Dem Anarchisten Azat Miftakhov wird in Russland Rechtfertigung von Terror vorgeworfen

Raus aus dem Lager, rein in den Knast

Nach Verbüßung einer mehrjährigen Haftstrafe wurde der Anarchist und Mathematiker Azat Miftakhov beim Verlassen der Strafkolonie erneut festgenommen. Nun wird ihm nicht mehr eine eingeworfene Fensterscheibe, sondern Rechtfertigung von Terrorismus vorgeworfen.

Gefangene sehen kaum etwas mehr herbei als die Entlassung. Bei dem Anarchisten und Mathematiker Azat Mif­takhov (in anderer Schreibweise: Asat Miftachow), der in der russischen Kleinstadt Omutninsk in der Oblast Kirow inhaftiert war, hätte es am Montag soweit sein sollen. Gegen elf Uhr morgens durfte er die Strafkolonie verlassen. Aber eine knappe Stunde zuvor war ein Kleinbus des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB mit tsche­tschenischem Kennzeichen vorgefahren: Dessen Insassen, teils vermummt, teils in Zivilkleidung, nahmen Mifta­khov umgehend fest und räumten ihm für Gespräche mit Angehörigen, die ihn am Ausgang der Strafkolonie erwarteten, lediglich fünf Minuten ein. Anschließend brachten sie ihn nach Kirow, wo für den Folgetag bereits ein Termin beim Haftrichter anberaumt war.

Zwei Jahre hatte der aus Nischnekamsk stammende Miftakhov, Doktorand an der Moskauer Lomonossow-Universität, in Untersuchungshaft verbracht, bevor er im Januar 2021 zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Bei der Revision im folgenden Jahr wurde die Strafe um drei Monate verkürzt, die Haftzeit im Untersuchungsgefängnis wird zudem doppelt angerechnet. Das zuständige Gericht befand den politischen Aktivisten für schuldig, beteiligt gewesen zu sein, als das Fenster eines Parteibüros der Kreml-Partei Einiges Russland eingeworfen worden war. Personen waren dabei nicht zu Schaden gekommen.

Der Vorwurf gegen Miftakhov lautete Hooliganismus. Zum Tatzeitpunkt waren noch weitere Angehörige der anarchistischen Gruppe »Volksselbstverteidigung« anwesend, zwei von ihnen hatten ein Geständnis abgelegt und kamen mit einer Bewährungsstrafe davon. Miftakhov, der angegeben hatte, bei seinen Verhören gefoltert worden zu sein, plädierte auf nicht schuldig. Ein anonymer Zeuge wollte ihn anhand seiner auffallenden Augenbrauen als Täter erkannt haben.

»Azat war schon länger darauf vorbereitet, dass er nicht freigelassen wird«, sagt seine Frau Elena Gorban der Jungle World. Erst kürzlich nahmen ihn die Behörden in das Register für Extremisten und Terroristen auf, was zahlreiche das Alltagsleben extrem einschränkende Reglementierungen mit sich bringt, wie beispielsweise die Begrenzung des Zugriffs auf das eigene Bankkonto. In Mif­takhovs Umfeld gab es Vermutungen, dass der FSB ihn beschuldigen könnte, einer Moskauer Zelle eines anarchistischen »Netzwerks« anzugehören. Unter dieser Bezeichnung verhängten Gerichte Urteile bis zu 18 Jahren Strafkolonie gegen vermeintliche Angehörige eines Netzwerks aus Pensa und Sankt Petersburg. Angaben über eine Moskauer Gruppe kursierten zwar in der Anfangsphase des Verfahrens, zu einer Verurteilung kam es nicht.

Wer einmal in die Fänge der Strafverfolger gerät, läuft grundsätzlich Gefahr, dass anfängliche Anschuldigungen ausgeweitet werden.

