäßig im Fitnessstudio, liebte das Reisen.

Wagner fragt, wer sich um sie kümmert.

Sie erzählt von einer geschiedenen Ehe. Sie ist kinderlos, lebt allein. „Ich bin einsam. Manchmal spreche ich wochenlang mit keinem. Selbst die Menschen, die mir geblieben sind, wissen nicht, wie einsam ich bin.“ Sie erzählt von Urlauben, dreimal pro Jahr auf die Kanaren, von FKK und Abenden mit Freunden bei Wein und gutem Essen. Doch das ist lange her. Nun verbringt sie die Abende mit Rommé-Partien gegen den Computer. Ihr schönster Moment seit Langem: das Zitronen-Wassereis, das ihr die Pflegerin bei der Aufnahme brachte. Sie sagt, endlich habe sie wieder etwas schmecken können.

„Haben Sie eine Patientenverfügung?“ fragt Wagner.

„Ja. Keine lebensverlängernden Maßnahmen. Ich will nicht künstlich am Leben gehalten werden.“

„Leider haben Sie eine unheilbare Krebserkrankung.“

„Ich will aber nochmal nach Hause, wenn Sie mich aufgepäppelt haben“, sagt sie.

Wagner überlegt.

Sie starrt ihn an.

„Ich kann nicht sagen, ob die Krankheit das zulässt“, sagt er.

„Enttäuschen Sie mich nicht, das wurde mir versprochen“, sagt sie.

„Ich möchte Ihnen nichts vormachen. Ich würde Sie anschwindeln, wenn ich sagen würde: Das wird schon wieder.“ Er ordnet Ultraschall und Blutabnahme an, ersetzt Tabletten durch Infusionen. Die Medikamente sollen die Darmfunktion anregen.

„Ich will nicht sterben“, sagt sie.

Wagner macht Notizen.

„Ich will noch ein Jahr leben, in Gesellschaft, nicht allein. Vielleicht auch noch zwei Jahre.“

Wagner fragt, was er im Augenblick für sie tun könne.

Sie möchte noch ein Zitronen-Wassereis essen. Er holt es ihr.

 

Zimmer 30

Zwei Tage später hat sich Heinz-Peter Riedels Zustand verschlechtert. Er ist erschöpft. Wagner ordnet Ruhe an. Riedel schläft. Die Tür zu Zimmer 30 bleibt geschlossen. Vergangene Nacht starb die kleine alte Frau aus Zimmer 21, sie sei eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht, sagt Wagner.

 

Zimmer 27

Nitzschner geht es etwas besser, er hustet weniger. Er überlegt, nochmal eine stärkere Bestrahlung zu riskieren, um den Krebs in Schach zu halten. Wagner habe ihm abgeraten, wegen der Risiken, aber er wolle es trotzdem tun.

Mit dem Hospiz hat er sich nicht anfreunden können. Er sagt, hier auf der Station fühle er sich gut aufgehoben, er habe weniger Schmerzen. Außerdem könne er mit den Patienten offen reden. Draußen sei das anders. „Krebs macht den Leuten Angst“, sagt er. „Die wissen dann nicht, was sie sagen sollen. Krebs ist wie eine Mauer.“ Das Sterben sei für ihn kein Drama, sagt er. „Aber ich habe aber ein bisschen Angst vor dem Moment des Todes. Was erlebt man dann? Hat man dann Schmerzen?“ Er erinnert sich an die Qualen während der Operation in seiner Jugend. Der Äther, die Horrorgestalten.
„Ich bin kein gläubiger Mensch. Wenn ich weg bin, bin ich weg. Aber da ist ein Rest. Was kommt dann?“ fragt er.

