Ulrich Gutmair spürt dem Einfluss der »Gastarbeiter« auf die Neue Deutsche Welle nach

Als in der Dönerbude der Punk erfunden wurde

Die sogenannten Gastarbeiter hatten einen großen Einfluss auf die Musik der Bundesrepublik der aus­gehenden siebziger Jahre – das ist die stichhaltige These von Ulrich Gutmair, die er in seinem Buch »Wir sind die Türken von morgen« ausbreitet und dabei eine fast unbekannte Geschichte der Neuen ­Deutschen Welle erzählt.

Was gibt es eigentlich noch zu erzählen über die sogenannte Neue Deutsche Welle (NDW)? Unter dem Begriff werden von zeitlosen Punkklassikern bis zu lieblosen Partyhits derart vielfältige Veröffentlichungen subsumiert, dass die NDW mehr als ein unscharf umrissenes musikalisches Sammelbecken denn als wirkliche Strömung erscheint.

»Die neue Welle in Westdeutschland ist keine einheitliche/musikalische Bewegung«, betonte schon 1979 der Journalist und Labelbetreiber Alfred Hilsberg, der den Begriff in einem Szene-Report für das Musikmagazin Sounds geprägt hatte. Die aufregenden neuen Bands einte aus seiner Sicht weder die Orientierung an der angloamerikanischen New Wave noch die Verwendung der deutschen Sprache, sondern vielmehr das Abarbeiten an einer vom Kalten Krieg und vom Wettrüsten geprägten Zeit: »Die Auseinandersetzung mit sich selbst, mit dem Leben hier und heute, schafft neue Inhalte/Formen.«

In diese Frühphase, in das aus punkhistorischer Perspektive entscheidende Jahr 1978, versetzt sich auch der Taz-Kulturredakteur Ulrich Gutmair zu Beginn seines neuen Buchs »Wir sind die Türken von morgen«. Wie Hilsberg beschreibt er die radikale Ästhetik von Punk und NDW als Reaktion auf das weltpolitische Wirrwarr: »Es sind moderne Zeiten, die es zu verstehen und zu umarmen gilt, wenn man ein modernes Mädchen oder ein gewitzter Junge ist. Der einfachste Weg, das zu tun, ist, eine Band oder eine Zeitschrift zu gründen und sich die Haare abzuschneiden.«

»Die neue Welle in Westdeutschland ist keine einheitliche/musikalische Bewegung«, betonte 1979 der Journalist und Labelbetreiber Alfred Hilsberg.

Dass die Hinwendung zur Provokation gerade für die modernen Mädchen nicht immer ganz so einfach war, wie es hier zugespitzt suggeriert wird, zeigt Gutmair später selbst immer wieder auf. Er versteht die experimentelle Sprache der Neuen Deutschen Welle als Identifikationsangebot für marginalisierte Jugendliche, die einer wieder laut von nationaler Identität fabulierenden Gesellschaft widerborstig entgegenhält: Der gesellschaftliche Wandel ist längst da.

Zur Illustration seiner These greift Gutmair immer wieder auf eine Begebenheit im Jahr 1978 zurück: Der 20jährige Gabi Delgado-López, ein in Spanien geborener Punk aus Wuppertal, fährt mit der Düsseldorfer Band Mittagspause nach West-Berlin, wo die Gruppe anlässlich der Eröffnung des Kreuzberger Clubs »SO36« beim ersten Punkfestival Deutschlands spielen soll.

Immer wieder inhaltliche Haken schlagend, gespickt mit akribisch recherchierten Details und Interviewfetzen erzählt Gutmair atemlos den Ausflug nach, der auf mehrfache Weise in die hiesige Popgeschichte eingegangen ist. Auf dem Hinweg findet Delgado-López an der innerdeutschen Grenze nämlich die Inspiration für den Namen seiner später mit dem Schlagzeuger Robert Görl gegründeten Band Deutsch Amerikanische Freundschaft (DAF).

In Berlin angekommen, essen die Bandmitglieder von Mittagspause zusammen mit anderen Düsseldorfer Punks in einem Dönerladen neben dem »SO36«. Die Eindrücke dieses ersten Kreuzberg-Besuchs wird Delgado-López später in jenem berühmt gewordenen Liedtext von »Militürk« verarbeitet, aus dem Gutmair in seinem Buchtitel zitiert.

In einer haarsträubenden Mischung aus Exotismus und Endzeit­szenario beschreibt Der Spiegel Berlin-Kreuzberg als ghetto­isierte Parallelgesellschaft, in der deutsche Kultur vom fremden türkischen Lebenswandel überlagert wird.

Der Song ist inspiriert von der Ende der siebziger Jahre noch neuen »Sichtbarkeit migrantischen Lebens türkischer Provenienz in den ärmeren Vierteln deutscher Städte«.
Zuerst erschien der Song 1979 auf der Debüt-Doppel-EP von Mittagspause, bekannter aber sind bis heute die Versionen auf »Monarchie und Alltag«, dem Fehlfarben-Klassiker, sowie als »Kebabträume« von DAF, beide von 1980.

