Die tödlichen Polizeischüsse auf einen 16jährigen Rom in Thessaloniki

Immer wieder tödliche Schüsse

In Griechenland protestieren Roma erneut gegen Polizeigewalt und Rassismus. Anfang Dezember hatte ein Polizeibeamter bei einer Verfolgungs­jagd in Thessaloniki einem 16jährigen in den Kopf geschossen, der eine Tankrechnung in Höhe von 20 Euro nicht bezahlt haben soll.

In Thessaloniki kämpfte der Rom Kostas Fragoulis eine Woche lang um sein ­Leben, am Dienstagmorgen starb er. Der 16jährige soll am Montag vergangener Woche in den frühen Morgenstunden an einer Tankstelle in Thessalonikis Industrievorort Kalochori im Wert von 20 Euro getankt haben und weggefahren sein, ohne zu bezahlen. Eine alarmierte Einheit der Dias, der motorisierten Polizei, nahm die Verfolgung auf. Nachdem Fragoulis nicht auf ­Haltezeichen reagiert haben soll, schoss ihm ein Dias-Beamter in den Kopf.

Wie im Fall der tödlichen Polizeischüsse auf den 18jährigen Rom Nikos Sambanis in Perama bei Athen vor etwas mehr als einem Jahr (Jungle World 46/2021) versucht die griechische Polizei, dem Opfer die Schuld in die Schuhe zu schieben. Von »ständigen gefährlichen Manövern« und dem »versuchten Frontalzusammenstoß mit einem Dias-Motorrad« ist im Polizeibericht die Rede. Theofilos Alexopoulos, der Anwalt der Familie Fragoulis, spricht dagegen von einem »kaltblütigen Mordversuch der Polizei« durch einen »geraden Schuss von hinten in den Kopf« und betont, dass es »von Seiten des Jungen keinerlei Angriff gegen die Polizeibeamten« gegeben habe.

Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis von der rechten Partei Nea Dimokratia (ND) fand kein Wort des Beistands für die Familie, verkündete aber ebenfalls am Montag vergangener Woche eine steuerfreie Bonuszahlung in Höhe von 600 Euro für alle Polizist:innen zu Weihnachten. Am Nachmittag desselben Tags wurde der Dias-Beamte, der dem 16jährigen in den Kopf geschossen hatte, vom Dienst suspendiert. Inzwischen wird gegen ihn wegen Mord mit bedingtem Vorsatz ermittelt. Am Freitag wurde der Schütze dann vorerst unter Hausarrest gestellt. Vor Gericht sagte er, der Jugendliche habe versucht, ein Polizeimotorrad zu rammen, und er habe geglaubt, seine Kollegen seien in Gefahr und deshalb zwei Schüsse abgegeben, »einen Warnschuss in die Luft und einen auf die Reifen des Wagens«. Die Kugel des »Warnschusses« wurde in der Eingangstür eines Hotels am Tatort gefunden. Bekannt wurde mittlerweile auch, dass die Polizei die Schüsse stundenlang verschwiegen und nur von einem »Verkehrsunfall« berichtet hatte.

Zu einer ersten Auseinandersetzung zwischen Roma und der Polizei kam es bereits gegen Montagmittag vergangener Woche vor dem Hippokration-Krankenhaus in Thessaloniki. Während Ärzt:innen in einer Notoperation die Kugel aus dem Kopf des 16jährigen entfernten, hatten sich Dutzende Ange­hörige und Freund:innen zur Unterstützung und Anteilnahme versammelt. Sie griffen die martialisch aufmarschierende Spezialeinheit MAT der Bereitschaftspolizei mit Flaschen, Steinen und Stühlen an, die wiederum Tränengas und Schlagstöcke einsetzte. Die Auseinandersetzung beruhigte sich erst, als sich die MAT nach der Intervention von Ärzt:innen zurückzog.

