Maria ­Adamopoulou, Historikerin, im Gespräch über griechische »Gastarbeiter«

»Es war leicht, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten«

Das sogenannte Wirtschaftswunder der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg beruht in hohem Maß auf der Tätigkeit von Arbeitsmigranten, bei deren gezielter Anwerbung es nicht vorgesehen war, dass sie auch auf Dauer im Land bleiben. 1955 schloss Deutsch­land mit Italien das erste Anwerbeabkommen. Es folgten weitere mit Griechenland, Spanien, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien, bis 1973 im Zuge der Wirtschaftskrise und steigender Arbeitslosigkeit die Anwerbung beendet wurde. Ein Gespräch mit der Historikerin Maria Adamopoulou über sogenannte Gastarbei­ter:in­nen aus Griechenland.
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In den fünfziger und sechziger Jahren wurden Arbeitsmigrant:innen gezielt von der Bundesrepublik angeworben, weil hier Arbeitskräfte in der Nachkriegszeit fehlten. Am 30. März 1960 schloss Westdeutschland ein Anwerbeabkommen mit Griechenland. Was war der Hauptgrund für Griechenland, die so­genannten Gastarbeiter:innen nach Deutschland zu entsenden?
Landwirte, Arbeitslose, vor allem Leute zwischen 18 und 45 Jahren, sollten in ein besser entwickeltes Land geschickt werden, damit sie dort lernen und als hochqualifizierte Arbeitskräfte zurückkehren. Es ging auch darum heraus­zufinden, wie die deutsche Demokratie funktioniert und das westliche Ideal eines Gemeinwesens. Natürlich war das erst einmal nur eine Idee, aber sie prägte das bilaterale Abkommen, das die Bedingungen der Migration regelte. Es war von vornherein zeitlich begrenzt, die Gastarbeiter:innen sollten in ihre Heimatländer zurückkehren. In diesem Sinne musste ihre Bindung zu Griechenland erhalten bleiben. Das war das gegenseitige Interesse beider Länder, denn Westdeutschland wollte die Gast­ar­bei­ter:innen nicht integrieren und Griechenland und andere Länder im europäischen Süden wollten ihre Landsleute zurückhaben.
In Ihrer Arbeit untersuchen Sie die griechischsprachigen Radiosendungen, die 1964 im Bayerischen Rundfunk als Orientierungshilfe für die Gastarbeiter:innen begannen.

Inwieweit dienten diese dazu, die Bindung zum Herkunftsland aufrechtzuerhalten?
Ich denke, dass Radioprogramme, später auch Fernsehprogramme, das Hauptwerkzeug waren, um das doppelte Ziel des Gastarbeitersystems zu verfolgen. Einerseits halfen sie den Leuten mit praktischen Informationen, sich im Gastland zurechtzufinden. Sie versorgten sie mit Hinweisen, wie sie Deutsch lernen oder sich versichern lassen können. Auf der anderen Seite wurde über das griechischsprachige Radioprogramm sichergestellt, dass über Lieder und Erzählungen die Nähe und Verbundenheit zu ihrem Herkunftsland nicht vergessen werden. Es war aber keine einseitige Informationsvermittlung. Die Gast­ar­bei­ter:innen reagierten auch auf das Radioprogramm. Sie schrieben Briefe oder protestierten, wenn sie etwas hörten, das ihnen missfiel. Zum Beispiel gab es alle zwei Wochen eine Rede des griechischen Botschafters, Alexis Kyrou. Später, als die Konflikte in Griechenland eskalierten (1967 putschten sich rechtsradikale Offiziere in Griechenland an die Macht; Anm. d. Red.), schrieben Linke Briefe an den Sender in München mit der Bitte, diese Reden nicht mehr zu senden, da sie Propaganda und nicht zu ertragen seien.

