In Australien wird über ein Gremium der Aborigines im Parlament debattiert

Streit über die Stimme

In Australien soll in einem Referendum über die Schaffung eines Gremiums entschieden werden, das die Anliegen der indigenen Bevölkerung ins Parlament einbringen kann und die Regierung beraten soll.

Jakarta. Es schien sicher, dass die Indigenen Australiens ihre »Stimme« erhalten würden. Voraussichtlich im Oktober wird in Australien ein Referendum stattfinden, bei dem entschieden werden soll, ob mittels einer Verfassungsänderung eine »Aboriginal and Torres Strait Islander Voice« geschaffen werden soll, ein Gremium im australischen Parlament, das die Belange der Indigenen auf dem Kontinent und den vorgelagerten Inseln in besonderer Weise vertritt. Das würde nicht nur »die 65.000 Jahre alte Geschichte der Aborigines endlich in der Verfassung anerkennen«, wie die Ministerin für indigene Australier, Linda Burney, sagte; Aufgabe dieses Gremiums soll auch sein, der Regierung und dem Parlament in Angelegenheiten, die das Leben von Indigenen besonders betreffen, wie beispielsweise Landrechte oder die Wahlgesetzgebung, aber auch Gesundheit, Bildung, Arbeit und Wohnen, beratend zur Seite zu stehen. Allerdings sollen die Empfehlungen des Gremiums nicht bindend sein.

Für die Abhaltung des Volksentscheids gaben beide Parlamentskammern ihre Zustimmung, das Repräsentantenhaus im Mai und der Senat im Juni. Doch um das Gremium zu etablieren, bedarf es nicht nur landesweit, sondern auch in vier der sechs Bundesstaaten der Mehrheit der Stimmen. Angesichts der politischen Diskrepanzen zwischen den progressiven Bundesstaaten an der Ostküste des Landes und dem konservativen Hinterland ist ein Erfolg nicht sicher. Mehrere Referenden, wie zum Beispiel das von 1999 über die symbolische Anerkennung der Indigenen in einer Präambel der Verfassung, sind bereits gescheitert.

Sollte auch dieses Referendum keinen Erfolg haben, wäre das für die derzeitige Regierung der Labor Party unter Premierminister Anthony ­Albanese eine herbe Niederlage. Doch Albanese und andere Befür­wort­er:in­nen der »Stimme« sehen auch Australiens Ansehen in Gefahr. Denn die Einrichtung von besonderen Gremien für die Belange von Indigenen wird in der Deklaration der Rechte indigener Völker der Uno gefordert; diese sieht auch vor, dass Indigene das Recht haben, sich mit eigenen politischen In­stitutionen an Regierungsentscheidungen in Angelegenheiten zu beteiligen, die ihre Rechte berühren.

Vergleichbare Regelungen gibt es seit langem in Schweden, Norwegen und Finnland sowie in Neuseeland, wo die Māori seit 1867 über ein festes Kon­tingent an Parlamentssitzen verfügen. In Australien hingegen wurden im Rahmen der Eroberung, Besiedlung und Landnahme seit dem späten 18. Jahrhundert keine Verträge zwischen der britischen Krone und den indigenen Gruppen geschlossen. Stattdessen proklamierten die Eroberer lange die terra nullius-Doktrin – das australische Ter­ritorium sei »Niemandsland«, das sie sich aneignen können. Die vielen blu­tigen Auseinandersetzungen, die mit der Landnahme durch die Briten einhergingen, wurden lange verschwiegen. Strukturelle Benachteiligung, Marginalisierung und Diskriminierung gehören nach wie vor zum Alltag der ­Indigenen.

Der Kampf um mehr Anerkennung und politische Repräsentation wird seit Jahrzehnten geführt. So forderte William Cooper, Angehöriger der Gruppe der Yorta Yorta, 1938 in einer Peti­tion eine wirksamere Vertretung der Interessen von Aborigines im Parlament Australiens. In den siebziger Jahren gab es eine Reihe von Kampagnen der Bürgerrechtsbewegung in Australien, Vertreter:innen von Indigenen setzten sich für mehr politische Einflussmöglichkeiten ein, erhoben aber auch territoriale Forderungen – ohne Erfolg.

2010 ging die damalige Premierministerin Julia Gillard (Labor Party) die verfassungsmäßige Anerkennung von Indigenen erneut an. Es wurde eine Expert:innenkommission berufen, die aus 19 indigenen Persönlichkeiten, Politiker:innen und Rechts­ex­pert:in­nen bestand. Die Kommission reiste durch ganz Australien und hielt öffentliche Konsultationen ab. Nach zwei Jahren stellte sie ihren Abschlussbericht vor, dessen Empfehlungen von der nachfolgenden Regierung jedoch ignoriert wurden.

Die beiden Kampagnen zum Referendum werden mit privaten Spenden finanziert, was auch die Verbreitung von »fake news« erleichtert.

