Michael Rochlitz, Osteuropa-Experte, im Gespräch über Putin und die Macht der russischen Repressionsorgane

»Kaum Aussicht auf politische Veränderungen in Russland«

Mitten im Krieg investiert Russland stark in den Ausbau seiner Repressionsbehörden, die damit Gesellschaft und Wirtschaft noch intensiver kontrollieren. Der Ökonom Michael Rochlitz im Gespräch über den Einfluss von Persönlichkeiten aus Militär und Geheimdiensten auf die russische Regierungspolitik.
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Die russische Regierung plant, in diesem Jahr die Ausgaben für innere Sicherheit um 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu erhöhen. Oft werden die Vertreter der entsprechenden Staatsorgane als »Silowiki« bezeichnet – was ist deren Rolle im Staat?
Der Terminus Silowiki kommt vom russischen Wort sila, das Macht oder Kraft bedeutet. Die Silowiki sind die, die im russischen Staat das Recht haben, Gewalt anzuwenden, um die Interessen des Staats durchzusetzen. Also das Innenministerium, Polizei, Geheimdienste, auch das Militär. Das Wachstum der Repressionsbehörden hat allerdings schon lange vor dem Krieg begonnen. 2011/2012 gab es große Demonstrationen in Moskau, nachdem angekündigt worden war, dass Wladimir Putin wieder Präsident werden würde und es bei den Duma-Wahlen Fälschungen gab. Damals erkannte die Staatsführung, dass die bisherigen Polizeikräfte kaum ausreichten, um die Proteste zu kontrollieren oder eventuell zu unterdrücken. Deshalb wurde die Rosgwardija, die Nationalgarde, aufgestellt, eine in Teilen paramilitärische Polizei mit 300.000 bis 400.000 Mitgliedern.

»Rivalitäten zwischen den Repressionsbehörden gab es immer schon, man kann fast von einer Teile-und-herrsche-Taktik der Staatsführung sprechen.«

Dazu kommen die ganzen Geheimdienste. Der größte ist der Inlandsgeheimdienst FSB. Dann gibt es den SWR für das Ausland, den Militärgeheimdienst GRU, einen Geheimdienst, der für den Drogenhandel zuständig ist, den Sicherheitsdienst des Präsidenten und so weiter, und alle diese Organisationen haben ihre eigenen bewaffneten Kräfte.

Welche Rolle spielen diese Behörden im Krieg?
Vor allem machen sie es fast unmöglich, sich in Russland gegen die Regierung zu erheben. Die politische Opposition ist mittlerweile völlig erstickt. Die Nationalgarde wurde auch in der Ukraine eingesetzt, allerdings hat sich gezeigt, dass diese Truppen, die dazu ausgebildet sind, unbewaffnete Demonstranten niederzuknüppeln, gegen eine motivierte Armee kaum bestehen können. Auch die nominell unabhängigen Militärverbände wie beispielsweise die Söldner der Wagner-Gruppe von Jewgenij Prigoschin können nur eine untergeordnete Rolle spielen, denn für so einen großen Krieg braucht es Hunderttausende Soldaten und die entsprechende Logistik. Eine Rolle spielten auch die sogenannten Kadyrowzy, offiziell eine Einheit der Nationalgarde, die allerdings dem tsche­tschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow untersteht. Sie kämpften beispielsweise in Mariupol, sind dort aber mehr durch ihre Aktivität in sozialen Medien als durch ihre militärische Effektivität aufgefallen.

Derzeit greifen sich die Anführer dieser Gruppen immer lautstärker öffentlich an und kritisieren auch die Militärführung. Sind das Machtkämpfe?
Rivalitäten zwischen den Repressionsbehörden gab es immer schon, man kann fast von einer Teile-und-herrsche-Taktik der Staatsführung sprechen. Auch bei den Geheimdiensten hat Putin immer darauf geachtet, ihre Macht gegeneinander auszubalancieren. Ähnlich ist es mit Prigoschin und Kadyrow. Tschetschenien erhält viel Geld aus dem Staatshaushalt, ­damit hat sich Kadyrow eine loyale Privatarmee aufgebaut. Mit dieser militärischen Hausmacht spielt er eine gewisse Rolle in der Politik. Dass allerdings Prigoschin jetzt derart respektlos gegenüber der Militärführung und sogar Putin selbst auftritt, hat es vorher nicht gegeben. Das sind womöglich Zersetzungsphänomene und Zeichen der Schwächung von Putins Autorität. Wie gravierend das allerdings ist, lässt sich von außen schwer beurteilen.