Hatte die Politik, die Bindung ans Herkunftsland beizubehalten, auch etwas mit den schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen von Gast­arbeiter:innen in Westdeutschland zu tun?
Definitiv. In diesem Kontext ist interessant zu sehen, wie die Presse, vor allem die linke, wie die griechische Tageszeitung I Avgi, die Lebensbedingungen der Gastarbeiter:innen kritisierte, und zwar mit Holocaust-Vergleichen. Sie benutzten diese Metaphern, dass Gastarbeiter in Lagern eingepfercht seien, dass sie in sehr schlechten Zügen transportiert wurden.

Die Gastarbeiter-Migration fand in einem besonderen politischen Klima statt: Nach dem Zweiten Weltkrieg begann in Griechenland 1946 ein Bürgerkrieg, der aus dem Konflikt zwischen der linken Volksfront und den Konservativen und Mo­narchisten entstand, die einen unterstützt von der Sowjetunion und Jugoslawien, die anderen von Großbritannien und den USA. Die griechische Wirtschaft war durch den Weltkrieg, die deutsche Besatzung und den folgenden Bürgerkrieg schwer geschädigt, große Teile des Landes waren verwüstet und die griechische Gesellschaft tief gespalten. Wie ging es da weiter?
Nach Ende des Bürgerkriegs 1949, mit der Niederlage des kommunistischen Lagers und dem Sieg der rechten Kräfte, wurde ein Regime in Griechenland errichtetet, das sich formal Demokratie nannte, aber einen großen Teil der ­Bevölkerung von ihren Rechten ausschloss. Die Gesellschaft war durch die Links-rechts-Spaltung stark geprägt. Neben der Geschichte der Gast­ar­bei­ter:innen in den sechziger Jahren haben wir es auch mit politischen Geflüchteten zu tun, die nach Tschechien, Ungarn oder in die UdSSR ins Exil gingen.

»Westdeutschland wollte die Gastarbeiter:innen nicht integrieren und Griechenland und andere südeuropäischen Länder wollten ihre Landsleute zurückhaben.«

Um sich über das Gastarbeitersystem auf eine Stelle in Westdeutschland bewerben zu können, wurde von griechischer Seite eine Art ziviles Führungszeugnis verlangt, das bescheinigte, dass weder Antragsstellende noch deren Familien während des Bürgerkriegs oder danach an kommunistischen Aktivitäten beteiligt waren. Die Zuwanderung wurde nach diesem Kri­terium gefiltert, ein großer Teil der Bevölkerung so ausgeschlossen. Aufgrund der großen Nachfrage nach Arbeitskräften entstanden jedoch Ausweichmöglichkeiten.

Gab es auch Wege, zum Arbeiten nach Westdeutschland zu kommen, ohne die staatlichen Anforderungen zu erfüllen?
Es gab die Möglichkeit, mit einem Touristenvisum für drei Monate einzureisen. In dem Moment, in dem man eine Beschäftigung vorweisen konnte, war es leicht, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Selbst die westdeutschen Behörden drückten dabei ein Auge zu. Auch wenn man bereits ein Familienmitglied hatte, das in einer westdeutschen Fabrik arbeitete, konnte man eingeladen werden. Auf diese Weise übersprang man das offizielle Verfahren, hatte Vorrang und konnte schneller einreisen.

Zwischen 1967 und 1974 beherrschte ein rechtes und nationalistisches Militärregime Griechenland. Änderte sich dadurch etwas daran, dass die Mehrheit der Gast­ar­bei­ter:innen zunächst eher unpolitisch war?
Die griechische Gastarbeiter-Community in Westdeutschland war nicht homogen, aber viele Gast­ar­bei­ter:innen entschieden sich für ein unpolitisches Leben. Doch was in den sechziger Jahren in Griechenland geschah, konnte einen nicht unberührt lassen. Die Repressionen und die rückschrittliche Kulturpolitik der Junta übertrugen sich auch auf das westdeutsche Gebiet. Ei­nige der griechischen Ar­bei­ter:innen, die sich gewerkschaftlich engagieren wollten, wurden von nationalistischen Gruppen bedroht.

