Das neue »Zivilgesellschaftliche Lagebild Antisemitismus«

Vielstimmiger Chor

Links, rechts, ökologisch – das neu erschienene »Zivilgesellschaftliche Lagebild Antisemitismus« der Amadeu-Antonio-Stiftung zeigt: Judenhass gibt es in Deutschland in unzähligen Formen und politischen Ausprägungen.

Tagtäglich seien Juden und Jüdinnen mit Antisemitismus konfrontiert, »immer darauf vorbereitet, dass zumindest ein Spruch kommt«, sagte Tahera Ameer, Vorstandsmitglied der Amadeu-Antonio-Stiftung (AAS), anlässlich der Vorstellung des »Zivilgesellschaft­lichen Lagebilds Antisemitismus« am Mittwoch vergangener Woche. »Wir erleben eine antisemitische Landnahme«, fasste sie die Ergebnisse zusammen.

Die elfte Ausgabe des Lagebilds der Stiftung trägt den Titel »Israelhass und Antiamerikanismus«. Die Studie konzentriert sich auf Phänomene, die derzeit die Öffentlichkeit bewegen. Nazis und Islamisten kommen deshalb nicht vor, sondern vor allem die Klimabewegung und die sogenannte Friedensbewegung und daneben auch die AfD – zum Anlass ihres zehnjährigen Bestehens.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der geschichtspolitischen Auseinandersetzung mit der Staatsgründung Israels, die sich zum 75. Mal jährt. Es werde oft behauptet, so heißt es in der Studie, dass Israel alleine die »sogenannte Nakba (deutsch: Katastrophe), die Vertreibung von etwa 700.000 Palästinen­ser:innen aus dem britischen Mandatsgebiet, zu verantworten« habe. Doch das sei ein »antizionistischer Mythos«. Nicht weil es damals keine Vertreibungen durch israelische Soldaten gegeben hätte, denn die gab es durchaus, sondern weil der tatsächliche Auslöser für die Flucht der Palästinenser größtenteils ein anderer gewesen sei. Hintergrund sei der Krieg gewesen, den die arabischen Staaten gegen den neu gegründeten Staat Israel führten. Dieser Überfall auf Israel habe stattgefunden, nachdem die arabischen Staaten und die palästinensische Führung den UN-Teilungsplan abgelehnt hatten, der zwei Staaten vorsah, einen jüdischen und einen palästinensischen.

Auch beim Kapitel zur Klimabewegung geht es um Israel. Die Kritik konzentriert sich vor allem auf die Ver­öffentlichungen des internationalen Twitter-Accounts von Fridays for Future (FFF). Darin hatte die Gruppe zur Unterstützung der antiisraelischen Boykottbewegung BDS aufgerufen und zumindest implizit Terroranschläge gegen israelische Zivilisten gerechtfertigt. In einem Post habe es geheißen, die Palästinenser:innen hätten nicht immer das Privileg, Gewaltlosigkeit als »zumutbare Option« zu haben, und weiter: »Unsere Herzen sind bei allen Märtyrer:innen und verlorenen ­Leben … ihr Blut wird nicht vergessen werden.«

Der Twitter-Account von Fridays for Future hat zur Unterstützung der antiisraelischen Boykottbewegung BDS aufgerufen und zumindest implizit Terroranschläge gegen israelische Zivilisten gerechtfertigt.

Auch verbreitete der Account die Parole »Yallah Intifada!«. Der Begriff Intifada ist untrennbar mit der systematischen Kampagne von Selbstmordattentaten auf israelische Zivilisten verknüpft. Allein bei der sogenannten Zweiten Intifada von 2000 bis 2005 sind mehr als 1.000 Israelis umgebracht worden. Dennoch ist die Parole inzwischen auf vielen linken Demonstrationen in Deutschland zu hören, wie der Bericht anmerkt.

Der deutsche Ableger von FFF hat sich von den Aussagen des internationalen Accounts distanziert. Jedoch habe zum Beispiel im September vergangenen Jahres die Bremer FFF-Ortsgruppe die Gruppe »Palästina spricht« eingeladen, bei einer Demonstration einen Redebeitrag zu halten. »Palästina spricht« stehe »der antisemitischen BDS-Kampagne nahe«, heißt es im Bericht.

Ein weiterer Schwerpunkt war der Antiamerikanismus, der besonders anhand der von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht initiierten Großkundgebung »Aufstand für Frieden« untersucht wurde. Unter diesem Slogan versammelten die Herausgeberin des feministischen Magazins Emma und die Politikerin der Linkspartei Ende Februar knapp 15.000 Menschen am Brandenburger Tor in Berlin, um gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und für Friedensverhandlungen mit dem russischen Aggressor zu agitieren.

In ihrer Rede behauptete Wagenknecht, dass Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland an den USA gescheitert seien. Die USA – so zitiert die Studie aus der Rede Wagenknechts – unterstützte den ukrainischen »Oligarchenkapitalismus«, um die »Kriegsmaschinerie« voranzutreiben. Solche Aussagen implizieren, dass selbst bei dem russischen Überfall auf die Ukraine eigentlich die USA die Fäden zögen und sie – nicht das Putin-Regime – für den Krieg verantwortlich seien. Der Studie zufolge bieten solche Aussagen Anknüpfungspunkte für Verschwörungstheorien. Die Schwelle zum Antisemitismus werde überschritten, wenn die USA mit ominösen geheimen Mächten und im Hintergrund agierenden Strippenziehern in Verbindung gebracht werden.

Dass antisemitisches Geraune auch ganz handfeste Konsequenzen haben kann, zeigt der kürzlich erschienene Jahresbericht der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS). Im Jahr 2022 registrierte RIAS in Berlin 848 antisemitische Vorfälle, also durchschnittlich mehr als zwei Vorkommnisse am Tag. Damit ist die Zahl der Vorfälle zwar im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent gesunken, die Anzahl der Gewalttaten blieb mit 22 allerdings fast so hoch wie im Jahr zuvor.