Worum geht es bei diesen Rivalitäten?
Schon früher spielte immer eine Rolle, dass die Repressionsbehörden ihre Macht auch einsetzen, um sich zu bereichern. Diese ganzen Geheimdienste, Polizeiapparate, das Innenministerium, die Nationalgarde haben alle ihre Interessensphären, wo sie in­vestiert haben und Geld verdienen, und wenn ein anderer Dienst versucht, da reinzukommen, führt das zu Konflikten. In den vergangenen Jahren kam es auch immer wieder vor, dass sich Personen aus den Sicherheitsbehörden Unternehmen aneigneten oder sie ausplünderten. Raiding nennt man das. Unternehmer überlegen sich dann zweimal, ob sie weiter in ihre Firmen investieren oder nicht besser ihr Geld ins Ausland schaffen sollen.

Wie beeinflusste die wachsende Macht der Silowiki die russische Politik?
Zum einen wurde die Repression immer effektiver. 2020 spielte die Opposition bei den Wahlen zum Moskauer Stadtparlament noch eine Rolle und es gab Proteste gegen die damaligen Wahlfälschungen. Das ist vorbei.

»Eine Volkswirtschaft im 21. Jahrhundert kann nicht autark sein, oder sie ist rückständig und stagniert. Das ist die Richtung, in die Russland derzeit steuert.«

Im Hinblick auf die russische Außenpolitik ist das Problem, dass eine kleine Gruppe von Männern mittlerweile völlig unkontrolliert wichtige Entscheidungen treffen kann. Das ist ein kleiner Kreis um Putin, die alle etwa im gleichen Alter sind und meist aus den sowjetischen Geheimdiensten oder dem Militär kommen, bevor sie dann durch das kriminelle System der neunziger Jahre geprägt wurden, als sie ihren Aufstieg in der Politik begannen. Personen wie Nikolaj Patruschew, Putins Nachfolger als FSB-Direktor und heutzutage Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats, FSB-Direktor Aleksandr Bortnikow, Verteidigungsminister Sergej Schoigu, Generalstabschef Walerij Gerassimow, oder Wiktor Solotow, Direktor der Nationalgarde. Oder Putin selbst, der aus dem KGB kam und in den Neunzigern in Sankt Petersburg Karriere machte, wo er als rechte Hand des Bürgermeisters permanent mit kriminellen Gruppen zu tun hatte. Diese Mischung aus Geheimdienst und Gangstertum prägt ihre Sichtweise selbst auf die Außenpolitik: Man kann niemandem vertrauen, es ist ein Zustand des permanenten Kriegs. Im Westen nahm man lange an, dass diese Menschen letztlich pragmatisch seien und sich einfach bereichern wollten. Ihre ideologische Weltsicht, die mittlerweile darin mündet, dass man nur durch Stärke und militärische Gewalt seine Ziele erreichen könne, wurde unterschätzt.

Wie würden Sie diese Weltsicht beschreiben?
Sie sehen Russland als ein großes Land mit vielen Ressourcen, auf die es der Rest der Welt abgesehen hat. Russland muss also wie eine Festung sein, mit einem starken Staat und zentralisierter Macht. Aber es gibt leider Gruppen in Russland, Liberale, Demokraten, Oppositionspolitiker, die nicht verstehen, dass insbesondere die USA und die Nato Russland schwächen und um seine Ressourcen bringen wollen – nur die Silowiki verstehen, wie die Welt wirklich funktioniert. Um Russland zu verteidigen, muss diese »fünfte Kolonne« im Inland also ausgeschaltet werden. Und in letzter Konsequenz heißt, Russland zu verteidigen, gegen den Westen zu kämpfen. Internationale Politik wird als Nullsummenspiel betrachtet, dem Gegner kann nicht vertraut werden. Selbst hinter der Klimapolitik vermuten sie dann einen westlichen Plan, um Russland zu schaden.

