Flüchtlinge im Visier
Auf einem wackeligen Handyvideo ist zu sehen, wie junge Männer Steine in die Richtung eines Zauns werfen. Plötzlich fällt ein Schuss und einer der Männer geht zu Boden. Die Aufnahme entstand am 3. Oktober an der türkisch-bulgarischen EU-Außengrenze, die jungen Männer sind Flüchtlinge, die versuchten, in die EU zu gelangen. Nur mit viel Glück überlebt der angeschossene 19jährige Syrer Abdullah al-Rüstüm, nachdem andere Flüchtlinge ihn in ein türkisches Krankenhaus gebracht hatten: Die Kugel verfehlte sein Herz um Zentimeter.
Es war ein weiterer Flüchtling, der das Video mit seinem Mobiltelefon aufnahm und es Journalist:innen zuspielte. Die investigativjournalistische Plattform Lighthouse Reports verifizierte die Echtheit des Videos und veröffentlichte es Anfang Dezember zusammen mit einem europäischen Recherchenetzwerk, zu dem unter anderem das ARD-Studio Wien gehört. In dem Video sind ein aus sowjetischem Bestand stammendes bulgarisches Militärfahrzeug und ein Geländewagen der Marke Land Rover »Discovery« zu erkennen, wie ihn die bulgarische Grenzpolizei verwendet. Der Schuss kam aus der Richtung der Fahrzeuge und von der bulgarischen Seite, was den Verdacht nahelegt, dass er von der bulgarischen Grenzpolizei abgefeuert worden ist.
Nach der Veröffentlichung der Aufnahme taten die bulgarischen Behörden den Fall als Propaganda westlicher Medien ab, obwohl auch Journalist:innen aus Bulgarien an der Recherche beteiligt waren, wie beispielsweise Maria Cheresheva, eine der Gründer:innen der Association of European Journalists – Bulgaria. Sie war für Radio Free Europe an der Investigativrecherche beteiligt. Im Gespräch mit der Jungle World sagt sie, das Recherchenetzwerk arbeite bereits seit dem Sommer zur Situation der Flüchtlinge an der bulgarischen EU-Außengrenze: »Dabei sind auch noch weitere Menschenrechtsverstöße ans Licht gekommen.« In der Stadt Sredez habe die bulgarische Grenzpolizei über Monate immer wieder aufgegriffene Flüchtlinge in einem kleinen Verschlag auf dem Gelände der Polizeistation eingesperrt und sie dann nach einer Weile in die Türkei zurückgebracht, ohne ihnen zuvor die Möglichkeit zu geben, Asyl zu beantragen.
»Ich habe sehr viele Aussagen von Menschen gehört, denen nicht erlaubt worden war, Asyl zu beantragen. Sie sind zurückgeschoben worden, bevor sie um Asyl bitten konnten«, so Cheresheva. »Das System funktioniert wie folgt: Menschen, die an der Grenze erwischt werden, werden sofort in die Türkei zurückgeschoben, und diejenigen, die erst im Landesinneren erwischt werden, werden an Orte wie den beschriebenen in Sredez gebracht. Dort werden sie einige Stunden festgehalten, bis ihr Pushback organisiert ist.«
Als Pushback bezeichnet man das Zurückdrängen von Geflüchteten ohne entsprechenden Aufenthaltstitel an der Landesgrenze – und bisweilen auch von hinter der Landesgrenze. Die Praxis ist in der EU illegal, allerdings häuften sich in den vergangenen Jahren Berichte über ihre Anwendung – unter anderem auch an der polnischen und der kroatischen EU-Außengrenze.
»Wenn die Menschen offiziell in Bulgarien als Flüchtlinge registriert werden würden«, erläutert Cheresheva, »dann müssten ihre Fingerabdrücke genommen werden und sie würden Teil des Dublin-Systems.« Gemäß diesem System ist der EU-Staat, in dem Geflüchtete einen Asylantrag gestellt haben, für sie verantwortlich. Die bulgarischen Behörden hätten sich daher bemüht, ihr »inoffizielles System, das für Monate funktioniert hat«, geheimzuhalten, sagt Cheresheva. »Dafür haben wir Beweise.«
Zivilist:innen dürfen das bulgarisch-türkische Grenzgebiet eigentlich nicht betreten, das gilt auch für Journalist:innen. Bereits mehrere Hundert Meter vor der Grenze weisen Schilder darauf hin, dass man militärisches Sperrgebiet betrete. In diesem Jahr nahm der Andrang an der bulgarisch-türkischen Grenze stark zu. Nach Angaben der bulgarischen Behörden gab es dieses Jahr bislang mehr als 150 000 Versuche, illegal aus der Türkei nach Bulgarien einzureisen.
Seit Jahren berichteten Geflüchtete von Schüssen, die die Grenzpolizei abgibt. Diese Berichte wurden sowohl von bulgarischen als auch von internationalen NGOs dokumentiert. Bereits 2015 erschoss ein bulgarischer Grenzpolizist einen afghanischen Flüchtling. Die bulgarischen Behörden behaupteten damals, das Projektil eines Warnschusses habe zuerst eine Brücke getroffen, sei von dieser abgeprallt und habe dann den Geflüchteten in den Rücken getroffen.
Im November dieses Jahres wurde an der Grenze ein bulgarischer Grenzpolizist erschossen. Die Behörden vermuten, dass eine Schmugglerbande das Feuer eröffnet habe. Sicher ist das allerdings nicht. Der bulgarische Innenminister Iwan Demerdschiew sagte kürzlich, auf Seiten der Flüchtenden steige die Aggressivität. Die bulgarischen Behörden achteten jedoch die Menschenrechte, so Demerdschiew.
Bulgarien hofft – wie auch Rumänien – bereits seit der Aufnahme in die EU im Jahr 2007 auf einen Beitritt zum Schengen-Raum, in dem freies Reisen ohne Grenzkontrollen möglich ist. Doch anders als Kroatien, das zwar erst 2013 EU-Mitglied wurde, aber in diesem Monat in den Schengen-Raum aufgenommen worden ist, wird Rumänien und Bulgarien dies weiterhin verwehrt. Als Grund wird dafür vor allem die in den Ländern vorherrschende Korruption angeführt, aber auch die Situation an deren EU-Außengrenzen. Hierbei spielen Menschenrechtsverletzungen jedoch keine Rolle, vielmehr kritisierten insbesondere Österreich und die Niederlande den »mangelhaften« Grenzschutz.