Im April wurde Julian Bojarschinow, wegen Mitgliedschaft in der Petersburger Zelle zu fünfeinhalb Jahren verurteilt, aus einer Strafkolonie in Karelien entlassen. Er durfte unbehelligt die russische Grenze passieren. An Miftakhov scheint der Staatsschutz indes ein ausgeprägtes Interesse zu besitzen. Faktisch soll an dem 30jährigen ein Exempel statuiert werden, wohingegen viele andere Angehörige der »Volksselbstverteidigung« es schafften, den Behörden trotz intensiver Bemühungen zu entgleiten. Schon vor dem Krieg gegen die Ukraine hatten viele von ihnen Russland verlassen, nachdem es massenweise zu Verhören und Nachforschungen über den Verbleib aktiver Anhänger gekommen war. Offensichtlich wertete der FSB den radikalen Habitus der Gruppe als Bedrohung, was in eklatantem Gegensatz zu dem geringen Sachschaden von wenigen Hundert Euro steht, der bei Mifta­khovs erster Verurteilung zur Debatte stand.

Gewissheit über ein neues Verfahren gegen ihn wegen Rechtfertigung von Terrorismus erhielt Miftakhov erst wenige Tage vor seiner Entlassung, als ihm die Ergebnisse eines linguistischen Gutachtens vorgelegt wurden. Bei Gesprächen mit Mitgefangenen im Mai soll er Verständnis für einen Anschlag im Eingangsbereich eines Gebäudes des FSB in Archangelsk geäußert haben, den der vom Anarchismus inspirierte Berufsschüler Michail Schlobizkij im Oktober 2019 verübt hatte. Er hatte einen selbstgebauten Sprengkörper gezündet und war dabei ums Leben gekommen.

Am 26. August war Miftakhov zum dritten Mal innerhalb eines Jahres mit einer Disziplinarstrafe belegt und im Karzer von den anderen Gefangenen isoliert worden. Grund dafür könnte unter anderem gewesen sein, dass in dieser Zeit einer der Zeugen im neuen Verfahren, Jewgenij Truschkow, zu einer Aussage gezwungen worden war. Mit diesem pflegte Miftakhov in der Strafkolonie von Beginn seiner Haftzeit an ein vertrautes Verhältnis. Druck auf Gefangene auszuüben, damit sie verwendbare Aussagen gegen andere zu machen, gehört zum alltäglichen Repertoire in russischen Gefängnissen. Miftakhovs Anwältin Swetlana Sidorkina betonte, dass bislang nur eine erste Rohfassung der Anklage gegen ihren Mandaten vorliege. Behielte die Staatsanwaltschaft die erhobenen Vorwürfe im Grundsatz bei, drohen Miftakhov weitere fünf Jahre Haft.

Wer einmal in die Fänge der Strafverfolger gerät, läuft grundsätzlich Gefahr, dass anfängliche Anschuldigungen ausgeweitet werden. Früher befasste sich Aleksandr Tschernyschow, der Leiter des Zentrums für historische Erinnerung in Perm, mit Dokumenten über stalinistische Verfolgung. Seit Mai befindet sich der Archivar in Haft. Ihm wird vorgeworfen, sich Kulturgüter angeeignet zu haben mit dem Ziel, sie zu veräußern. Dabei handelt es sich jedoch lediglich um Dokumente der inzwischen aufgelösten Organisation Memorial.

Deren ehemaligen Leiter in Perm, Robert Latypow, ließ die Polizei wegen des gleichen Tatvorwurfs zur Fahndung ausschreiben, wie jetzt bekannt wurde. »Aller Wahrscheinlichkeit nach wird ein weiteres Strafverfahren eingeleitet«, sagte der im Exil lebende Latypow der Jungle World. Mit falschen Versprechungen über eine mögliche Freilassung hatten die Ermittler Tschernyschow ausführliche Aussagen entlockt. Sonst gäbe es kein belastendes Beweismaterial, so Latypow. »Vor einem normalen Gericht hätte so etwas niemals Bestand.«