Russland erlebt gerade eine wirtschaftliche Krise. Warum regt sich kein Widerstand gegen diese Politik?
Zu Beginn des Kriegs ging man ja noch von einem viel höheren Einbruch des Bruttosozialprodukts aus, der ist nicht zuletzt aufgrund der hohen Energiepreise im vergangenen Jahr nicht eingetreten. Trotzdem sind die mittel- und langfristigen Folgen von Putins Politik verheerend. Das Problem ist, dass es kaum noch alternative Sichtweisen in der russischen Politik gibt. Die Silowiki haben die Macht monopolisiert. Schon vor dem Krieg war es ein Pro­blem, dass Russlands Wirtschaftsmodell, das auf dem Rohstoffexport basiert, langfristig keine Zukunft mehr hatte. Aber eine Debatte über alternative wirtschaftliche Entwicklungsmodelle gab es kaum. Mit dem Krieg sind ­weitere Branchen weggebrochen, in denen Russland potentiell Zukunftschancen gehabt hätte, beispielsweise der IT-Sektor. Hunderttausende IT-Spezialisten, aber auch Wissenschaftler, haben das Land verlassen.

Die russische Regierung spricht davon, dass die heimische Industrie gestärkt werden soll. Hat das keine Aussicht auf Erfolg?
Nach 2014, als von der EU die ersten Sanktionen verhängt wurden, hat eine solche Importsubstitution beispielsweise im Landwirtschaftssektor tatsächlich funktioniert. Aber im verarbeitenden Gewerbe geht das nicht so leicht. Für den Flugzeug- oder Autobau benötigt man Teile aus der ganzen Welt. Würde Russland wieder anfangen, seine eigenen Autos zu bauen, müssten alle Teile selbst hergestellt werden. Man müsste auf jahrzehntealte sowjetische Technologie zurückgreifen, und selbst das wäre ineffizient. Deshalb schaden die Sanktionen bereits jetzt der Fähigkeit Russlands, Kriegsgerät herzustellen, weil man für moderne Waffen Bauteile und Mikrochiphs benötigt. Die bekommt Russland zwar noch über Drittländer wie Kasachstan, aber das ist teuer. Eine Volkswirtschaft im 21. Jahrhundert kann nicht autark sein, oder sie ist rückständig und stagniert. Das ist die Richtung, in die Russland derzeit steuert.

Was bedeutet das für die Zukunft?
Politisch sieht es sehr düster aus. Zum einen gibt es diesen mächtigen Repressionsapparat. Belarus hat vor einigen Jahren gezeigt, dass ein Diktator mit einem funktionierenden Repressionsapparat auch große Proteste niederschlagen kann. Gleichzeitig wird die öffentliche Meinung völlig von einem tatsächlich sehr effektiven Propagandaapparat bestimmt. Deshalb sehe ich kaum Aussicht auf politische Veränderungen.

Und die wirtschaftliche Entwicklung?
Bisher geht es den Bürgern Russlands ja besser als jemals zuvor in ihrer ­Geschichte: Bis 2008 war die Wirtschaft nach dem Zusammenbruch in den Neunzigern gewachsen, seither stagniert sie mehr oder weniger, und jetzt wird es erst langsam schlechter. Aber Russlands wirtschaftliche Zukunft ist dahin. Wenn ich eine Voraussage treffen müsste, würde ich sagen: Der Krieg geht weiter, das System verhärtet sich, und Russland wird immer mehr von China abhängig. Das Ergebnis ist dann eine Art großes Nordkorea, ein Land, das sich weiter vom Westen abschottet, mit noch mehr Unterdrückung im ­Inneren, und militärisch aggressiv nach außen.


Michael Rochlitz ist Professor für Institutionenökonomik an der Universität Bremen und Experte für die politische Ökonomie Russlands sowie der ehemaligen Planwirtschaften in Osteuropa, Zentralasien und China. Von 2014 bis 2017 war er Juniorprofessor an der Higher School of Economics in Moskau. Zuletzt veröffentlichte er in der Zeitschrift »Osteuropa« den Aufsatz »Verspielte Zukunft – Russlands Wirtschaft unter dem Druck der Geheimdienste«.