Um den Stillstand zu überwinden, verabschiedete 2015 eine Gruppe von 40 Ver­treter:innen der Indigenen die sogenannte Kirribilli-Erklärung, die unter anderem zu neuen Konsultationen aufrief. Mit der Billigung der konservativen Regierung unter Premierminister Malcolm Turnbull (Liberal Party) und der Opposition unter Bill Shorten (Labor Party), der Berufung eines Referendums­rats (Referendum Council) und einer finanziellen Zusage von zehn Millionen Australischer Dollar für landesweite Befragungen sowohl unter der indigenen als auch der nichtindigenen Bevölkerung wurden endlich konkrete Schritte eingeleitet. Die indigenen Mitglieder des Referendumsrats erarbeiteten einen Entwurf, um die Prioritäten von Indigenen im ganzen Land zu erfragen und zu verstehen. An den Konsultationen beteiligten sich mehr als 1.200 Menschen.

Bei jeder Konsultation wurden Delegierte ausgewählt, die an einem Verfassungskonvent der First Nations teilnehmen sollten. Dieser viertägige Kongress fand 2017 in der Nähe von Uluru in Zentralaustralien statt und verabschiedete die »Uluru-Erklärung von Herzen« (Uluru Statement from the Heart). Laut dieser Erklärung haben die First Nations Australiens niemals ihre Souveränität abgetreten. Gefordert werden weitreichende Reformen, zum einen eine verfassungsrechtlich verankerte First Nations Voice und zum anderen Makarrata, was so viel wie »Zusammenkommen nach ­einem Kampf« bedeutet: ein Prozess, der politische Repräsentation, Vertragsschließung und Wahrheitsfindung zur Aufarbeitung der Vergangenheit umfasst.

Obwohl der Abstimmungstermin noch nicht festgelegt wurde, laufen Kampagnen, die die Wähler:innen zu beeinflussen versuchen, seit Monaten. Anders als etwa bei Volksentscheiden in der Schweiz werden den Abstimmenden keine Unterlagen mit den Argumenten beider Seiten zur Verfügung gestellt. Das Parlament hat sich für die Abhaltung des Referendums ausgesprochen, billigte aber keine öffentlichen Mittel für Aufklärungskampagnen. Stattdessen werden die beiden Kampagnen mit privaten Spenden ­finanziert, was auch die Verbreitung von fake news ­erleichtert. Vor allem indigene Politiker:innen werden von den Referendumsgegner:innen persönlich angegriffen und diffamiert.

Die Anhänger:innen der Ja-Kampagne argumentieren, dass die zur Abstimmung stehende Verfassungsänderung einen »positiven Unterschied« machen werde im Hinblick auf »Anerkennung« und »Zuhören«, aber auch die soziale Lage der Indigenen verbessern könne. Die Unterstützer:innen der Nein-Kampagne verweisen auf rechtliche Risiken und »unvorhersehbare Konsequenzen«. Die Befugnisse der »Voice« seien unklar, das Gremium ­polarisiere die Gesellschaft und weitere indigene Forderungen etwa nach Entschädigung könnten folgen.

Während die Labor Party und die Grünen geschlossen hinter dem Referendum und der Einführung der »Voice« stehen, ist die Opposition (Liberal Party und National Party) unter ­Peter Dutton uneins. Nur eine kleine Gruppe dieses Parteienbündnisses (­Liberal-National Coalition) hat sich für die Unterstützung der indigenen Vertretung im Bundesparlament ausgesprochen. Die Mehrheit um den liberalen Dutton moniert vor allem, dass die meisten Gesetze, die die Indigenen betreffen, keine Bundes-, sondern Landesgesetze sind.

Der Abstimmungsvorlage zufolge wäre die »Voice« lediglich im Bundesparlament vertreten, ihr Einfluss dort könnte eher gering ausfallen – es sei denn, auch die Landesparlamente würden parlamentarische Vertretungen für Indigene etablieren. Das ist im Bundesstaat Südaustralien bereits geschehen, in Victoria ist es geplant.
Umfragen vom Anfang des Jahres zufolge lag die landesweite Zahl der Befürworter:innen bei 54 Prozent, bei den 18- bis 34jährigen sogar bei 68 Prozent. Nur im erzkonservativen Bundesstaat Queensland betrug die Zustimmung lediglich 49 Prozent. Unter den Indigenen bekundeten mehr als 80 Prozent die Absicht, mit Ja zu stimmen. Die indigene Pressesprecherin der Opposition, Senatorin Jacinta Nampijinpa Price von der in Nordaustralien operierenden konservativen Country Liberal Party, warnte hingegen, dass die Zustimmung zur »Voice« die Nation spalten könne.

Anderen geht die Reform nicht weit genug. Die umstrittene ehemalige Grünen-Politikerin und derzeit unabhängige Senatorin Lidia Thorpe unterbrach die Senatsdebatte wiederholt und sprach kritisch von einem »Tag der Assimilation«, mit dem »die weiße Schuld heruntergespielt« werden solle. Die jüngsten Umfragen deuten an, dass die Unterstützung für die »Voice« abnimmt, derzeit sprechen sich lediglich 43 Prozent dafür, aber 47 Prozent da­gegen aus. Ein Zehntel der Wähl­er:in­nen ist derzeit noch unentschieden.