Es gab bereits vor dem Putsch 1967 starke Bindungen zu Gewerkschaften und insbesondere ab 1968 zu studentischen Ak­ti­vist:in­nen. Haben diese Bündnisse auch zu einer Politisierung hin zu linken Ansichten unter den Gast­ar­bei­ter:innen geführt?
Ja, ich denke schon. Es hat einige Zeit gedauert, bis sie an den Gewerkschaftstreffen in Westdeutschland teilnahmen und sich auch mit anderen Arbeitern politisch austauschten. In Griechenland, wo die Gewerkschaften nicht sehr aktiv waren, hätten sie sich diese politische Partizipation nicht vorstellen können. Sie waren keine Ar­bei­ter:in­nen, sondern Land­wirt:in­nen, und die politischen Verhältnisse in Griechenland waren repressiv. Natürlich haben die Ar­bei­ter:innen sich politisch geäußert und debattiert, aber eher im Privaten. Die politischen Freiheiten in Westdeutschland förderten Beteiligung und politische Aktion, auch Geld spielte eine Rolle.

Inwiefern?
Die Gast­ar­bei­ter:in­nen konnten Spenden sammeln, sie zahlten Mitgliedsbeiträge. Die griechischen Behörden in Westdeutschland waren besorgt darüber, dass die Linken so viel Geld hatten, und vermuteten, dass es aus Ostdeutschland kam oder aus der UdSSR.
Die politische Bildung und Partizipation, die die Gast­ar­bei­ter:innen in Westdeutschland erlangt hatten, kehrten sich gegen die Militärdiktatur in Griechenland und erwiesen sich während des demokratischen Übergangs als nützlich. Denn all diese Menschen waren, als sie nach Griechenland zurückkehrten, an den neu entstandenen politischen Realitäten beteiligt und das erlernte Wissen und die persönlichen Verbindungen, vor allem mit der SPD, wurden genutzt.

Wie sieht es mit der öffentlichen Erinnerung an die Gast­ar­bei­ter:in­nen in Griechenland aus?
Im Vergleich mit anderen öffentlichen oder populären Erinnerungen ist die Erinnerung an die Gast­ar­bei­ter:innen wenig ausgeprägt. Die griechisch-orthodoxen Geflüchteten aus Kleinasien, die 1923 nach Griechenland kamen, sind Teil der öffentlichen Erinnerung in Griechenland. (Nach dem Ersten Weltkrieg und der griechischen Niederlage im Griechisch-Türkischen Krieg 1922 wurden etwa 1,2 Millionen Griechisch-Orthodoxe aus der Türkei nach Griechenland und rund 400.000 Muslime in umgekehrter Richtung zwangsumgesiedelt, Anm. d. Red.) Wir lernen darüber in der Schule. Und sie sind auch Teil des Familiengedächtnisses. Die Aufarbeitung der Erinnerung ist familiär stark ausgeprägt, sogar in der zweiten und dritten Generation. Es werden immer noch traditionelle Tänze gelernt und Trachten aufbewahrt, man kocht weiterhin nach bestimmten Rezepten. Die Gastarbeiter:innen aus Deutschland sind dagegen keine Gruppe, die im Kontext der Erinnerung an Migration besonders heraussticht. Zur gleichen Zeit kamen viele politische Geflüchtete aus dem Ostblock zurück und diese ­Erinnerung ist viel stärker verbreitet.


Maria Adamopoulou wurde am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz in Geschichte promoviert. Ihre Forschung konzentriert sich auf die transnationalen Bindungen griechischer Gastarbeiter:innen in Deutschland zu ihrem Herkunftsland im Zeitraum 1960 bis 1989. Derzeit ist sie Global Teaching Fellow an der Eötvös-Loránd-Universität ­Budapest und Forscherin am Democracy Institute der Central European University in Wien. Ihre Monographie »The Greek Gastarbeiter in West Germany (1960–1974)« soll in diesem Jahr im Verlag De Gruyter erscheinen.