Seiner Analyse des kryptischen Texts widmet Gutmair ein ganzes Kapitel. Neben weniger interessanten Abschweifungen über das aus seiner Sicht mangelnde Verständnis anderer Autorinnen und Autorinnen arbeitet er hier eine der Kernthesen seines Buchs schlüssig aus: Die »Türken von morgen«, das Wir, das in jedem Imbiss einen Spion wittert, das ist die deutsche Mehrheitsgesellschaft selbst. Ihre paranoide Angst vor Veränderung und die zittrig-aggressive Ablehnung alles Fremden und Unbekannten wird in ein nur wenige Zeilen umfassendes satirisches Szenario diffuser Untergangs­phantasien übersetzt: »Neu-Izmir in der DDR / Atatürk der neue Herr / Milli­yet für die Sowjetunion / In jeder Imbissstube ein Spion / Im ZK Agent aus Türkei / Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei«.

Wie schwer sich die Bundesrepublik mit ihren seit Mitte der fünfziger Jahren millionenfach angeworbenen sogenannten Gastarbeitern tat und wie wenig präsent migrantisch geprägte Kultur im politischen und medialen Mainstream war, zeichnet Gutmair eindrücklich nach. Auch Nachgeborene bekommen eine bildhafte Vorstellung von einem Land, das sich mit dem Abklingen des Nachkriegsbooms seit dem Ende der sechziger Jahre auf die Suche nach einer kollektiven Identität begab, im Laufe derer nicht nur rechte Intellektuelle einen neuen Nationalstolz, gepaart mit der Ablehnung alles »Entfremdenden«, für sich entdeckten. Die damals sich verbreitenden Vorstellungen vom »Ethnopluralismus« und dem »Großem Austausch« gehören heutzutage, wie Gutmair betont, zum Standardvokabular der Identitären Bewegung und anderer rechter Strömungen.

Eintrittskarte zu einem Konzert der Deutsch-Amerikanischen Freundschaft

»Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei«. Eintrittskarte zu einem DAF-Konzert im Ratinger Hof in Düsseldorf, 23. Dezember 1980

Bild:
Wikimedia / Richard Gleim / gemeinfrei

Besonders erhellend ist in diesem Zusammenhang die Archivarbeit des Autors, der ausführlich aus Spiegel-Reportagen und Leserbriefen zitiert, die Ende der siebziger Jahre aus den migrantisch geprägten Wohn- und Arbeitervierteln der Republik berichten. In einer haarsträubenden Mischung aus Exotismus und Endzeit­szenario beschreibt das Nachrichtenmagazin Berlin-Kreuzberg als ghetto­isierte Parallelgesellschaft, in der deutsche Kultur vom fremden türkischen Lebenswandel überlagert wird. Das Bild der Einwanderer als Flut, vor der es sich zu retten gilt, wird hier ebenso evoziert wie das Unbehagen darüber, dass viele der als temporär Auszubeutende angeworbenen Arbeitskräfte keine Gäste bleiben wollen, sondern sich längst in den westdeutschen Städten fest niedergelassen haben.

Nachgeborene bekommen eine bildhafte Vorstellung von einem Land, das sich seit dem Ende der sechziger Jahre auf die Suche nach einer kollektiven Identität begab.

Dem 2020 verstorbenen Gabi Delgado-López kommt in Gutmairs Darstellung von Punk und NDW als migrantisches Aufbäumen gegen die repressive Mehrheitsgesellschaft eine Art Protagonistenrolle zu. Auch andere Biographien werden skizziert, zum Beispiel die des Musikers und Dichters Ozan Ata Canani oder des als Gastarbeiter nach Deutschland gekommenen türkischen Liedermachers Metin Türköz.

Beide beschäf­tigen sich in ihren Texten mit Diskriminierungserfahrungen und dem notwendigem Widerstand dagegen. Inwieweit außerhalb der türkischen Community leider nach wie vor wenig bekannten Musiker wie diese aber einen unmittelbaren, gar persönlichen Anteil am Entstehen deutscher Punk-Untergrundkultur hatten, bleibt bei Gutmair unklar.

Die strukturellen Parallelen hingegen werden deutlich, beispielsweise in den sehr lesenswerten Passagen über deutsch-türkische Independent-Labels und ihre den Deutschen unbekannten Stars. So entstand die 1968 gegründete Musikproduktionsfirma Türküola in bester DIY-Manier. Sie stellte eine notwendig gewordene Emanzipation von den seichten Schlager- und Discoveröffentlichungen dar, die kritischer, gar türkischsprachiger Musik keinen Platz einräumte. Als solche Selbstbehauptungen der Kunst gegen Unterdrückung skizziert Gutmair unter anderem auch die Punkszene der DDR oder das Berliner Straßenbandenmilieu der frühen dreißiger Jahre.

Ganz im Sinne des von lokalen Szenen und marginalisierten Biographien geprägten und daher so schwammig bleibenden Begriffs der Neuen Deutschen Welle fügt der Autor zahlreiche Abschweifungen und stimmungsvolle Episoden zu einem Gesamtbild jugendlichen Aufbegehrens zusammen. Hierin liegt das aus seiner Sicht noch zu Erzählende, noch immer Relevante: Punk war ein klassenübergreifender Angriff auf mehrheitsgesellschaftliche Zumutungen. Er war ein identitätsstiftendes Angebot für all jene, die Ende der Sieb­ziger als nicht deutsch genug oder zu queer galten und unterdrückt wurden – und dessen wortgewandte Lust an der Provokation im Aufbegehren dagegen bis heute nachhallt.

Ulrich Gutmair: Wir sind die Türken von morgen. Neue Welle, neues Deutschland. Tropen-Verlag, ­Berlin 2023, 304 Seiten, 22 Euro