In der letzten Zeit denke häufiger er über das Sterben nach. Dann kommen Erinnerungen hoch. An Gefahr, an den Tod, dem er schon mal entwischte. Er erzählt von seiner Zeit als Trucker. „Mein Zuhause war die Straße“, sagt er. Er erzählt von tödlichen Unfällen. Er erzählt von Verletzten. Er erzählt von Übermüdung. Er erzählt von Halluzinationen: „Drei Elefanten überquerten ganz gemütlich die Autobahn. Ich guckte wieder hin, und sie waren weg. Ich dachte: Jetzt drehst du durch.“

Er erzählt von dem Tag, an dem er dachte, er müsse sterben. Sie fuhren mit mehreren Tanklastern in Kolonne. Es ging einen Berg hinab, als der Truck vor ihm Öl verlor. Es nieselte. Regen vermischte sich mit Öl, sein Lastwagen schlingerte, wurde schneller, die Bremsen versagten, er riss den LKW herum, brachte ihn wie durch ein Wunder quer auf der Fahrbahn zum Stehen, fuhr dann ganz langsam zum nächsten Parkplatz. Dort schaffte er es nicht, auszusteigen, so sehr zitterten seine Knie.

Es klopft. Eine junge schlanke Frau in Shorts und Umhängetasche. Seine Tochter, sie kommt gerade von der Uni.

„Sie besucht mich fast jeden Tag“, sagt er.

Die beiden reden über die Familie. Auch in dieser gibt es Spannungen. Es bleibt offen, ob sie sich lösen lassen. Vater und Tochter stehen sich nahe, das merkt man. „Wir haben beide einen Dickkopf“, sagt die Tochter, „das war nicht immer leicht, aber wir haben uns alles gesagt, was gesagt werden muss.“

Nur über die Beerdigung wollen sie nochmal in Ruhe reden.

„Aber dafür haben wir ja noch genügend Zeit“, sagt er. Er richtet sich auf, seine Stimme klingt jetzt stark und klar. Seine Tochter nickt.

Zwei Wochen später stirbt er.

 

Zuhause

Riedel wurde nach Hause entlassen. Eine verwinkelte Hinterhauswohnung mit kleiner Dachterrasse voller Kübelpflanzen, mitten in der Mainzer Altstadt. Es sind einige Wochen vergangen, Riedel hat fünf Kilo zugenommen. Seine Haut ist gebräunt, er hat sich einen dichten Fünf-Tage-Bart stehen lassen. Er sieht besser aus. Erstmal eine rauchen. Riedel geht in die Küche, schaltet die Dunstabzugshaube ein. Darunter zündet er sich die Zigarette an. Die Wohnung soll nicht nach Kippe stinken.

Langhaar-Chihuahua Wölfchen, zwölfeinhalb, schmiegt sich an ihn. „Er wird locker noch vier, fünf Jahre leben, sein Herz ist gesund, hat die Tierärztin gesagt.“ Nachdem er geraucht hat, geht er ins Wohnzimmer, setzt sich langsam auf die Couch. Wölfchen folgt ihm.

Riedel deutet auf seine linke Brust. Dort ist der Tumor. Man kann ihn erahnen. Unter seinem T-Shirt wölbt sich die Haut. „Er ist im Moment 10,2 mal 12,4 Zentimeter groß, er fühlt sich wie ein Päckchen an“, sagt er. Der Krebs kann nicht entfernt werden, die Exitusgefahr bei der OP beträgt mehr als 70 Prozent. Starke Bestrahlungen gefährden die Wirbelsäule, es könnte zu einer Querschnittslähmung kommen. Riedel hofft, dass der Krebs nicht weiter wuchert. Er erzählt von Tumorbildern: wie Wurzeln, die sich durchs Fleisch schlängeln.

Beim Abschied an der Haustür spricht Riedel von seinem Tod. „Vielleicht sterbe ich morgen, vielleicht sind es noch ein paar Jahre.“ Er würde gerne noch ein bisschen auf dieser Welt bleiben und seinen Töchtern beim Erwachsenwerden zusehen, sagt er. Angst vor dem Tod habe er schon lange nicht mehr, aber er fürchte sich vor den Schmerzen. Er weiß, dass sich der Krebs eines Tages weiter ausbreiten wird, ihm wahrscheinlich die porösen Knochen brechen werden, dass ihn dann die Schmerzen wieder heimsuchen, der unsichtbare Schraubstock, die Atemnot, die Panik. Bis dahin will er leben, so gut wie möglich. Und wenn es soweit ist, möchte er zurück auf die Palliativstation, sagt er. Er könne jederzeit kommen, ohne langes Warten, das habe ihm Dr. Wagner versprochen.