Die Vereinigung griechischer Roma, Ellan Passe, schrieb in einer Pressemitteilung, Politik und Gesellschaft trügen eine Mitverantwortung »an den blutigen Vorfällen mit Vorankündigung«, und von einer Tatenlosigkeit der Regierung »was das Anstreben von Chancengleichheit für junge benachteiligte Roma betrifft, gekoppelt an die durchgängige Straflosigkeit für Polizeibeamte, die in solche Fälle verwickelt sind«. Ellan Passe betonte, dass die Organisation, wie in allen anderen Fällen auch, der Familie von Fragoulis beistehen werde.

Man werde sich für die vollständige Aufklärung der Umstände und des ­Tathergangs einsetzen. »Die Wiederholung und die Systematik der Vorfälle von Polizeigewalt gegen junge Ange­hörige der Roma-Minderheit zeigt inzwischen mehr als deutlich, dass wir hier nicht über Einzelfälle sprechen, sondern über ein systemisches Problem illegaler Polizeigewalt, die verstärkt die Schwächsten trifft.« Die Roma-Siedlung Agia Sofia im Stadtteil Delta in Thessaloniki, in der Fragoulis lebte, wurde Anfang der nuller Jahre für 100 Familien aus Containern errichtet. »Inzwischen leben dort 4 000 Menschen unter fürchterlichen Bedingungen«, sagte der Vorsitzende von Ellan Passe, Vassilis Pantzos, der Athener Tageszeitung Efimerida ton Syntakton. »Viele leben in verrotteten Containern ohne Strom und Wasseranschluss, sind arbeitslos oder sammeln Schrott.«

Im Laufe desselben Tags weiteten sich die Demonstrationen auf mehrere Stadtteile im Westen Thessalonikis aus. Im Stadtzentrum endete eine Demonstration von Anarchist:innen gegen ­Polizeigewalt im Tränengasnebel. Vor dem Gerichtsgebäude schlugen Polizeibeamte den Vater des 16jährigen zu Boden. In Athen errichteten junge Roma brennende Barrikaden und griffen Polizeieinheiten an, die wiederum Blendgranaten und Tränengas in die Protestgruppen schossen.

Die Proteste verstärkte wohl auch, dass der erneute Schusswaffengebrauch der Polizei nur einen Tag vor dem 14. Todestag von Alexandros Grigoropoulos geschah. Der damals 15jährige Grigoro­poulos war am 6. Dezember 2008 von einem Polizeibeamten im Athener Szeneviertel Exarchia erschossen worden. In der Folge war es zu mehrwöchigen Unruhen gekommen und jährlich finden seither am 6. Dezember griechenlandweit Gedenkdemonstrationen statt. Wegen der in den vergangenen Monaten eskalierten Polizeigewalt wollten sich ohnehin schon Zehntausende an den diesjährigen Demons­­trationen beteiligen.

Während der Gedenkdemonstrationen für Grigoropoulos am Abend des 6. Dezember lieferten sich Demonstrant:­innen in Athen und Thessaloniki Straßenschlachten mit der Polizei. Bei mehrstündigen Auseinandersetzungen mit den Demonstrant:innen in Exarchia nahm die Polizei neun Menschen fest, 16 weitere in Thessaloniki. Die Un­ruhen breiteten sich in den folgenden Nächten auf Roma-Siedlungen in ganz Griechenland aus, die Parole der Demonstrant:innen lautete: »Es geht nicht um Benzin, es geht nicht um Geld, die Bullen haben geschossen, weil er Rom war.«

Die 600-Euro-Bonuszahlung wird allgemein als Belohnung für die unter dem Vorwand der Durchsetzung von Recht und Ordnung stattfindende und immer mehr ausufernde Polizeigewalt gesehen. Vor den geplanten Parlamentswahlen im April scheint die ND mit Unterstützung der ihr freundlich gesinnten Fernsehkanäle entschlossen, ganz auf autoritäre Propaganda und Repression zu bauen: brutal geräumte Häuser, nach Festnahmen misshandelte Demonstrant:innen, Schwerverletzte durch Kopftreffer mit Tränengasgranaten sowie schwerverletzte und erschossene Roma. Dabei ist der Polizeiapparat erwiesenermaßen hochkriminell: Berichte über Folter und Vergewaltigung auf Polizeiwachen, Beamte die an Zwangsprostitution beteiligt sind, Kinderpornographie und Bestechung sind alltäglich.